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002 Ist Mozarts Zauberflöte ein unerkanntes Musical?

Februar 2000

Wen unter Musikbeflissenen hätte nicht schon in heimlichen Minuten der Gedanke versucht, Mozarts Zauberflöte sei im Grunde auch nur ein Musical der damaligen Zeit? Eine hermeneutische Versuchung, der zu erliegen neuerdings auch namhafte Interpreten und Musikhistoriker immer weniger verschmähen. Nicht nur Friedrich Gulda, der kürzlich an Mozarts 244. Geburtstag verstorbene Pianist und Komponist, scheint dieser Versuchung ausgiebig gehuldigt zu haben. Seine Gleichsetzung von Mozarts melodiebeseelter Rhythmik mit der vermeintlich lebendigen, weil ach so zeitgemäßen Rhythmik aktueller Technomusik hinterließ eine ganze Legion ratloser Gulda-Fans, die sich am liebsten in den nächsten Abgrund der Musikgeschichte stürzen wollten angesichts der Selbstblendung ihres Idols, das plötzlich nicht mehr zwischen den Musen der Kunst und den Musen von Unterhaltung und Kommerz zu unterscheiden wußte.

Aber dem Gerücht von einem Musical namens Zauberflöte begegnen wir zunehmend auch in den Zirkeln der Musikhistoriker vom akademischen Fach. Vielleicht noch nicht in ihren Vorlesungen und Seminaren, auch noch nicht auf den Bühnen der offiziellen Kongresse und Symposien; sehr wohl aber in ihren populistischen Publikationen, die dem Zeitgeist marktläufig nach dem Munde und Geschmack reden; und natürlich zu fortgeschrittener Stunde im gemütlichen Dampf geselliger Zusammenkünfte, wenn die Tabus des Fachgelehrten-Überichs fallen und das angelernte historische Bildungswissen über das undurchschaute Wesen einer Gattung namens Oper über Bord geworfen wird.

Was geht in unseren Köpfen vor, wenn wir – Musikbeflissene aller Kontinente, arm an Expertengeist und noch ärmer an Macht über die aktuellen Trends eines pluralistisch gespaltenen Musiklebens – das Gerücht von einem Musical namens Zauberflöte vernehmen? Soll überhaupt noch etwas in uns vorgehen?

Denn immerhin, das Gerücht drang aus den olympischen Höhen des Zeitgeistes an unser Ohr, es kam von der allerhöchsten Spitze der Pyramide des heutigen Diskurses über Musik. Und wer sonst, wenn nicht unsere Prominenten und Experten könnten uns schlüssige Begründungen für unser Urteil über jede Art von Musik zukommen lassen; Begründungen, die wir dringend benötigen, wenn wir unseren verunsicherten Musikgeschmack beim nächsten Smalltalk als zumindest zeitgemäß vorführen wollen? Und nichts wäre dabei, einfach nur nachzudenken und nachzuplappern, was unsere prominenten Musiker, Komponisten und Musikhistoriker als Vordenker und Vorredner des heutigen Musiklebens ausposaunen, wenn uns nicht die moderne Demokratie anhielte, über alle unsere Handlungen und Urteile durch Selbstdenken und Selbstentscheiden, durch argumentatives Begründen unserer Zustimmungen und Ablehnungen eine transparente Rechenschaft und Sinnerklärung vorzuweisen. Peinlich vordemokratisch und unmündig wäre es daher, beim Gerücht vom Musical Zauberflöte nicht nach einem, wenn auch noch so kümmerlichen Wahrheitskern dieser Botschaft und ihres Zustandekommens in den Köpfen unserer Olympier zu fragen.

Hören wir richtig, dann spricht das Gerücht vom Musical Zauberflöte entweder eine perfide Gleichsetzung von Musiken völlig ungleicher Art und Werthöhe aus, und noch dazu von unvergleichbaren Epochen und deren Musikstilen: was Mozart und Beethoven dereinst, das sagten uns Cole Porter und Andrew Lloyd Webber im 20. und 21. Jahrhundert; oder das Gerücht spricht eine neue und revolutionäre musikgeschichtliche Erkenntnis aus: die Entwicklung der Gattung Oper hätte über ihren Weg durchs 19. und 20. Jahrhundert zum vorläufigen Höhepunkt ‚Musical‘ geführt, zum supererfolgreichen Höhepunkt einer zeitgemäßen Art der Gattung Musiktheater; daher glücklich ist, wer vernimmt, daß wir nunmehr auch ein klassisches Musical unser eigen nennen und nicht nur diesem ein nach Millionen zählendes Publikum zuführen dürfen, während das Opernpublikum Mozarts und Beethovens seinerzeit lediglich nach Tausenden zählte.

Oder das Gerücht vom Musical Zauberflöte will schlußendlich doch ganz anders und noch viel revolutionärer verstanden sein: wohl hätte die Musikgeschichte um 1600 eine Tradition namens Oper eröffnet, aber der bildungsbürgerliche Anspruch aller bisherigen Deutungen und Kanonisierungen der Musik- und Operngeschichte darf uns ab sofort nicht mehr quälen, denn hinfällig sei längst schon sowohl das Modell einer Gleichsetzung wie auch das Modell einer Evolution der seit 1600 einander folgenden Epochen der Opern- und Musikgeschichte.

Und da in der modernen Demokratie die Prinzipien der Freiheit und Autonomie des Individuums überall zu gelten haben, müsse sich nun auch die musikalische Geschmacksbildung dem Prinzip freier und autonomer Selbstentscheidung beugen. Jedem stehe nun frei, die seinem Geschmack genehme Musik auszuwählen und einzuüben, gleichgültig aus welchem Jahrhundert und gleichgültig aus welchem Anlaß und zu welchem Zweck. Nur wer dieser Freiheit gemäß handelt, wird in einer Musikkultur als König Kunde und als König Star Karriere machen, weil der internationale Musikmarkt unterdessen die Musiken aller Epochen for ever in allen nur erdenklichen Bearbeitungen, Festivals, Einspielungen und Wiedereinspielungen anbietet. Nicht mehr verwunderlich daher, daß angesichts dieser glänzenden Errungenschaften unserer demokratischen Geschmacksbildung und technologischen Musikbeherrschung alle bisherigen Vorstellungen eines kanonisierbaren Repertoires, einer Entwicklung und Vollendung von Musikstilen, gar von Werthierarchien im Gefälle von Meister- und Machwerken hoffnungslos verzopft und altväterisch durch die Stätten der Musikkultur geistern.

Wem die Zauberflöte und Fidelio daher besser gefalle als <Kiss me, Kate> und <Cats>, der solle sein Glück nicht höher schätzen als das seines ästhetischen Kontrahenten, dem <Kiss me, Kate> und <Cats> besser gefalle. Am besten aber und dem Markt am wohlgefälligsten fahre natürlich jener geniale Konsument, dem alles gleich gut gefällt. Nur dieser darf schließlich auch jenem professionellen Musiker der Gegenwart, der sich als Chamäleon und Crossoverant durch die Musikstile aller Herren Länder und Epochen bewegt, das Wasser und die Blumen reichen.

Zwischen Klassik, Pop, Jazz und Ethno schalte er um wie jemand, der in verschiedenen Räumen den Lichtschalter ein- und ausknipse, teilte uns kürzlich Bryan Ferry mit; und nur die Heimtücke eines böswilligen Schicksals versagte uns den unvergeßlichen Lebenshöhepunkt, unter dem Dirigat eines führenden Star-Entertainers von heute Bach-Gounods <Ave Maria> von gestern im spontanen Nullavista-Chor eines begeisterten Publikums von morgen und außerdem noch in St. Pölten mitsingen zu dürfen.