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008 Das Chamäleon

Mai 2000

Da wir in einer Wissensgesellschaft leben, wie uns allerorten versichert wird, in einer Wissenschaftsgesellschaft, die uns den Glauben an Götter und Gott gründlich ausgetrieben hat, vernehmen wir heute nur mehr eine Kuriosität, wenn wir bei Platon lesen, die Gottheit der Musik höre uns jedes Mal zu, sobald wir musizieren und Musik hören. Milde lächeln wir über den Kinderglauben eines Philosophen, der es eigentlich besser wissen müßte.

Wie wir einst an die Macht der Religion, so glauben wir heute treuherzig an die Macht der Wissenschaften. Nicht mehr denken wir daher an numinose Mächte und magische Geister, wenn wir Klänge und Töne hören und erzeugen, und dies nicht nur, weil maschinenlos erzeugte Klänge und Töne in der modernen Welt so selten geworden sind. Das Reich des Klanges, vielleicht noch im 19. Jahrhundert zum letzten Mal als Epiphanie transzendenter Kräfte und Botschaften erfahren, wurde seither der Wissenschaft überantwortet, und diese, so glauben wir, habe mittlerweile die Rätsel von Klang, Schall und Ton gelöst oder stehe doch knapp vor der endgültigen Lösung aller Rätsel von Klang und Gehör. Lediglich die moderne Esoterik, von der wir aber heute vornehm schweigen wollen, und vornehmlich die Musiktherapie darf noch von ganzheitlichen Geistern und Heilkräften gewisser Klänge sprechen, sofern nicht auch diese Wissenschaft von der Musik als Heilkunst sich längst schon mit den technologisch aufgerüsteten modernen Wissenschaften kurzgeschlossen hat.

Und nicht mehr denken wir an Philosophie oder gar Theologie, wenn wir etwas über das Wesen von Klang und Ton wissen wollen; denn längst schon leben wir in der fixen Überzeugung und in dem unerschütterlichen Glauben, das gesamte Wissen über das Wesen von Klang und Ton liege in den Archiven und Datenbanken der Wissenschaften zugriffsbereit beschlossen. Wir brauchten nur hinzugehen, das Wissen liege bereit – auch die Welt des Klanges scheint ein durchschautes Kaleidoskop durchschaubarer Ursachen geworden zu sein.

Gehen wir aber eines mutigen Tages wirklich in das Haus der Wissenschaften, um unser lückenhaftes Wissen über die Welt des Klanges aufzurüsten, erleiden wir schon bei der Begrüßung einen kaum zu bewältigenden Schwellenschock. Denn nicht eine, sondern eine Unzahl von Wissenschaften des Klanges empfängt uns, und die Frage, an welche Wissenschaft wir uns nun zuerst zu wenden haben, ist selbst unter den Wissenschaften des Klanges eine ungeklärte Streitfrage.

So vertrauen wir unserer Erinnerung an die Vorurteile kümmerlicher Schulbildung, die uns einst gelehrt hat, aller Welt, also auch der merkwürdig schwerelosen Welt der Klänge, liege als Basiswelt die Physik der ausgedehnten Körperwelt zugrunde. Unter den vielen Abteilungen der Akustik wenden wir uns daher zuerst an jene, die sich nach wie vor als angestammter Teil von Mechanik und Festkörperphysik versteht. Und der Herr der mechanischen Akustik empfängt uns mit einem überaus freundlichen Lächeln und verständnisvollen Worten, als seien wir Kinder, die bisher nur Unsinn im Kopf gehabt hätten.

Er führt uns durch Räume, angefüllt mit ungeheuren Apparaturen, endlos flimmernden Computergalerien, hinter welchen endlose Regale endloser Speicherarchive prangen. Aber auch das ehrwürdige Monochord des Pythagoras findet sich noch in modernen Varianten vor, bereit, jedem nur erdenklichen Experiment in neuester Technologie zu Diensten zu stehen. An den Tafeln lesen wir unverständliche Endlosketten von Berechnungen und Formeln, die uns der freundliche Wissenschaftler in menschliche Worte übersetzt. Und der langen Formelkette kurzer Sinn lautet: Das Wesen des Klanges ist ausgesprochen dieses: eine Wellenfunktion schwingender Materie zu sein. Eine Definition, die den Forscher freilich wie eine Banalität zu langweilen scheint. Nichts scheint langweiliger zu sein als ein durch Wissenschaft gelöstes Rätsel – und der Klang, durch Jahrmillionen für die Menschheit ein Bote höherer Welten, hätte sich demnach seine transzendente Maskerade niemals aufsetzen sollen, um uns billig zu täuschen, denn er ist und war in seinem wissenschaftlich erkannten Wesensgrund ebenso banal wie die ganze übrige durch Wissenschaft erforschte Welt.

Was ihn an seiner Wissenschaft heute noch errege, erklärt uns der freundliche Akustiker offenherzig, das wären vor allem die neuen künstlichen Tonträger und elektronischen Tongeneratoren. Seit kurzem sei ja das Berechnen der Klangschwingungen mittels superschneller Computerprogramme automatisierbar geworden, und daher ließen sich jetzt nicht nur alle vorhandenen Klänge simulieren und digitalisieren, auch gänzlich neue Klänge ließen sich jetzt geradezu spielend erzeugen – Klänge, von denen die Natur und die alten Instrumente nicht einmal zu träumen wagten.

Wie geführte Touristen durchwandern wir in der Folge eine stattliche Anzahl von Abteilungen, dabei vorerst nur der Akustik allein, und in jeder hören wir eine spezielle Definition von Klang und Ton, je nachdem, welches Substrat des Klanges mit dessen Wesen und Begriff verwechselt wird. Der Schallakustiker bemüht die Wellenfunktion bewegter Atome und Moleküle, der Sonagraphist schwört auf das Obertonspektrum einen Strauß sinnloser Schwüre, und dem Ultraschallakustiker ist die Welt des Klanges bereits ununterscheidbar eins geworden mit dem Wellenspektrum von Licht-, Gamma- und Röntgenstrahlen. Wüßten wir nicht schon aus Erfahrung, daß es auch hörbare Schallwellen gibt, die Wellentheorien des Klanges könnten uns davon nie einen Beweis liefern, denn ihr Wissenschafts-Paradigma muß ausnahmslos alle Strahlen, von der Hintergrundstrahlung bis zum Handy-Smog, auf Gleichungen und Meß-Einheiten reduzieren, und diese erbaulich wissenschaftlichen Reduktionen sagen nichts aus über die Art der sinnlichen Präsenz von Wellen und Strahlen in unserem Bewußtsein. Da ist also noch jemand, der in unserem Bewußtsein Schallwellen zu Klangempfindungen und Lichtwellen zu Farbempfindungen umfunktioniert. Wer mag das wohl sein?

Beim Gehörphysiologen hören wir plötzlich Definitionen ganz anderer Art. Mit Begeisterung führt er uns dank modernster Technologie in das Innerste unseres Gehörapparates, und wir begreifen still und heimlich: das Wesen des Klanges muß ein böswilliges Chamäleon sein. Doch bekümmert dies die vielen Abteilungen der Klangwissenschaft offensichtlich kaum; jede, überzeugt von ihrer Gleichberechtigung beim Erforschen der ersten und letzten Ursachen und Gründe, forscht für sich und durch sich und dadurch für ein hypothetisches Ganzes, das sich schon noch einstellen werde. Daher ist der Herr der Gehörphysiologie durch eigene Fach-Evidenz davon überzeugt: wenn auch nur ein substantieller Teil des Gehörapparates irreparabel verletzt ist, dann hören wir keinen Klang, und mag neben uns auch ein ganzes Heer von Saiten und Glocken zerspringen und verwellen.

Den Vogel im Haus der Wissenschaft schießt zur Zeit der Gehirnforscher ab. Er hat das große Sagen, ihm wird blind geglaubt, und selbstverständlich verschont er uns nicht mit dem seligmachenden Märchen über die Verkuppelung der rechten und linken Gehirnhälfte schon bei jeder besseren Etude von Meister Czerny, ohne daß wir dabei auf unserer Schädeldecke die Triller- und Läufeübungen unseres Klavierlehrers ertragen müßten. Jeder Musikant ab sofort ein Genie im neuen Modefach emotionale Intelligenz, weshalb uns die moderne Zeit unaufhaltsam dazu dränge und verpflichte, teilt uns der Gehirnforscher mit der Überzeugung des prophetischen Gurus mit, das Heer der Musikpädagogen so rasch und so flächendeckend wie möglich mit dem Hirn der Gehirnforschung zu verkuppeln. – Wir haben verstanden: das Wesen des Klanges ist nun in Gehirnprozeß verwandelt – auch wieder eine Definition, denken wir, die wir uns das Denken im Haus der Wissenschaft noch immer nicht abgewöhnen konnten, und hoffentlich hirngerecht tragen wir diese weitere Auchdefinition des Klanges in unser Gedächtnis, pardon, in unser Gehirn ein. Und vor der unbestrittenen Autorität des Gehirnforschers verkneifen wir uns selbstverständlich die laienhafte Frage, ob er denn glaube, daß das Gehirn auch höre; denn glaubte er nicht daran, wäre er nicht der Gehirnforscher einer wissenschaftsgläubigen Wissensgesellschaft.

Zuletzt führt man uns zu einem Forscher der artenreichen Spezies Ton- und Musikpsychologie – ein schon in die Jahre gekommener Wissenschaftler empfängt uns, der eher von der verlorenen Größe seines Faches zu zehren scheint, als daß er noch glaubte, seinen Kollegen von der naturwissenschaftlich-technischen Fakultät den Rang ablaufen zu können. Doch lernen wir rasch, seinen Klagen über die heutige Vorherrschaft der naturwissenschaftlichen Klangforscher zu mißtrauen; denn die zahlreich um ihn versammelten Versuchspersonen, die er soeben einer testösen Befragung über den Klang als Erlebnisqualität des menschlichen Bewußtseins unterzieht, sind an Kopf, Rumpf und Gliedmaßen mit allen Meßgeräten verkabelt, die man heute benötigt, um unsere Worte und Begriffe vom Verdacht der Verstellung und Lüge rein zu messen. Dem ehrwürdigen Psychologen scheint seine spezielle Definition des Klanges viel von ihrem einstigen ehrenwerten Rang eingebüßt zu haben, und unter unserem skeptischen Blick schränkt er auch sogleich ein: der Klang sei zweifellos auch ein Akt unseres Bewußtseins, aber ebenso zweifellos sei dies auch nur eine Definition unter vielen, und alle stünden völlig gleichberechtigt nebeneinander.

Abermals plagt uns ein ungehöriger Gedanke: hatte nicht schon der unwissende Platon gelehrt: wo viele Gründe für eine Sache angeführt würden, da habe man vorerst nur die bedingten, nicht aber schon den unbedingten Grund der Sache gefunden? Aber lassen wir diese antiken Scherze, sie geben uns nicht, wofür wir jetzt ein Königreich gäben: für eine Auch-Wissenschaft des Klanges nämlich, aus der sich eine Leitwissenschaft destillieren ließe, die uns durch wegweisende Orientierung wenigstens vor dem Spießrutenlauf durch eine Unzahl gleichberechtigter Definitionen bewahren könnte. Denn verdammt nochmal: die Klänge, die wir hören, eilen nicht nur wie geniale Blitze auf einen Schlag durch unser Bewußtsein hindurch, sie sind auch von erfreulicher Identität und Erkennbarkeit, sie schmähen also den unbeständigen Geist des Chamäleons – und es soll sogar Menschen geben, die von sogenannten inneren Klangvorstellungen heimgesucht werden.

Auch kommt uns dieses Spiel der gleichberechtigen Auchdefinitionen im Haus der Klangwissenschaft irgendwie bekannt vor: verfahren nicht unsere allesbeherrschenden Biowissenschaften nach ähnlichem Denkmuster? Der Mensch von heute habe als spätgeborener seiner Menschheitskarriere die gesamte Evolution in sich, wird uns darwinschlau erklärt, er sei daher zwar auch Mensch, aber auch Affe, auch Schaf, auch Fliege, auch Wurm, und auch Löwenzahn, auch Wasserbalg, auch Kieselstein und zuletzt und zuerst ganz natürlich auch Sternenstaub…

Erst beim Verlassen des Hauses lassen wir unseren Sehnsüchten freien Lauf: vertrauensvoll wenden wir uns an den Pförtner, der so gar nichts von einem Wissenschaftler vorzeigt, obwohl er sich über seinen kahlen Schädel einen Kopfhörer geklemmt hat und akribisch ein Kreuzworträtsel bearbeitet.

Ob hier in der Nähe noch ein Haus wäre, in dem die Wissensgesellschaft Klangforschung betreibe?

Lange versteht er nicht, ungläubig staunt er uns an, und umständlich befreit er sich vom Kabelsalat des Kopfhörers; aber während wir die Frage gedankenlos wiederholen, steht ein Phantasma vor unserem Auge, an dessen Zustandekommen der kaiserlich quellende Backenbart des Pförtners auch ursächlich beteiligt sein muß. Ein klares Bild zeigt unseren einzigen und wirklichen Kaiser, Franz Joseph, spazierend durch sein geliebtes Bad Ischl, ehrerbietig von Meister Helmholtz begleitet, der es wagt, seiner Majestät begeistert über das soeben explodierende Panoptikum der neuesten Einsichten in das erforschte Wesen des Klanges zu berichten. Doch der Kaiser schüttelt bedächtig sein gamsbartbehütetes Haupt, ganz so wie der Pförtner im selben Augenblick vor uns, und deutlich sprechen die Worte aus naher Vergangenheit: „lieber Herr Professor, machen’s Ihnen kan Paheul, der Klang ist halt von allem a bisserl, das hat ja jeder vernünftige Mensch immer scho gwußt.“ Zweifellos hat den Kaiser auch dieser schöne Spaziergang sehr erfreut, und daß sein Bisserldenken unbedingt mitschuldig am Untergang unserer großen Monarchie werden mußte, konnte damals kein vernünftiger Mensch erahnen.

Endlich hat unser Pförtner die Frage begriffen, aber auch er schüttelt mit philosophischer Bedächtigkeit sein Haupt. Kein weiteres Haus in Sicht, erklärt er uns beinahe betrübt, aber gleich gegenüber gäbe es eines, in dem gewaltige und sogar ohrenbetäubende Klänge zuhause wären – das Haus der Spaßgesellschaft. Da sollten wir hingehen, wenn wir unbedingt wissen wollten, was das Wesen des Klanges heute definiert. Aber seine Miene ist säuerlich bei diesen Worten, gemischt aus einer sadomasochistischen Prise von Zynismus und Schmerz. Wenigsten dieses Rätsel klärt sich auf der Stelle: sein Sohn tanzt regelmäßig ein paar mal in der Woche im Haus der Spaßgesellschaft ab, und dennoch hat er erst den dritten Gehörssturz hinter sich.

Zwischen dem Haus der Spaßgesellschaft und dem Haus der Wissensgesellschaft führt eine unscheinbare Gasse, sie ist schmal und ohne glänzende Beleuchtung, als gehöre sie weder zu dieser noch zu jener Gesellschaft. Sie gleicht einem dunklen Pfad ins Unbekannte, und während der Gedanke über das rätselhafte Auchwesen des Chamäleons Klang nachsinnt, spürt er über sich einen Hauch von Platons lächelnder Gottheit des Klanges