Categories Menu

044 Musizieren und Philosophieren

Mai 2001

Getrennt sind zwei, deren Einheit im Ungewissen liegt; auch zwischen Musizieren und Philosophieren liegen unüberbrückbare Welten. Mag ein Philosoph auch musizieren und ein Musiker philosophieren, sie können dies niemals zugleich und in einem und demselben Akt. Es sind zwei getrennte Welten, die einander nicht fruchtbringend widerstreiten, sondern lediglich einander mißverstehen zu können scheinen.

Der Philosoph fragt, wie es möglich sei, daß der Klang in die Zeit eintreten könne. Vernimmt ein Musiker diese Frage, denkt er sich, wie kann man nur so dumm und kompliziert denken? Wonach der Philosoph fragt, das muß man einfach probieren, und wenn es geht, dann geht es. Aber der Philosoph fragt sich beim geglückten Versuch des Musikers, einen Klang in die Dauer der Zeit zu setzen: wie kann man nur so dumm meine Frage mißverstehen? Auf eine Frage, die nach der Verbindung zweier Begriffe fragt, muß man doch eine Antwort in Begriffen geben, nicht eine Handlung sinnlicher Aktionen.

Der Philosoph fragt, wie kann nur aus einem Punkt eine Linie entstehen? Darauf antwortet der lebenspraktische Verstand: lieber, lebensferner Philosoph, du darfst nicht so kompliziert fragen, du mußt dich einfach überwinden, einfach eine Linie zu ziehen, und du wirst sehen, wonach du gefragt hast. Und während der Philosoph seinesteils denkt, wie kann man nur so gedankenlos handeln; denkt der lebenspraktische Verstand seinesteils: wie kann man nur so ganz ohne Bastellust leben wollen?

Der Philosoph wollte auf seine Frage ein ganz anderes Kunststück hören, nicht die scheinbare Banalität dessen, was der Musiker alle Tage tut. Sind zwei Begriffe angetreten, ihre Verbindbarkeit zu erweisen, dann gibt es nur zwei Möglichkeiten einer sachgemäßen Antwort in Gestalt eines gesprächswürdigen Argumentes. Entweder wir finden einen dritten Begriff, in dem sich die beiden als Unterbegriffe vereinigend und trennend bewegen können und müssen, oder, und dies ist das Salz im Sauerteig der Anstrengung des Begriffes, wir zeigen, daß die genannten beiden Begriffe in ihrem innersten Wesen identisch sind, und daß sie in ihrer Trennbarkeit ihre Identität, und in ihrer Identität ihre Trennbarkeit vorführen.

Des Philosophen Voraussetzung bei seinem Tun ist also offensichtlich, daß alle Realitäten in ihrem wahrheitsfähigen Grunde Begriffe sind; und weil dem Musiker in seinem Musikerleben das Licht noch nicht aufgehen konnte, diese Voraussetzung teilen zu müssen, sinnt er auf andere Antwortmöglichkeiten oder gar auf die Möglichkeit einer musikpraktisch resoluten Antwortverweigerung. Daher vernehmen wir des öfteren des Musikers selbstverrätselte Auskunft, das Wesen der Musik sei so geheimnisvoll und unerkennbar, oder so subjektiv und unerfaßbar, daß sich niemand unterstehen dürfe und könne, den Schleier dieser Maya zu lüften.

Nicht verwunderlich daher, daß sich noch in den Tagen unserer angeblichen Wissensgesellschaft der gestandene Musiker weithin dem philosophischen Denken über Musik verweigert. Über die unüberbrückbare Getrenntheit der Welten von Philosophie und Musik sei kein Zweifel möglich, das eine habe mit dem anderen nichts zu tun, das eine fördere das andere nicht, daher könnten die beiden einander nicht zu Nutze sein.

Warum und wozu dann Musikphilosophie? Weil Musik und Musizieren seit dem 19. Jahrhundert ihre wahrheitsfähige Selbstevidenz im Bewußtsein der Menschheit verlieren; folglich hat der universale Geist der Musik ein Interesse daran, auch unter Mithilfe der Philosophie, zu retten, was noch zu retten ist.

Noch bis in die Tage Beethovens gab es keine Musikphilosophie, die dem modernen Anspruch auf selbstvermittelte Erkenntnis der Sache Musik hätte genügen können oder auch nur wollen. Was im Gewande des philosophischen Gedankens über Musik geäußert wurde, diente entweder als Magd der Musiktheorie, um in praktischer Absicht nach universalen Synthesen im Material der Musik zu suchen, oder als Affirmant der universalen Machtansprüche teils gestandener Theologien, teils aktueller Philosophien, diese wiederum teils mathematisch, teils metamathematisch verfahrend, um anhand von Musikalien die universale Tragweite von theologisch und philosophisch autorisierten Begriffs-Gebäuden nachzuweisen. Noch das Universum schien sich der Veranstaltung eines musizierenden Gottes zu verdanken. Also gab es kein wirklich vernünftiges Eingehen auf die intimen Fragen der Musik und der Geschichte ihres Wesens, keine sachbegründeten Letzterörterungen der musikermöglichenden Kräfte und Gesetze, Kausalitäten und Wechselwirkungen, Begriffe und Inhalte – keine begriffene Heimführung der Substanz ihres Wesens. Dieses war noch vollauf damit beschäftigt, seine autarke Geschichte in praktischer Autonomie zu bewerken.

Über Tonalität existiert in der modernen Gesellschaft keine öffentliche Meinung. Nicht einmal das Wort dürfte jenseits der Musiker- und Gelehrtenkreise bekannt sein. Fragen wir daher heute, wie sich in den Anfangsterzen von „Hänschen Klein“ deren Parameter absolut vermitteln, so wird schon diese Frage als Inszenierung eines absurden Kabaretts über Musik vernommen. Und statt einer Antwort hören wir das ewige Lied unserer erlöschenden Tradition noch einmal und immer wieder, und womöglich in der kaum noch erträglichen Version unserer Musikantenstadel. Und Musiker von Profession huldigen ganz ungeniert der unphilosophischen Meinung, die Tonalitäten der Musiken von Jazz und Salon, von Pop und Klassik, von Volksmusik und Barock, von Gregorianischem Choral und postmoderner Resurrektion wären dem Wunderhorn einer zeitlosen Tonalität zu verdanken, das uns mit der Inszenierung einer musikalischen Modenschau beglücke, weil auf ihrem Laufsteg die unveränderliche und ewige Substanz der Musik in lediglich stets anderen Gewändern zeitloser Stile erscheine.

Bachs B-Dur-Partita, Beethovens Appassionata und Chopins g-Moll-Ballade sind sogenannte Spitzenwerke unserer Tradition; daß diese Werke in einem universalen Zusammenhang musikautonomer Selbstentdeckung stehen, deren Kraft und Gesetzlichkeit sie ihre klaviermusikalische Unüberbietbarkeit verdanken – ein Zusammenhang, der kein bloß geschichtlicher, noch gar ein biographischer sein kann, sollte einleuchten. Doch ist das Licht dieser Wahrheit noch nicht weit gedrungen; anders ist es nicht zu erklären, daß wir immer noch die erlesene Dummheit lesen müssen, gewisse Klavierwerke der Tradition seien herausragend, weil sie bereits einige moderne Akkorde bodenlosen Dissonierens enthielten. Als ob der Aberglaube an die Fortexistenz stets neuer „Spitzenwerke“ dazu beitragen könnte, die ewige Modenschau einer ewigen Klaviermusik auch mit Klavierwerken des 20. Jahrhunderts fortzuführen; und als ob es das Telos der traditionellen Musik gewesen wäre, nichttonale Klänge zu suchen und zu finden.

Clementi war ein fleißiger Sonatenkomponist; nun führt ein moderner Praktiker der originalen Aufführungspraxis die Mustersonaten des verblichenen Komponisten auf originalen Instrumenten vor. Doch scheitert der gutgemeinte Versuch, einen Beethoven incognito für uns zu entdecken, kläglich, weil sich der in die Geschichte der Musik unsterblich verliebt habende Aufführungspraktiker von heute noch nicht die musiklogische Frage gestellt und beantwortet hat, warum bereits die Sonaten Scarlattis für immer und ewig rangüber den Sonaten Clementis im ewigen Gedächtnis der Musik abgespeichert wurden. Und daß die gutmütige Antwort, der Mensch Scarlatti habe nun einmal edler empfunden und phantasiert, daher auch edler als Komponist komponiert, keine Antwort, sondern nur die Tautologie der Sache als unerkannte Antwortverweigerung formuliert, sollte einleuchten. Der Geist eines Komponisten ist nicht im biographischen Jenseits seiner Werke als deren erkennbare Ursache aufzuspüren. Was unser Historien-Praktiker als musica erudita traktiert, vermag die höchsten Logen im Olymp der musica aeterna nicht mehr zu erobern.

Immer noch bringen wir unseren Kindern die ersten Weihen der Musik mittels elementarer Tonalität bei – vermutlich mit schlechtem Gewissen. Denn während unsere ontogenetischen Anfänger der Musik die Töne der C-Dur-Skala solmisieren, fragt sich der Elementarpädagoge des 21. Jahrhunderts unausweichlich – ist er nur ein phylogenetisches Kind wenigstens des 20. Jahrhunderts geworden – warum er seine vermeintlichen Tabula-rasa-Eleven nicht längst schon mittels atonaler Intervalle und Skalen in das Reich der Musik eintreten läßt. Sollte die Zeit noch immer nicht reif geworden sein, die tonalen durch nichttonale Elementaria abzulösen? Ohne es zu bemerken, hat unser fragengeplagter Elementarpädagoge von heute zu philosophieren begonnen – aber weithin mit ohnmächtigen Mitteln.

Denn sein Verweis auf irgendetwas Archetypisches, das nun immermal der C-Dur-Skala anhänge, weshalb sie aus vorerst noch unerfindlichen letzten Gründen den Kindern vertraut und irgendwie eingeboren und auch als spaßmachende Erstübung zu vermitteln sei, ist typisch für den Versuch des Praktikers, sich irgendwie mit esoterischem Wortgeklingel durchzuschwindeln, wenn die Luft in der theoretischen Höhe letzter und erster musikalischer Fragen dünn und eisig wird. Und sein Verweis auf die moderne Wissenschaft, die das Problem gefälligst bald erforschen und lösen wird, macht den Musiker und Pädagogen von heute chronisch anfällig für das ideologische Angebot einer Vielheit von Wissenschaften, von der Physik bis zur Gehirnforschung, die sich von sehr verschiedenen Seiten und mit sehr verschiedenen Methoden und Leitvorstellungen von Welt und Mensch seiner Sache Musik nähern, um daher nicht den Stein der Weisen, sondern lediglich viele Steinchen von Halb- und Viertelweisen entdecken zu können.