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Aphoristicon

 

Aphoristicon I

 

 

1   Wie kann man in einer Massenkultur leben, als lebte man nicht in ihr?

 

 

2    Das Erlebnis ist das Absolute, aber nur als des Absoluten Erlebnis.

 

3  Worüber jemand zu Ende erstaunt hat, daran lässt sich sein Wesen erkennen. Worüber jemand zu Ende erstaunt hat, daran lässt sich sein Wesen erkennen.

 

4  In der Welt gibt es keine Bilder; Bilder existieren nur in unserem Geist.

 

5  Popsong: Musik über Musik: denn der Popsänger schreit seine Empfindungen in die Musik hinein, nicht mehr kommen sie ihm aus der Musik in die Seele.

 

6     Gottes Wille will unser Angebet.

 

7    Auch der stillste Mensch könnte noch unendlich stiller werden, weil die Stille Gottes unerreichbar und doch zugleich gegenwärtig in ihm ist.

 

8     Das Universum ist aus einem Wort heraus geschaffen, für das es noch keine Sprache gibt.

 

9    Worüber jemand zu Ende erstaunt hat, daran lässt sich sein Wesen erkennen.

 

10    Am tiefsten sitzt das Erschrecken vor unserer Freiheit.

 

11   Die nicht zerbombte Architektur der Schweiz: ein Erinnerungsluxus des vergangenen Europa.

 

12  Der insistierende Blick auf das Dächergewirr einer Stadt verfolgt vermutlich ein einziges Interesse: die Rekonstruktion unsres überglücklichen Kinderblickes.

 

13   Niemals kann ein Kreis des Menschen Feind sein.

 

14   Gott kennt keine Toten.

 

15   Breughel der Ältere: Blumenstrauß, – Gott war hier und hat gemalt.

 

16 Die Natur kann sich nicht widergöttlich verhalten, weil sie außergöttlich ist. Sie ist außerhalb Seiner gesetzt, der Geist ist das absolute Kontrafakt der natürlichen Materie.

 

17   In den Ruinen seiner Kindheit lebt der Mensch bis ans Ende seiner Tage.

 

18   Krankheit, Alter und Sterben sind das Golgatha jedes Menschen.

 

19  Es ist kein Halt im Leben, denn es verschwindet täglich. Dies das Schicksal des menschlichen, nicht des göttlichen Lebens.

 

20   Gott ist ein die Natur nichtigender Geist.

 

21   Stonehenge: die Ruine eines verstorbenen Gottesbewußtseins.

 

22   Lesen ist diskursiver Ritus.

 

23  Der am schwersten entfremdete Geist muß sich am leichtesten unterhalten.

 

24   Die Negation ist Gottes Hand.

 

24    Information ist für alle; aber Wissen muß einsam erworben sein.

 

25    Der höchste Sinn von Authentisch-Sein: Unschuldig-Sein

 

26    Objektiv idealer Stil: Material, von Sonne übermalen.

 

27  Der säkulare Mensch lebt die gelebte Verzweiflung über die versuchte Versuchung einer Selbsterlösung.

 

28    Brot und Wein transformieren in Wort und Bild.

 

29    Unser Sehen wird wahr, wenn es fortwährendes Danken geworden.

 

30   Gott ist der, den niemand beachtet.

 

31   Gott ist gleichsam nichts; aber ohne Gott ist alles nichts.

 

32    Ein wirklich Schauender ist schaffend mit dem Lebenssinn selbst.

 

33  Musiker können den wirklich wissenden Genuß von Musik nicht haben wollen, weil sie nicht wissen, was wirkliches Wissen ist.

 

34  Daß die äußerste Passivität in die höchste Aktivität einer Erleuchtung umschlägt: Kontemplation.

 

35  Der Geist geht in uns hinein, um uns aus der Welt hinauszuziehen; wir aber mißverstehen diese Bewegung und kehren sie um: wir wollen ein mächtiges Weltstück dieser Welt werden.

 

36  In der Kindheit erblicken wir noch den fernsten Ort unter dem Appell: kein einziger, den wir nicht betreten werden. – Hänschen Klein will in die Welt hinaus und in diese hinein. Spät erkennt es, daß es in dieser Welt nichts verloren hat, das es in ihr suchen könnte.

 

37    Endliches kann nicht als Endliches bis ins Ewige gehen.

 

38   Im Blick ist es möglich: das Matterhorn zu umarmen und nach und nach umzuwerfen. Wir vollenden nur, was schon begonnen.

 

39  Denke so intensiv und konzentriert, daß du gar nicht mehr denkst, daß du denkst, – in der Sache bist.

 

40   Sowie wir Gott vergessen, hat er uns schon vergessen.

 

41  Goldene Regel: sei zufrieden und dankbar für das, was du bekommst; und noch dankbarer für das, was du nicht bekommst.

 

42  Die verwunderlichste aller weltimmanenten Verwunderlichkeiten: daß der Gedanke die Welt denken kann.

 

43  Für die meisten Tiere ist der Mensch abnorm groß; sie halten uns für gehende Landschaften.

 

44  Beethovens Adagioformel: Zärtlichkeitsjubel.

 

45 In gewissem Sinn sind alle musikalischen Werke des Barock Selbstvariationen eines einzigen.

 

46   Moderne Phantasie: an der eigenen Unvollkommenheit verrückt.

 

47 Ein nichtschöner Geist kann Schönes nicht adäquat empfangen und verstehen.

 

48 Schicksal des Geistes in der Gegenwart: emigriert in sich selbst, um sich mit sich und der Gottheit unendlich aus- und einzusprechen.

 

49 Da jeder Mensch stirbt, ist auf dieser Erde in jeder Minute des Sterbens kein Ende. Ein Tod verschwindet im anderen, einer tötet den anderen. Diesen Tod des Todes sollten wir zeitlebens erlauschen.

 

50 Die Flüchtigkeit unserer Existenz: wir betreten für den Augenblick des Lebens dessen Geleise; und schon im nächsten fährt der Zug des Todes über uns hinweg.

 

51  Das Licht des Sehens ist nicht absolut identisch mit dem Licht, in dem wir sehen. Jenes ist ein formerzeugendes, dieses ein materienbezeugendes.

 

52  Und eines Tages gehen wir um eine Ecke und bleiben verschwunden.

 

53 Ist alle Welt System, aufs Telos ihrer Hyperdifferenzierung angelegt, also die Sub-Sub-Sub-Vernunft der einen Vernunft, dann ist klar, daß der Grund dieser Welt nicht selbst in diesem Sinne System sein kann: alle Welt ist System, – Gott absolut einfach.

 

 

54 Während Du dieses Bild zehn Minuten betrachtest, sterben auf den Straßen Europas mindesten zehn Menschen. Es erübrigt sich die Frage: was hat das Eine mit dem Anderen zu tun?

 

55  Jede Analogie ist eine Projektion.

 

56  Es fragt sich, ob jede Frau nicht immerzu ein Kind austrägt.

 

57 Was ist das Einfache des Einfachen? Ein Blick, der alles erblickt, weil er nicht mehr denken muß.

 

58 Auto: motorisiertes Rad. – Motor: sich selbst bewegende Maschine. – Straße: Fortbewegungsmittel, die geebnete Erde, das Band, auf dem die geräderte Maschine läuft.

 

59 Der vollendete säkulare Mensch wird vor sich absolut erschrecken. Dies die Geburt seiner neuen Sakralität.

 

60 Kontinuität herstellen: ein Heiliges.

 

61 Immer ist uns das Verderben knapp auf den Fersen. Aber dessen achtet der Mensch gewöhnlich nicht.

 

62 Wie kann Gott in einen Glauben, der sich nicht mehr durch Ritus, sondern durch Wort bestätigt, hineinwirken?

 

63  Auf einem Hals erwächst des Menschen Kopf aus seinem Leib; dieser möchte als Kopf existieren – als unbedürftiges Leben des Geistes.

 

64 Schwerkraft läßt sich nicht anschauen, wir müssen sie hinzudenken. Und dies ist uns geläufig, – den Gott dieser Kraft sprechen wir als permanent eingreifenden aus.

 

65 Die überstandene Katastrophe als Heiligenschein: Ringe des Saturn.

 

66 Der gemalte Blick eines gelungenen Porträts ist unendlich mehr als eine gemalte Tafel mit Speisen; zugleich aber unendlich weniger als der reale Blick eines real erblickten Menschen.

 

67 Die moderne Realitäts-Fotografie kann durch moderne Malerei nicht mehr übertroffen werden.

 

68 Im Vergleich zur Geschichte scheint die Natur zu schlafen.

 

69 Im Jazz wird die Tonalität zur Konkursmasse ihres Wesens und Geistes.

 

70 Venedig: die Fassaden der Vergangenheit.

 

71 Die Renaissance in Italien war die Antike des Christentums, – religiös, politisch, künstlerisch.

 

72 Wahre Schönheit kann nur die unschuldige sein.

 

73 Warum ist das Licht der alten Malerei wärmer als unser natürliches Licht?

 

74  Ein Baum kann nicht dumm sein, Bücher sind es oft.

 

75 Wir bedenken gewöhnlich nicht, warum wir einen Himmel erblicken; er ist die sichtbare Negation dieser Welt.

 

76 Weil die Kultur ihre tabula rasa erreicht hat, wird die Natur als Objekt des Geistes wieder interessant.

 

77  Die Sterne müssen nicht gezählt werden, denn sie sind dasselbe.

 

78  Ein Bild sagt mehr als tausend Worte, aber nur als sagendes.

 

79 Wie es eine prähistorische Zeit gab, wird es auch eine posthistorische geben.

 

80  Jeder Schatten ist Zeuge einer Welt von sichtbaren Dingen.

 

81 Keine Öffentlichkeit war geschwätziger als die mediale der modernen Kultur.

 

82  Immer wartet der Geist auf ein vollkommen erhellendes Wort.

 

83 Das denkende und sprechende Niveau über Musik ist unter diese abgerutscht.

 

84 1938 brannte das österreichische Volk; 1945 der Stephansdom, – das wird man noch sagen dürfen.

 

85 Von seiner Sterblichkeit weiß der Mensch immer; aber selten denkt er daran.

 

86 Nietzsche: der ewige Gymnasiast der Philosophie.

 

87 Bild ist Welt, übersetzt in eine sinnliche Sprache geistiger Anschauung.

 

88 Das Einfache ist erhaben nur, wenn es zur rechten Zeit erscheint.

 

89 Man glaubt es nicht: Athen war einst das Zentrum der Weltgeschichte; heute ist es eine Millionenstadt.

 

90   Ein Sterbliches schaut aus unsterblichen Augen: der Mensch.

 

91 Geologisch betrachtet ist der einzelne Mensch nicht einmal eine Eintagsfliege.

 

92  Auch ein Unterschied von Mensch und Tier: jener schleppt sein ganzes Leben immer mit, dieses lebt in seinem Augenblick.

 

93 Reisen ist eine wahre Weltreligion, soweit Weltreligionen wahr sein können.

 

94 Am Ende der Entwicklung von Musik wird der Musiker scheinbar wieder an deren Anfang stehen: als Bettler, um das Almosen der Aufmerksamkeit bittend.

 

95 In aller modernen Kunst ist das Unschuldsband zwischen Form und Materie zerschnitten.

 

96  Eine der schwierigsten Künste: ein Bild aufnehmen – mit einem Blick, der tausend Blicke sowohl verbindet wie unterscheidet.

 

97 Fotografie lügt nicht, aber sie scheint auch nicht.

 

98 Als die Menschen noch nicht Uhren trugen, waren sie malbar.

 

99  Rokoko: die Spaßgesellschaft der verschwindenden Aristokratie.

 

100 Zu seinem Sterben sollte jeder Mensch gehen können wie zu einem unbeschwerten Nachmittagstermin.