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054 Am Rubikon

Oktober 2001

Ließe sich der Reichtum der Musikgeschichte nach dem Produktionsausstoß einzelner Jahrhunderte bemessen und vergleichen, dann war gewiß keine Musik fruchtbarer und reicher als die Unterhaltungsmusik des 20. Jahrhunderts. Von keinem vorherigen Jahrhundert übertroffen in der Vielfalt der Richtungen und der Stückzahl ihrer Produktionen, in der Wirkung auf Massen und in der Präsenz des alltäglichen Lebens, erhebt sich daher nach dem Ende des reichsten aller bisherigen Jahrhunderte der Musikgeschichte unabweislich die Frage nach der Einordnung und Bewertung dieses Reichtums. Ein Reichtum an Musik-Gütern, den die moderne Kultur der westlichen Welt initiiert hat, und der am Beginn des 21. Jahrhunderts unerbittlich den Gang in seine Musealisierung und reproduzierbare Wiederaufbereitung angetreten hat.

Folk und Jazz, Operette und Musical, neue Volksmusik und Filmmusik, Pop und Rock, Musikvideo und aktuelle Dance-Musik, eine keineswegs vollständige Liste des Panoramas aller Genres der Unterhaltungsmusik, harren ihrer Definition im Ganzen einer global überschaubar gewordenen Musikgeschichte. Denn mittlerweile haben wir auch die hintersten Winkel aller musikalischen Lokalgalaxien in Geschichte und Gegenwart erhoben, dokumentiert und erforscht, kein Wüstenstrich und kein Dschungelhain, keine Knochenflöte und kein Alphorn, die nicht ihre einmalige Art von Musik im universalen Archiv der global aufbewahrten Musikgeschichte deponiert hätten.

Daß sich die moderne Musikgeschichtsschreibung der universalen Einordnung und Bewertung des Reichtums der Unterhaltungsmusik des 20. Jahrhunderts lange Zeit enthielt und noch heute zu den eher sekundären Aufgaben der musikhistorischen Definitionsarbeit zählt, war durch die hausgebackene Rationalität des Fortschrittsglaubens der ästhetischen Moderne verursacht, dessen magnetischer Wirkung die modern sein wollende bürgerliche Musikgeschichtsschreibung sich nicht entziehen konnte. Trotz der überwältigenden Vormacht der Unterhaltungsmusik, hielt die Musikhistorie des 20. Jahrhunderts an ihrem Glauben fest, als einzig ernstzunehmende Musikrichtung des 20. Jahrhunderts sei allein und ausgerechnet die gesellschaftlich marginalisierte Sparte der Neuen Musik in der ohnehin bereits zurückgedrängten Obersparte E-Musik zu bewerten und zu erforschen, weil allein diese den ewigen Anspruch der Musik, im Rang einer wirklichen Kunst die Tradition der vormodernen Musikepochen in der modernen Gegenwart weiterzuführen, erfüllen könnte.

Und die glorreiche Implementierung des Kategorienpaares Kunstmusik hier, Gebrauchsmusik dort, schien endgültig gegen alle Einwände der Exponenten der U-Musik-Genres zu immunisieren, umsomehr als Adornos Musikphilosophie auch noch eine soziologische Erklärung des Phänomens U-Musik in einer angeblich total verblendeten und verwalteten Gesellschaft nachlieferte. Worin sich nur die Selbstentfremdung einer selbstentfremdeten Gesellschaft spiegele, davon mußte daher das radikale musikalische Gegenteil in den Rang eines ästhetischen Parzival aufrücken, dessen heiliger Verpflichtung musikgeschichtsschreibend zu folgen war – als reiner utopischer Tor durchs verdorbene Land der musikalischen Trotteleien zu ziehen. Denn was immer an der Neuen Musik selbst nach ebensolcher Selbstentfremdung schrie, das geschah ja nur um des Fortschritts willen sowohl der Musik wie auch einer durch moderne Kunst und Musik zu befreienden Gesellschaft. Den Niederungen des musikalischen Zeitgeistes soziologisch enthoben und zugleich ästhetisch modern überhoben, konnte der ignorante Orchideen-Zug einer zeitlosen Wissenschaft seine fröhliche Fahrt in die ferne und doch nahe Zukunft des 21. Jahrhunderts trotz einiger Jugend- und Subkulturrevolten unbekümmert fortsetzen.

Ein zentrales Signum dieser Immunisierung gegen den musikalischen Geist der Zeit war die denkerische Askese gegen die An- und Zumutungen der Kategorie ‚musikalischer Stil’; dieser abgetragene alte Hut der vormodernen Musik und Musikgeschichte, mit dem man wissenschaftlich und philosophisch nichts mehr am modernen Hut haben wollte, nachdem er ohnehin nur mehr in den Genres der U-Musik in unwissender Naivität gehandhabt wurde, und somit hier wie dort zur beliebig einsetzbaren Juxkategorie degeneriert war. Lieber tüftelte man ungeheuerlich detailfreudige Seziermethoden für eine erschöpfende Analyse der musikalischen Formen aus, um dem Meisterlichen der Meisterwerke meisterlich auf die Schliche zu kommen, erfand sogar Meister des kleinsten Überganges, um dann zur Erholung von dieser Tortur „musikalischer Analysen“ die vermeintlichen Romane des Lebens vermeintlich großer Lebens-Männer zu schreiben, weil eine wirklich geniale Musik nach Adam Zwerg natürlich auch eine wirklich geniale Biographie zur Grundlage haben mußte.

Nun ist aber das 21. Jahrhundert erreicht, und unverzüglich kommt uns der moderne Glaube an eine immerwährende Fortsetzbarkeit der fröhlichen Spiele in den selbstverliebten Gefilden postmodern moderner Konstruktivismen und Dekonstruktionen zunehmend abhanden. Nach welchen nicht dekonstruierbaren und nach welchen nicht willkürlich konstruierten Gründen und Abgründen sollen wir das historisch gewordene Panorama der Unterhaltungsmusik des 20. Jahrhunderts definieren und bewerten? War die Unterhaltungsmusik des 20. Jahrhunderts vielleicht dessen verkannte große Kunstmusik? Oder war sie der Beginn einer gänzlich neuartigen Gebrauchsmusik? Und nach welchen Kriterien scheiden wir, die wir nicht mehr gänzlich wie Toren durch die Geschichte der Musik tappen können, das Künstlerische vom Gebräuchlichen, wenn uns die moderne Vergesellschaftung der Musik eine zu jeder Zeit und an jedem Ort verfügbare Musik beschert hat?

Angesichts dieses erreichten Rubikons der Musikgeschichte, liegt die Versuchung nahe, den wertenden Rückblick auf die Unterhaltungsmusik des 20. Jahrhunderts mit den Augen und Ohren der Systemtheorie vorzunehmen. Diese scheint ein Garant dafür zu sein, nur die Sache selbst sprechen zu lassen, denn nach dem modernen Glauben der Systemtheorie ist diese Welt, in der wir uns lebendig vorfinden, als System-Ensemble selbstreferentieller Systeme gebaut und zu begreifen; also wird auch die Unterhaltungsmusik des 20. Jahrhunderts in der Pracht ihres unerschöpflichen Reichtums als ein ausgewachsenes und beeindruckendes Beispiel eines selbstreferentiellen Systems zu dechiffrieren sein.

Das nächste Philosophon wird sich daher mit dem aktuellen Versuch junger Musikhistoriker auseinandersetzen, mittels einer musikhistorisch adaptierten Systemtheorie die Unterhaltungsmusik des 20. Jahrhunderts als dessen verkannte große Kunstmusik zu deuten. Dabei wird es sich vom Wort „selbstreferentiell“, das erfreulich selbstreferentiell nach Wissenschaft klingt, trotz seiner respekteinflößenden Selbstreferenz nicht davon abhalten, auch noch andere Wörter desselben Wortstammes, wenn auch weniger fremdinteressant klingende, zu selbsteigenen Erkenntniszwecken anzurufen. Denn das heutzutage arg vernachlässigte Hobby, auch beim Ein – und Aufklang von gedankentotschlagenden Wörtern nicht aufzuhören, etwas halbwegs Vernünftiges mitzudenken, gelingt mit den alten Worthüten auf dem Kopf selbstermündigter Geister immer noch besser, obwohl diese alten Worthüte nur von selbstorganisiert und selbsttragend, von auf sich selbst verweisend und durch sich selbst begründet und erzeugt daherplaudern; doch rufen uns diese normalsprachlichen Wortklänge wortschlauerweise sogleich dazu auf, den Kapitalunterschied von autistischer und nichtautistischer Selbstreferentialität nie und nirgends aus den Augen zu verlieren.