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004 In der Nacht der Notenköpfe ist alle Musik schwarz

März 2000

Über den Wert von Musik kann nicht anhand ihres Notentextes entschieden werden. Wer wüßte das nicht: eine Partitur Boccherinis, neben eine von Mozart gelegt, enthält alles, was das Herz traditioneller Musik begehrt: anmutige Melodien und blühende Harmonien, elegante Formen und ausdruckserfüllte Klänge. Mozarts Kleine Nachtmusik scheint, im Licht ihrer Noten besehen, den Serenaden Boccherinis nichts voraus zu haben, und eben dieser Schein einer scheinbar auch noch „wissenschaftlich“ nachweisbaren Gleichwertigkeit beider Komponisten macht uns in mehrfacher Hinsicht ratlos. Denn das Unverwechselbare und Einmalige an Mozarts Musik, dasjenige, was man die dritte Dimension seiner Musik genannt hat, findet sich nicht wieder am ebenso schmucken wie einfachen Notentext. Entweder wurde das Geheimnis von den Notenköpfen verschluckt und vernichtet, oder das Geheimnis Mozarts hat sich unverschämterweise die Freiheit herausgenommen, gar nicht in die Dimension der schriftlichen Zeichen einzugehen.

Die G-Dur-Dreiklangszerlegung, mit der die Kleine Nachtmusik anhebt, haben mittlerweile schon etliche Musiker- und Forschergenerationen in ihren Labors allen nur erdenklichen Untersuchungen unterworfen. Dennoch ist bis zum heutigen Tag keine Lehre und keine Offenbarung erschienen, die uns das Geheimnis von Mozarts dritter Dimension entschlüsselt hätte. Weder scheinen wir daher dem Notenbild der Musik noch unserem eingewurzelten Vorurteil vertrauen zu dürfen, der Notentext eines Musikstückes sei dessen objektives Abbild.

Dennoch grassiert unter Musikern und Musikforschern, von Musikliebhabern ganz zu schweigen, der Fetischglaube an Autographe, Urtexte und Erstdrucke. Wie läßt sich dieser Widerspruch erklären? Einerseits kann über den Rang und Wert von Musik nicht anhand ihres Notentextes entschieden werden, andererseits genießt die Notentextur in unserer Musikkultur einen quasiheiligen Rang. Einerseits läßt die Notentextur, diese scheinbar für die Ewigkeit festgeschriebene Formgestalt der Werke, unsere Erkenntnisorgane im Stich, wenn wir das Geheimnis der Musik und ihrer Werte zu ergründen versuchen; andererseits können wir nicht davon ablassen, an die Schrift der Musik zu glauben. Nicht verwunderlich, daß unsere Ratlosigkeit über diesen Widerspruch zuweilen in die Niederungen gemeiner Intellektfeindlichkeit abstürzt. Das Erkennen von Musik wird dann überhaupt für unmöglich erklärt und verflucht; und allein nur das Musizieren und Erleben von Musik wird als höchster und letzter Gerichtshof für unsere Urteile über Musik zugelassen.

Die Konsequenzen sind von realer Peinlichkeit: jeder, der sich seinen musikalischen Geschmack in der Suada von Musiken, die uns heute erbarmungslos umstellt, noch nicht gänzlich hat verderben lassen, hört die Überlegenheit der Kleinen Nachtmusik über die Serenaden Boccherinis und über die Schnulzen eines Elton John; aber unser Geschmack streckt die Waffen sowohl seiner Begriffe wie seiner Worte, wenn er befragt wird und Rede und Antwort stehen soll, wie er denn zu seinem Vorzugsurteil über Mozarts dritte Dimension gekommen sei.

Und hilflos und wortelos erfährt er sich, wenn ihn ein Jünger der heutigen Unterhaltungsmusik mit der gängigen These konfrontiert, Mozarts Kleine Nachtmusik sei auch nur Unterhaltungsmusik und noch dazu eine von gestern, und die von heute könne daher nicht von schlechteren Eltern sein als die von gestern. Zweifel befallen den Geschmack des Kenners der Tradition: womöglich verdankt sich das von der Geschichte gefällte Urteil, Mozart sei über Boccherini und vielleicht auch noch immer über James Last zu stellen, lediglich den wohlgepflegten Projektionen und kollektiven Autosuggestionen der bürgerlichen Musiktradition. Wer weiß, vielleicht gehört Mozart zu den großen und genialen Sophisten der Musikgeschichte, zu den Täuschern und Blendern, zu denen manche Musikkritiker zum Beispiel Richard Strauss immer schon zählten. Mit äußerster Raffinesse überliste uns also die Kleine Nachtmusik stets wieder mit unlauteren Mitteln und faulen Tricks. Ihre Unschuld wäre Schein und nur gespielt, und wohlverdient wäre daher ihr heutiges Schicksal in den Niederungen der musikindustriellen Gegenwart, in der sie an jeden Ort und Anlaß prostituierbar wurde und als „Mozart-Fun für Mozart-Fans“ dargeboten, verkauft und genossen wird.

Hören wir also Mozarts Kleine Nachtmusik uns lesen wir ihren Notentext mit, oder legen wir ihre Noten aufs Pult und spielen, nicht ihre Noten, sondern ihre Klänge, so verknüpfen wir also eine Folge von Klängen mit einem Schwarz-Weiß-Film von Notenköpfen und finden uns dabei dennoch keineswegs von jenem Wissen erleuchtet, das uns befähigte, über den Wert der gehörten und gespielten Musik objektiv zu befinden. In gleicher verknüpfender Weise verhalten wir uns ja auch bei den Delikatessen Boccherinis und verhielten wir uns bei den Ergüssen eines Elton John oder den Abtanzungen eines Michael Jackson. Und selbstverständlich findet jeder Geschmack nach seinem Belieben an seinen Notentexten, was er zuvor an seinen Evergreens zu hören und zu lieben gelernt hat. Der Notentext wird zur Projektionsfläche subjektiver Geschmackspräferenzen, er soll uns die Erklärungsgründe für unser stets auswählendes und wertendes Verhalten zur Musik liefern. Damit aber überfordern wir ihn und uns, denn ein Notentext ist lediglich ein graphisches System appellativer Symbole, das uns einen Plan an die Hand und an das Gehör gibt, um eine bestimmte musikalische Handlung auszuführen. Und bis zum heutigen Tag ist diesbezüglich die nicht mehr weiterzuentwickelnde universale Notenschrift der abendländischen Tradition von unübertrefflicher Dignität und Verbindlichkeit, denn sie vollendet das symbolisierende Stenogramm einer rationalen musikalischen Hieroglyphen-Schrift, die uns als Handlungsanweisung für das kollektive Musizieren einer vernunftrationalen mehrstimmigen Musik seit spätestens dem 16. Jahrhundert dienen sollte – sie erleichtert bekanntlich auch das Hören von Musik mit komplexeren Klangbeziehungen.

Keineswegs aber enthält die Notenschrift das fertige Werk oder gar dessen Abbild, sie ist nicht das fertige Nachbild der Musik, nicht ihr fertiges Resultat und auch nicht das Original des Werkes, sondern einzig und allein das Vor der Musik, ihr Plan und vorgeschriebenes Konzept, das Willensnotat eines Komponisten, der ein reales Klanggebäude aufrichten lassen möchte. Und dieses Willensnotat ist unfehlbar und eindeutig nur hinsichtlich des Notats, nicht hinsichtlich seiner Ausführung. Die Aufforderung an den Musiker, nur zu spielen, was in den Noten stehe, ist daher so klug wie die Aufforderung an einen Autofahrer, beim Schild Einbahnstraße nur das zu tun, was auf der Tafel stehe. Ein notierter Dreiklang gibt mir durch seine notierte Lage zu erkennen, wo ich ihn spielen soll und wo ich ihn höre; nichts aber sagt er mir über das Wesen des Dreiklanges noch auch etwas über seine Funktion im Ganzen des Musikstückes, dem er angehört.  – Es ist übrigens nicht zufällig, daß sich die kalligraphische Vollendung der rationalen Hieroglyphenschrift des christlichen Abendlandes bei Bach vollendete. Schon die Autographe Beethovens sind als musikalische Handlungsanweisungen wertlos und dienen lediglich dem historistisch und ökonomisch erzeugten Kult an Autographe, Erstdrucke und ähnliche Reliquien, um den Gestopften aller Herren Länder eine pervertierte Geldfreude an den verdinglichten Dingen der Musik zu verschaffen.

Daß in der Geschichte der Musik dennoch die Notentextur und vor allem das Autograph und der Urtext in den Rang des Werkes an sich, in den Ort, wo die Kleine Nachtmusik ursprünglich wohne und lebe, aufsteigen konnte und mußte, läßt sich durch einen Vergleich mit der Architektur veranschaulichen. In der Architektur verschwinden die Pläne ihrer Gebäude in den Archiven, und kein Kunsthistoriker von mittlerem Verstand käme auf den Gedanken, aus dem Studium von Bauplänen die ästhetischen Unterschiede der Kathedrale von Chartres und des Opernhauses von Sydney erschließen zu können. In der Musik aber verschwinden deren Gebäude bekanntlich mit dem letzten Ton jeder Aufführung und jeder Anhörung, ihre Pläne müssen also aufbewahrt werden, und deren Schrift bleibt gleichsam als eines Ursprungs Zeugin stehen, die sich mit dem von musikalischer Urrealität verwechseln läßt. Bleibt aber die Schrift stehen, so müssen die Autographe und Erstdrucke stets wieder ediert, restauriert, gedruckt, faksimiliert, bearbeitet und verurtextet werden, denn das Aufrichten und Ausführen der Klanggebäude soll wiederholt werden, und allein aus diesem Junktim von symbolisch notierter Vorschrift einerseits und kulturell eingeübtem Wiederholungsappell andererseits entstand das Vorurteil, wir hätten am Notentext nicht ein Vor der musikalischen Handlung, sondern das fertige Nach der Musik vor uns, wir hätten es nicht mit dem Vorzustand, sondern mit einem fertigen End- und Originalzustand von Musik zu tun.

Um zu einem wirklichen Wissen über die dritte Dimension der großen Musik durchzudringen, müssen wir daher eine Perspektive jenseits unserer liebgewordenen Fetischisierungen der sogenannten „Quellen“ der Musik aufsuchen, egal ob es sich um die Originalia von Noten, Handschriften, Instrumenten, Instrumentalklängen usf handelt. – Auch die unübertreffliche Notenschrift des christlichen Abendlandes ist nicht jene gesuchte Begriffsschrift der Musik, die sich als Algebra ihrer absoluten Werthierarchien lesen ließe.

Wohnte der Geist der Musik aber real ihren Autographen, Erstdrucken und Urtexten bei, dann bliebe uns als zielführende Methode, zur dritten Dimension von Mozarts Kleiner Nachtmusik vorzudringen, letztlich nur eine einzige und zugleich wahrhaft tollkühne: wir müßten uns in Papierwürmer verwandeln, die imstande wären, sich durch die originalen Notenköpfe der Autographe und Erstdrucke hindurchzufressen, ohne sie zu zerstören, um an den vernehmbaren Fressklängen eine letztgültige Geschmacksoffenbarung über die Substanz der genossenen Musik zu empfangen. An einer wirklich von innen her vernommenen und verzehrten Musik, die wir folglich auch in unserem Innersten wiedergekäut hätten, würden uns alle Dimensionen und Werteskalen der Musik klar und deutlich werden.

Ob man uns erziehen möchte, von diesem Glück beim Verzehren von Mozartkugeln zu träumen, bleibe für heute unerörtert.