Categories Menu

009 Musik ohne Wunder

Juni 2000

Spätestens seit dem 20. Jahrhundert präsentieren sich viele unserer Konzertprogramme als rasanter Gang durch das Museum vergangener Musik. Ein Klavierabend, der uns von Scarlatti über Beethoven und Chopin zu Liszt und schließlich über Rachmaninow und Skrajbin zu Bartok und vielleicht noch zu Webern führt, ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Wie dem Hörer bei dieser Jagd durch Epochen- und Individualstile zumute ist, hat sich offensichtlich noch niemand gefragt. Als habe uns irgendjemand davon überzeugt, der Konzert-Stil unserer Epoche könne nur mehr die summa convoluta aller vergangenen Stile sein.

Da nimmt es nicht wunder, wenn wir die zeitgemäße pädagogische Forderung bereits an junge Pianisten vernehmen, sie mögen uns ihren Parcour durch die Musikgeschichte in modo moderato vorführen, auf daß wir uns dabei wie Reisende wohlfühlten. Und da heutzutage auch schon die Wissenschaft nur mehr als unterhaltsame öffentlichkeitsfähig ist, darf sich auch jene Musik, die sich einst als Kunst einer autonomen Wahrheit und ihrer Geheimnisse verstand, selbstverständlich nicht zieren und verschließen. Warum soll uns ausgerechnet der Konzertsaal für unser gutes Geld um eine gute Unterhaltung betrügen dürfen?

Das Konzert als Stilmarathon ist ein vergiftetes Geschenk des 19. an das 20. Jahrhundert. Die notwendige Selbsthistorisierung der Kunstmusik nach Beethovens kairos erzwang auch den Aufstieg der ehemaligen Musikanten und Virtuosen in den Rang von universalen Musikern als neuen Leitfiguren der Musikkultur. Deren kanonische Geschmacksbildung formierte sich im Reich der Klaviermusik zunächst bekanntlich um die Exegese der beiden Testamente großer Klaviermusik: des Alten in Bachs Wohltemperiertem und des Neuen in Beethovens Klaviersonaten. Der vollendete Schwanengesang der großen romantischen Klaviermusik kam hinzu, und damit verfügte die bürgerliche Musik und Pädagogik über jenes Pantheon an Tradition, von dessen geheimnisvoller, weil immer noch verborgener, unwiederholbarer und nicht fortsetzbarer Authentizität noch heute die besten Pianisten zu uns sprechen, wenn sie die Wahrheit ihrer Exegese nicht durch Selbstdarstellung und nicht durch Anbiederung an die Wohlgefühlwünsche des heutigen Event-Publikums verraten.

Vergiftet wurde das Geschenk, indem das kanonische Pantheon der Tradition das Opfer eines „wissenschaftlichen“ Historismus wurde, der uns seither einzureden versucht, man müsse jede Musik jeder Epoche „aus ihrer Zeit heraus verstehen“, denn dann werde man auch verstehen, daß allen Musiken aller Epochen der gleiche ästhetische Rang und Wert zukäme. Zwar warnte uns Karl Kraus vor diesem Märchen, aber die Versuchung dieser Verlockung ist offenbar unwiderstehlich: in unseren Tagen pfeifen daher alle Kulturspatzen das bekannte Lied von den Dächern unserer Zeit: stets und immer lebe die Menschheit in einer Zeit großer Kunst, folglich lebe sie immer in einer großen Zeit, folglich sei auch aktuelle große Musik großer Männer immer um uns. Als ob sich große Stile wie Krawatten beim Herrenschneider der Geschichte anfertigen ließen.

Der wissenschaftliche Historismus zeugte einen subjektiven Geschmacksidiotismus, dem seither auch die Musikpädagogik folgt, wenn sie einen objektiven Wertekanon von Musik in der Gestalt einer chrono-logischen Authentizität selbst noch unter den Extrembedingungen des 20. und 21. Jahrhunderts und ihres ästhetischen Schismas in Alte, Neue und Unterhaltende Musik weiterzutreiben versucht. Zwangsläufig mutiert dann der universale Musiker und Pianist, den das 19. an das 20. Jahrhundert übergab, in jenen orientierungslosen Geschmacksvagabunden der Gegenwart, der jeweils die Musik, die er gerade aufführt, für die beste aller möglichen hält. Nolens volens erhebt er damit sich selbst und sein Tun zum Ziel und Geheimnis der Musik; eine Selbsterhebung, die ihm zwar schmeichelt, und die über den Rücken der Stars unserer musikalischen Interpretenkultur mehrmals täglich abschaudern mag, ein Wohlgefühl aber, das die rächende Nemesis des kanonischen Geistes der Musik sogleich ereilt.

Wenn uns heute Pianisten das Wohlgefühltemperierte von Schostakowitsch so vorzuführen versuchen, als sei es das Wohltemperierte des 20. Jahrhunderts gewesen, dann müssen sie nicht bangen, einen Musikhistoriker zu finden, der ihnen diesen Wahn im Booklet der CD-Einspielung von Schostakowitsch’ gescheiterter Revitalisierung einer toten Form der Musikgeschichte bestätigt; auch nicht um einen Musikkritiker, der in seiner Zeitung seiner Begeisterung über den vermeintlich neuen Bach Schostakowitsch freien Lauf läßt. Denn diese drei Akteure der Musikkulturszene bestätigen hier nur einen längst schon unterschriebenen Vertrag unter Mitgliedern desselben Clans – eben jenes geschmacksnivellierten historistischen Bewußtseins, das der sogenannte wissenschaftliche Historismus des 19. Jahrhunderts in die Welt gesetzt hat, um uns seither mit seinem totalen Relativismus zum Narren zu halten.

Die großen Dinge der Geschichte, sei’s im Guten, sei’s im Schlechten, aus ihrer Zeit allein heraus verstehen und beurteilen zu wollen, bedeutet letztlich nur eines: sie in ihre Geschichte endgültig verabschieden wollen. Gulag und Holocaust aus ihrer Zeit allein heraus verstehen und beurteilen wollen, ist schon jenes Wortverbrechen, das sich selbst richtet. Einem Dodekaphonisten oder Serialisten, einem Aleatoriker oder Eklektizisten des 20. Jahrhunderts glauben, er habe einen neuen großen Klaviersatz für einen neuen großen Klavierstil gefunden, der freilich erst morgen seine Anerkennung finden werde, ist jene wissenschaftliche Dummheit, die dann meist auch noch stolz ist auf ihre skurrile Ästhetik.

Doch gilt auch umgekehrt: die großen Dinge der Geschichte nur aus unserer Zeit allein heraus verstehen und beurteilen wollen, bedeutet letztlich nur, sie für unsere Zwecke, die schon morgen gestrige sein werden, scheinendgültig zu vereinnehmen. Beethoven ist nicht ein noch unausgegorener Vorläufer Schönbergs, wie uns Adorno mitunter weismachen wollte; Schubert kennt noch nicht die Verzweiflungen, die den Komponisten des 20. Jahrhunderts zugänglich wurden, nachdem sich die gesellschaftlichen Voraussetzungen für eine universale Stilbildung im Reich der Musik auflösen mußten; schon der Anblick von Bahnsteigen und –geleisen hätte den ewigen Don Juan davon geheilt, sich in unseren Tagen nochmals als Heroe erotischer Verführungskunst ästhetische Unsterblichkeit ersingen zu müssen; und eine Händel-Oper als Interpretationsmuster für den Kosovo-Krieg in Anschlag zu bringen, gereicht nur der politischen Stammtischfolklore von Stardirigenten zur Ehre.

Selbst wenn ich um die Biographien und Sozialitäten aller Maler, deren Bilder mir in einem Museum binnen weniger Stunden begegnen, erschöpfend Bescheid wüßte, hülfe mir dies nicht, das ästhetische Wertepanorama der ausgehängten Gebilde auch nur zu ertragen, geschweige denn in mir zu einem authentischen, also wahrheitserfüllten Erlebnis auszutragen. Der absolvierte Schaumarathon wird mich daher zu Recht jedes Mal wieder wie einen geschlagenen Hund aus dem Museum jagen, weil ich mich ohne Gewissen einer Sache näherte, die ohne Wissen um den absoluten Wert ihrer Erscheinungen gar nicht erscheint. Und der vom Museumsbetrieb gedungene Museumsführer heitert mich wenig auf; er verhält sich nur den Konventionen des historistischen Clans konform: er wird uns gemäß seiner leicht popularisierbaren historistischen Ästhetik die Maler des 16. Jahrhunderts so vorbewerten und vorführen wie die aller anderen Jahrhunderte: was wir erblickten, wären die glorreichen Erscheinungen der gleichbleibenden unsterblichen Größe von ewiger künstlerischer Genialität in immer neuen Varianten und immer neuen Einzelgenies. Als fände der Prozeß der Geschichte im Garten der Natur statt.

Unter diesen Bedingungen unseres heutigen Verhaltens zu Kunst und Musik ist es daher fatal, wenn wir unseren jungen Musikern und Pianisten zumuten, sie mögen unsere Reisen Erster Klasse in die Musikgeschichte wohltuend und angenehm gestalten. Denn diese ästhetische Maxime nimmt weder die Vergangenheit noch die Gegenwart noch das Absolute von Musik als wahrheitsfähiger Kunst ernst. Sie gehorcht einer Anbiederung an die Beliebigkeitsästhetik des Musikmarktes, der noch ganz andere Reisen in die Musikgeschichte zu günstigen Preisen anbietet.

Natürlich möchten wir damit aus der Inzuchtästhetik unserer nationalen und lokalen musikalischen Ausbildungsstätten ausbrechen, die meinen müssen, sie verfügten über universale Normen einer Interpretationsästhetik für die Musik aller Epochen, weil sie ja schließlich dazu ausbilden, Musik so zu interpretieren, wie es sich gehöre, sie zu interpretieren. Aber das Unbehagen an der gängigen Symbiose einer totalen Spezialisierung des Musizierens einerseits und einer unreflektierten Fetischisierung der Musikgeschichte andererseits sollte uns weder zu jener Anbiederung noch zur pädagogischen Grausamkeit verführen, unseren besten Talenten vorzeitig die Flügel zu stutzen, noch ehe sie ihnen im erbarmungslosen Konkurrenzkampf des Musikmarktes gestutzt werden. Eine Musikkultur, die unsere besten Talente nicht als Adler musizieren und leben läßt, ist nicht den Millionengroschen wert, den wir in sie investieren.