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003 Was ist musikalisch schön?

Februar 2000

Das Paradies einer unbeschränkten Freiheit regiert an der Schwelle zum 21. Jahrhundert alle Leitvorstellungen unseres ästhetischen Geschmackes. Unbeschränkte Freiheit regiert alle Facetten unseres Verhaltens zu allem, was uns Künste und Kultur tagtäglich anbieten. Und dieser Zustand einer paradiesischen ästhetischen Freiheit manifestiert sich exemplarisch in unserem Verhalten zum explodierenden und artenüberschießenden Angebot der Musik.

Aber so frei wir auch sind, es läßt sich nicht leugnen, daß wir uns zugleich in einem Zustand permanenter ästhetischer Notwehr befinden angesichts einer unübersehbaren Fülle von Komponier-, Musizier- und Hörweisen in allen Sparten der Musik. Jeder ist nun nicht nur so mächtig und frei, sich zu nehmen, was ihm gefällt, sondern zugleich ebenso ohnmächtig und genötigt, sich aus einem entgrenzten Angebot jene Rosinen zu wählen, die es ihm erlauben, die Illusion eines „persönlichen“ Musikgeschmackes zu nähren. Daher schämt sich unsere entgrenzte ästhetische Freiheit auch nicht mehr ihrer nackten Subjektivität und Willkür, wenn sie uns ebenso selbstsicher wie verunsichert mitteilt: „Schön ist, was mir gefällt“.

Höchst individuell scheint also das Musikalisch-Schöne nach seinem Gang durch das 20. Jahrhundert geworden zu sein, und doch läßt sich wiederum nicht leugnen, daß wir uns nicht schämen, wenn sich unser musikalischer Geschmack als massenhaft austauschbar entpuppt; ungeniert stimmen wir im Ritus massendemokratischer Prozeduren über die jeweils besten Hits und Sounds in den chartfähigen Musiksparten ab. Dem individuellen Credo unseres ersten und obersten ästhetischen Grundsatzes: „Schön ist, was mir gefällt“, liegt offensichtlich ein noch viel tieferes Credo zugrunde: „Schön ist, was uns verbindet“.

Sosehr aber die ästhetische Qualität einer Musik, die als soziales Verbindungsmittel erfunden, reproduziert und konsumiert wird, völlig durchlässige Grenzen gegen die Sintflut des Banalen und Schlechten aufweisen muß, so reichen ihre geschmacksverhöhnenden Attrappen des Musikalischen dennoch aus, eine musikdominierte Sub-, Spaß- und Jugendkultur zu begründen, ohne deren organisierte Aufzucht unsere massenproduzierende Musikindustrie nicht überleben könnte. Unversehens sind wir damit beim allerobersten und allertiefsten Credo und Grundsatz übers Musikalisch-Schöne im Freiheitsparadies von heute angelangt: „Schön ist, was erfolgreich ist, weil es sich verkaufen läßt“.

Statt ein Paradies gewürdigt, scheinen wir uns in dessen Ruinen vergaloppiert zu haben. Schleunigst sollten wir uns daher der ehrenwerten Leitbilder unserer musikalischen Hochkultur besinnen und uns deren Credo zu Herzen nehmen, wonach die ästhetische Freiheit, die gemeint sei, allein und ausschließlich in den höheren Etagen des Hauses der Musik wohne; dort, wo der musikalische Geschmack der Massen als übelriechend zu registrieren sei. Nur in den höheren Etagen könne die unstillbare Sehnsucht unserer musikalischen Bedürfnisse, nicht mit musikalischem Schwachsinn, sondern mit der Musik wahrer Schönheit erfüllt zu werden, Gehör und Gewährung finden.

In den nichtchartfähigen Sparten unserer Musikkultur vernehmen wir jedoch nicht nur ganz andere Töne und Klänge, sondern auch ganz andere Erklärungen und Leitbilder. Das Versprechen nicht nur einer, sondern das leidenschaftliche Bemühen um eine Vielzahl von gänzlich neuen Arten des Musikalisch-Schönen, die Zusage eines unerschöpflichen Reiches von wirklich individuellen und daher unverwechselbaren musikalischen Schönheiten. Hier erst scheinen sich die Tore des Paradieses unbegrenzter ästhetischer Freiheit zu öffnen. „Schön ist, was noch nicht gewesen ist“, lautet nun das Credo einer sich wirklich exponierenden Freiheit. – Und gern hören wir die Botschaft, daß jeder Mensch modernen Geistes, sei er nur bereit, in das kreative Potential seiner Individualität individuell einzutauchen, auf den Namen Genie zu taufen sei. Wir verstehen, daß im Zeitalter massenproduzierender Musikindustrie ein Komponist von Musik mit höherem Kunstanspruch nur mehr im Licht radikaler persönlicher Innovation seiner unvergleichlichen Individualität einen ebenso unvergleichlichen Ausdruck in Tönen und Klängen wird geben können.

Und warum befällt uns dennoch ein banges Zweifeln und Nagen, wenn uns der Experte oder Scheinexperte der höheren Etagen mit analytischem Finger und euphorischer Rhetorik die Schönheiten einer Zwölftonmelodie in Alban Bergs Wozzeck und Lulu oder die noch größere, weil noch aktuellere Schönheit im Geräusche-Belcanto einer Oper von Luigi Nono oder Helmut Lachenmann auseinandersetzt und anpreist?

Zum einen plagt uns das schlechte Gewissen darüber, daß man unseren Geschmack schon seit etlichen Jahrzehnten mit Belehrungen dieser Art bearbeitet. Wir spüren die Spitze des schmerzhaften Vorwurfs: längst schon hätte die höhere Musik des 20. Jahrhunderts in unserem Geschmackssensorium die Favoriten der vorvorigen Jahrhunderte ablösen müssen. Längst schon hätten die innovativen Fundamente neuer Musiken des 20. Jahrhunderts zu Fundamenten unserer Musikerziehung im 21. Jahrhundert aufsteigen müssen. – Zum anderen plagen uns Skrupel beim Gedanken an unsere Freunde in den unteren Etagen des Hauses; denen ist weder mit analytischen Ein- und Ausführungen noch mit rhetorischen Beschwörungen beizukommen; denn mit Fesseln wie von Ewigkeit geschmiedet sind sie an die Credos und Grundsätze ihres musikalischen Geschmackes gekettet; die Existenz höherer Etagen im Haus der Musik haben sie nur verschwommen und unwillig oder gar nicht zur Kenntnis genommen. Unsere Freunde leben wie am anderen Ufer einer anderen musikalischen Welt, und daher übermannt die Zeloten der oberen Etagen zuweilen mit fürchterlicher Gewalt die Sehnsucht nach jener Furt eines Crossover, das wieder zusammenführte, was die Geschichte so streng getrennt.

Es müßte ein klassisches, ein globales, am besten ein weltmusikalisches Crossover sein, und spätestens hier spüren wir in uns die Gretchenfrage an das 20. Jahrhundert aufsteigen: „Liebes und schreckliches Jahrhundert, hast Du das Musikalisch-Schöne erweitert und bereichert wie nie zuvor ein Jahrhundert? Oder hast Du es rettungslos zerstört und in sich zusammenbrechen lassen?“

Als Friedrich Gulda sein Cellokonzert einer staunenden Öffentlichkeit präsentierte, wurde es von seinen Gegnern als ästhetischer Furz bewertet; und der komponierende und jazzelnde Pianist pflegte sich an seinen Feinden von der avantgarden Zunft zu rächen, indem er die Produktionen der Etagen neuer und neuester Musik als hinfällige Auswüchse einer Un- und Garnichtmusik ausgrenzte.

Nicht zu bemerken, in welchem Jahrzehnt welchen Jahrhunderts man lebt, zählte immer schon zu den Genialitäten der österreichischen Mentalität, gleich ob in Politik oder Religion, ob in Kultur oder Künsten.

Erst spät und vielleicht zu spät, gegen Ende des 20. Jahrhunderts, fanden zwei Olympier des Musikbusiness aus verschiedenen Etagen zusammen, um an einem auffälligen Ort in aller Öffentlichkeit ein legendäres Kleinkonzil über die Frage, was nun wirklich in der Musik von heute dürfe schön genannt werden, abzuhalten. Sie disputierten und befanden also über eine Frage, der noch ein Jahrhundert zuvor Meister Hanslick glaubte, einen ganzen philosophischen Traktat widmen zu müssen.

Die Herren Karl Moik und Marcel Prawy einigten sich nach kurzer Verhandlung mit bekannter Begeisterungsfähigkeit auf die schöne Einmütigkeit eines Credos, das alle Zweifel für immer beseitigte: „Das Schöne in der Musik ist die Melodie, die den meisten am besten gefällt“. – Tiefer läßt sich nicht mehr argumentieren, denn zweifelsohne gefällt uns die Liebliche, weil sie uns ins Ohr geht; und ins Ohr geht sie uns, weil sie uns so ins Ohr geht wie der Löffel in den Mund. Irrtum sei unser Trennen von U und E, unser umständliches System von Arten und Gattungen, von Stilen und Epochen, von Meistern und Kleinmeistern. In Wahrheit gäbe es nur gute und schlechte Musik, pardon, Melodien.

Wer hat hier wen auf den Arm genommen: unsere Olympier die Musikgeschichte oder die Musikgeschichte unsere Olympier? Wie schön wäre es doch, wenn auch in der großen Geschichte der Menschheit die Menschen einzig und allein nach guten und schlechten zu sortieren wären; immer schon war das Paradies des Spießbürgers das gemütlichste auf Erden: denn erstens sind die Guten immer hier, und zweitens die Schlechten immer dort bei den anderen…