001 Das Bachjahr 2000. Zur Philosophie des Jubiläumsjahres.
Februar 2000
Warum feiern wir heuer ein Bachjahr? Was hat das Jahr 2000 eigentlich mit dem Jahr 1750, in dem Bach verstarb, zu tun? – So dumm kann nur ein Kind oder ein Philosoph fragen. Unsere Antwort lautet selbstverständlich und kulturstandesgemäß: Weil der große Bach, Johann Sebastian seines Namens, vor genau 250 Jahren verstorben ist, feiern wir heuer das 250. Jubiläumsjahr seines Todesjahres. Das ist so klar wie das Kleine Einmaleins und sollte daher weder Fragen noch Zweifel erwecken. Dennoch gestehen wir uns insgeheim ein, beinahe reflexartig auf die dumme Frage reagiert zu haben, und noch dazu mit einer mathematischen Banalität, welche die Frage eher ignoriert als beantwortet. Ein mulmiges Gefühl beschleicht uns, und schon beschwichtigen wir in uns den noch unausgesprochenen Verdacht, irgendetwas könnte nicht stimmen mit dem säkularen Kult unaufhörlicher Jubiläumsjahre, den wir an den Altären unserer Heroen der Kunst- und Kulturgeschichte eingerichtet haben.
Kinder und Philosophen sind bekanntlich hartnäckig, haben sie einmal begonnen nachzufragen, wird’s mit jeder Frage ärger, und ihren letzten Fragen müssen wir oft diplomatisch ausweichen, weil sie uns ungeniert Mark und Bein durchbohren. – 250 sei wirklich eine schöne, eine runde oder doch eine halbrunde Zahl, gestehen sie uns zu; auch hätten sie Verständnis für unsere Freude am Abzählen von Jahresfolgen; nirgendsonstwo gehe es ja so wohlgeordnet zu wie im Reich der Zahl und des Zählens – noch das kleinste Zahlenteilchen finde in den Dekaden unseres Dezimalsystems sein genaues und angestammtes Plätzchen. Dennoch sollten wir uns fragen, ob es nicht kindlich sein könnte, also für Erwachsene unmäßig infantil, beim Durchzählen der Dekaden von 1 bis 100 bei jeder runden und halbrunden Zahl in ein Hurrageheul auszubrechen? Maßlos infantil sogar, wenn unser dekadischer Jubel mit der herbeigezählten Wiederkehr des Sterbejahres eines Komponisten verknüpft wird, denn Sterbejahre – von wem auch immer – sollten nicht unser Jubilieren, sondern unser trauerndes Gedenken und Erinnern erwecken.
Was sollen wir antworten? Sollen wir überhaupt noch antworten? Wozu reden mit Banausen, die offenbar noch nicht begriffen haben, daß es uns nicht um Zahlen und Jahre geht, wenn wir Bach-, Mozart-, Beethoven- Usf-Jahre feiern, sondern einzig und allein um das große und heilige Werk der Meister – wenn wir Jubiläumsjahre am Fließband unseres Dezimalsystems produzieren. – Um unserem lästigen Gesprächspartner den intoleranten Vorwurf des Banausentums zu ersparen, sinnen wir auf einen diplomatischen Ausweg. Vielleicht ergibt das Geburtsjahr unseres Jubiläumskomponisten – 1685 -, auf das Jahr 2000 hochgerechnet, ein günstigeres Angebot? Unsere kurze Kopfrecherche zeigt jedoch lediglich eine schäbige 315 an; eine Zahl, die sich eckig ausnimmt, irgendwie künstlich und prosaisch herbeigerechnet; mit ihr lassen sich Komponistenfeiern vielleicht in kleinerem Rahmen, vielleicht an Musikschulen und Konservatorien aufziehen, nicht aber läßt sich mit einer 315 die große Musikindustrie hinter dem kapitalen Ofen des Kulturbetriebs hervorlocken.
Was sollen wir antworten? Wir erkennen uns im Notstand widersprüchlicher Argumente. Sagen wir nämlich, Zahlen und Jahre bedeuten uns nichts, allein die Werke und die Meister zählten, dann haben wir den frechen Einwand zu gewärtigen, daß doch die Musik der Meister und Kleinmeister der Musikgeschichte ohnehin tagaus tagein 99% des Repertoires in Konzertleben und CD-Klassik-Industrie, in der Noten- und Schrifttumsherstellung der Verlagsproduktion, im Lehrbetrieb der Musikausbildungsstätten, in Oper und Kirche beherrschen. Überflüssig daher, eine übersättigte Produktion und Konsumation, nicht zuletzt des täglich und stündlich strapazierten Bachschen Gesamtwerkes, zusätzlich noch mit Jubiläumsevents und -festivals anzufachen und somit die Höhe und Aura der Bachschen Musik weiter zu inflationieren. – Sagen wir aber, es sei doch etwas Besonderes an den runden und halbrunden Zahlen unseres Dezimalsystems im mitgezählten Jahresreigen der Jahrhunderte, dann outen wir uns als Zahlenfetischisten, die in einem trüben Nebenwasser der neopythagoreischen New-Age-Ideologien dahinsegeln.
Im ersten Fall reden wir also längst schon dem Markt wohlfeil nach dem Mund, der uns zu Lemmingen einer Musikkultur gemacht hat, in der wir wie Pawlowsche Hunde auf äußere Reize von Logos und Signets, auf runde Jubiläumsjahreszahlen und Komponistenkonterfeis, auf Anekdotenhighlights und Biographienklischees reagieren. Der jeweilige musikalische „Jahresregent“, um die Sprache unserer Marketingabteilungen für einen nichtigen Moment zu verwenden, fügt dann die „2000“ als „Millenniums-Bach-Jahr“ gewinnsicher jener werbetechnischen Grundausrüstung hinzu, ohne deren manipulierende Macht auch die Vermarktung der Artikel Marke Bach nicht möglich wäre: allein mit der Zahl der Logo- und Signetkontakte durch eine Massenkundschaft vermehrt sich die Verkaufszahl aller Bach-Produkte. – Im anderen Fall aber, wenn also an den Jubiläumsjahreszahlen wirklich etwas Besonderes wäre, bedarf es geringer Schläue, um zu durchschauen, daß wir uns eine auserwählte Aura von runden Zahlen nur einbilden, um einen postchristlichen Ahnenkult an den Altären unserer Heroen der Musikgeschichte einrichten zu dürfen. Mit dem Segen der verläßlich wiederkehrenden Glorias unseres Dezimalsystems, durch die freilich nicht einmal der Teufel mag glücklich werden, erlauben wir uns, ohne schlechtes Gewissen und vor allem ohne Nachdenken und Nachfragen eine musikalische Gedenkkultur als pseudosakrale Obsession und kollektive Zwangshandlung zu organisieren.
Die letzten Gründe dieses Verhaltens sind uns nicht verborgen: schon seit dem 19. Jahrhundert beginnt sich ein gesamtabendländisches, ja ein gesamtweltgeschichtliches Musikbewußtsein in unserer Musikkultur einzunisten, das mittlerweile jede nur einmal gewesene Musik unserem Musizieren und Hören zuführt. Dieser historische Strang unseres Musikbewußtseins wendet sich fanatisch der Vergangenheit der Musik zu, ihrer Eroberung und ihrer Erhebung in den Rang einer Musikreligion, ohne doch den letzten Schritt seines neosakralen Unternehmens durchführen zu können. Denn selbstverständlich müßte die Substanz einer Musik, wenn einmal sogar deren große Geschichte und Entwicklung erinnerungsfähig und heilwürdig geworden ist, in Gestalt eines musikalischen Kirchenjahres kanonisiert und gesamtgesellschaftlich zelebriert werden.
Ein sakralästhetisches und aristokratisches Unternehmen, das allen unseren säkularen Auffassungen von Kunst und ästhetischer Freiheit diametral zuwiderläuft. Und aus diesem Widerspruch, der auch den letztlich unversöhnbaren Gegensatz von Alter und Neuer Musik und die ebenso unversöhnbare Dissonanz zwischen U und E gezeitigt hat, wird zuletzt noch der Fetisch des Jubiläumsjahres geboren: ohnmächtig appelliert er an die Idee eines Kirchenjahres aus dem Geist autonomisierter Musik, während er eben diese Idee zugleich torpediert und zerstört. Dies ist seit dem 20. Jahrhundert auch vor unser aller Augen und Ohren: dank Zusatzmutter Technik und Allvater Markt haben nun auch unsere Dirigenten, Orchester, Pianisten, Sänger usf Anteil an der Kraft des Jubiläumsfetisch: die Produkte ihrer Reproduktionsleistungen gelangen als Massenware in die Maschinerie universaler Bewerbung und Verkaufung, und die neuen Urheber nehmen im Karussell der Jubiläumsjahre Platz.
Der erkannte Widerspruch im Abgrund des Jubiläumsfetisch findet sich wieder in der widersprüchlichen Gestalt, in der wir unseren Millenniums-Bach weltweit und doch nur enklavisch in der Provinz Musikkultur feiern. Während wir die Bachsche Musik einerseits in die Vergangenheit begleiten und allen Ernstes glauben, im heiligen Bachjahr sei an heiligen Bachorten dem Geist der Bachschen Werke ganz ad intimum zu begegnen, jagen wir Bachs Musik andernorts in die Fänge des heutigen und künftigen Musizierens, wir lassen sie swingen und rappen und melden stolz, sie zeige sich in den Armen von Jazz, Rock, Pop und Sampling äußerst anschmiegsam. Einerseits liefern wir Bachs Musik der Performance, dem Happening und auch der De- und Rekomposition durch postmoderne Komponisten aus und vergessen auch den „Bach for Kids“ nicht; andererseits starten wir in die Vergangenheit durch und landen an den authentischen Aufführungsstätten, nachdem wir uns längst schon der authentischen, weil vermeintlich originalen Instrumente und Spielweisen versichert haben, weil wir Bachs Werke immer schon besser spielen und hören wollten, als es Bachs Zeitgenossen möglich war. Der historisch-authentische Bach aber hört sich für den Musiker aktueller Szenen wie Mumienkaraoke an, der verjazzte und versampelte Bach wiederum für den historischen Aufführungspraktiker und Liebhaber Alter Musik wie musikalische Kloake.
L’extremes se touchent, sagen die Franzosen, und gern möchten wir heute erwidern: also bleiben wir doch in der Mitte, wenn uns an den entgegengesetzten Enden nur zwei Varianten desselben Wahnsinns erwarten. Um das Wehen des Bachschen Geistes zu vernehmen, mußten wir immer schon zur auserwählten Gemeinde derer zählen, die nichtzählend vom Geist der Bachschen Musik lebten.