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100 Die letzte Schwelle

Februar 2003

Die Liebe des Menschen zur Musik ist erklärbar. Es ist auf Erden keine andere Macht, die uns so leicht und vollkommen aus dem Tal unseres Lebens auf den Gipfel eines anderen emporhebt.

Die Frage: welche Musik? ist an dieser Stelle zu fragen vernünftig nicht möglich, weil an dieser Stelle der absoluten Trennung von Musik und Welt einzig und allein die Musik überhaupt der Welt überhaupt gegenübersteht. Die Negationsmacht der Musik transzendiert jede Positionsmacht, die im Namen von Welt immaniert. Es ist nicht unvernünftig, daß Musik notwendigerweise nicht nicht existieren kann.

Aber die Gipfel welchen anderen Lebens werden erklommen? Die der Musik. Und die wären? Auch auf diese Frage ist an dieser Stelle der absoluten Unterscheidung von Musik und Welt eine Antwort nicht möglich. Denn wo lediglich Musik als solche und Welt als solche sich scheiden, haben wir nichts als diesen Unterscheid, und daher formuliert dieser Satz keinen metaphysischen Inhalt, er artikuliert lediglich einen absoluten Formunterschied: mindestens zwei Welten sind möglich: die der Musik und die der Welt.

Die Liebe des Menschen zur Musik ist erklärbar. Es ist auf Erden keine andere Macht, die uns so leicht und vollkommen aus dem Tal unseres Lebens auf den Gipfel eines anderen emporhebt.

Dieser Satz formuliert auch nicht eine sogenannte anthropologische Konstante der Geschichte und Menschheit, ja nicht einmal eine Konstante der Musikgeschichte. Denn allen vor- und nichtchristlichen Völkern und Kulturen ist Musik als wirklich freie Himmelsmacht verschlossen. Und wie es in Zukunft um deren Schicksal bestellt sein wird nicht wissen zu können, zählt zum unaussprechlichen Glück der gegenwärtigen Epoche.

Aber Musik wird doch durch Musizieren gemacht, und somit erhebt uns doch allein das Musizieren und der Musikant in den Himmel? Als wäre das Musizieren stets und immer der Himmel, nicht auch die Hölle, ja ärger noch: ein Mittelmaß und eine Mittelmäßigkeit. Musikant und Musizieren, auch Komponieren und Improvisieren sind der Musik höchste Mittel und Dienung, womit sich die Musik selbst als Zweck und eigene Welt verwirklicht.

Das Musizieren macht sich in dieser Welt, aber die Musik, bei sich angekommen, in ihrer eigenen Welt. Wir sind nicht von dieser Welt, wenn wir uns in jener der Musik erfahren. Daher kann auch nicht die Freude am Musizieren, auch nicht das Können, und wäre es das virtuoseste, als erster Sinn und letzter Zweck der Musik ausgehandelt werden – geschieht dies, geschieht Hochverrat durch den höchsten Verräter.

Die Liebe des Menschen zur Musik ist erklärbar. Es ist auf Erden keine andere Macht, die uns so leicht und vollkommen aus dem Tal unseres Lebens auf den Gipfel eines anderen emporhebt.

An der Eingangspforte aus dieser Welt in die Welt der Musik berufen und beriefen sich daher alle Epochen und alle Menschen, die Musik hervorbringen und hervorbrachten, auf diesen Satz, gewöhnlich in der Maske des bekannten: Musik ist Musik (und alles andere ist alles andere.) Beethoven und DJ Ötzi, Mozart und Mick Jagger berufen und beriefen sich in gleicher, ja in identischer Weise auf diesen Satz, um ihr Tun und Lassen zu legitimieren.

Und dennoch ist die gleichfalls bekannte Maske eines anderen beliebten Satzes: es gäbe nur gute und schlechte Musik, nicht aber Arten und Modi von Musik, nichts als ein epileptischer Anfall epochaler Dummheit, die vermutlich eine noch größere ankündigt: Dummheit, nicht Epoche.

Denn ausschließlich an der zeitlosen Schwelle der Eingangspforte aus dieser in jene Welt ist das ebenso absolut notwendige wie zugleich absolut verschwindende Durchgangsmoment vorhanden – die völlige Gleichgültigkeit der Substanz von Musik gegen die Modi und Attribute ihrer absoluten Verwirklichung im Gang ihrer Geschichte. Und diese Gleichgültigkeit ist unser gefährlicher Ort, unsere heimatlose Heimat geworden.

Nur an dieser Schwelle, an der alle Unterschiede der Nicht-Musik-Welt für einen Moment in die Andersheit der Musik-Welt verschwinden sollen, gilt der Schein einer totalen Egalität jeder Musik mit jeder. Nur hier kann ein Zufallsklang a là Cage als das Musik-Andere von Welt inszeniert werden, nur hier kann ein Show-Star von heute sein Treiben als für die Existenz von Musik unentbehrlich inszenieren. Weil die Eingangspforte alle Mächte aller Musiken vorbeischreiten gesehen hat, von hier nach dort, von dort nach hier – existiert sie nur mehr als zugleich Ausgangspforte. Der Anfang ist in sein Ende zurückgekehrt, das Ende existiert als sein Anfang. Folglich steht die Geschichte der Musik auf dieser zeitlosen Anfangs- und Endschwelle des Wesens von Musik, und närrisch eine Epoche, die diese Tatsache nicht erkennt.

Dennoch und eben deshalb gilt: es wird auch hinkünftig auf Erden keine andere Macht sein, die uns so leicht und vollkommen aus dem Tal unseres Lebens auf den Gipfel eines anderen emporhebt. Denn die einzig neue Kunst des Films ist eine Welt von Kunst, die nur mehr als reflektierte Rückkehr in die vorhandene Welt möglich ist. Und neue Künste sind als absolute Negationsmächte weder möglich noch daher notwendig.

Weil aber in der Welt der Musik alle ihre Himmel und alle ihre Höllen vollständig vorhanden sind, muß die Aufgabe der Zukunft von Musik sein, die guten von den schlechten Mächten genau zu scheiden, die Gipfel nach ihren Gebirgen genau zu erkennen. Niemand besteige einen Berg, der nicht existiert. Niemand eile in falsche Richtungen zu verkehrten Zielen.

Hundert Essays haben sich in dieser Schrift mit der Negationsmacht der Musik im Vergleich sowohl mit der Positionsmacht der gegenwärtigen Welt wie auch mit den anderen Negationsmächten eben dieser Welt – also mit den Mächten der anderen Künste, der Religion und der Philosophie – auseinandergesetzt und zu einem Panorama einsichtiger Erkenntnisse versammelt – manchmal erhebend, manchmal bestürzend, manchmal nur klärend und ordnend, manchmal nur beobachtend und belächelnd.

Leider ist das alte Europa nicht nur das Opfer verbrecherischer Ideologien, sondern daher auch das Opfer einer falschen Säkularisierung geworden; mit ihm und in ihm läßt sich daher kaum noch vernünftig über den Fortgang der Geschichte auch von Musik verhandeln. Alles scheint möglich am Ort der gefährlichen Schwelle: die vollständige tabula rasa oder die vollständige Rekonstruktion und Bewährung der Sache. Der vollständige Verlust des Sinnes von Musik oder die Eroberung eines Reiches absoluter Erfahrungen, in dem die Welt der Musik geworden sein wird, was sie werden konnte.

Die Liebe des Menschen zur Musik ist erklärbar. Es ist auf Erden keine andere Macht, die uns so leicht und vollkommen aus dem Tal unseres Lebens auf den Gipfel eines anderen emporhebt.