050 Mars und Muse in der weltpolitischen Arena
September 2001
Wenn die Weltgeschichte sich anschickt, einen ihrer gordischen Knoten zu durchschlagen, um die Selbststrangulierung der Menschheit durch einen globalen Wertekonflikt zu vermeiden, erhebt seit Bestehen der westlich-säkularen Welt eine ganze Armada von Experten und Nichtexperten das Wort, um den freien Diskurs einer demokratischen Öffentlichkeit zu führen. Befragt wird alles, was Rang und Namen hat, und wäre die Profession der Befragten vom weltpolitischen Geschehen in den vormals fraglos normalen Zeiten auch so weit entfernt wie der Mond von der Erde. Die Namensmächtigen der Künste, der Kirche, der Wissenschaften, der Unterhaltungsimperien und Medien sondern ihre befragbaren Weisheiten ab, um der Öffentlichkeit – ein diffuser Deckname für die fragwürdig gewordene Stimme des Volkes – beizustehen mit Wortspenden, die jeder moderne Bürger benötigt, der sich im Gewühl der Meinungen eine sogenannte eigene Meinung über das Geschehen bilden möchte.
Auffällig die Ähnlichkeit dieses Geschehens mit dem Geschehen in einer Fußball-Arena. Während die Akteure auf dem Spielfeld sich redlich bemühen, im Fluß des Spieles von Sekunde zu Sekunde die nächste Tat zu vollbringen, den stets unberechenbaren Ball und Gegner berechenbar zu treten und zu beherrschen, um den aktuellen Antipoden nach weltweit bewährten Regeln der Fußballkunst auszuspielen und zu besiegen, ereignet sich zugleich auf den erhöhten Rängen der Zuschauer der Diskurs der Besser- und Eigentlich-Wissenden, das Denken und das Verlautbaren jener, die alles einsehen und übersehen, schon weil sie über eine vermeintlich bessere Übersicht verfügen und daher wissen, wie alles kam und kommen mußte und wie es nun eigentlich weitergehen müßte. Obwohl keiner der Zuschauer aktiv auf dem Feld des Kampfes tätig, und obwohl keiner das Gesetze-Buch des Spiels und seiner Geschichte aus dessen Begriff deduktiv niedergeschrieben hat, so achtet sich doch jeder als höchstrangigen Beurteiler und allmächtigen Strategen, als Weisen und Ratgeber, und dies umsomehr, je näher ihm das Geschehen in der Arena an Herz und Nieren geht. Doch damit ist die Reichweite der Analogie zwischen Weltpolitik und Weltfußball auch schon zu Ende.
Während nämlich für den Fußballfreund das Fußballspiel immer ein bedrängender Ernstfall bleibt, und das Spiel seiner Mannschaft ihm stets so nahe wie nur möglich geht, werden die Meinungen der modernen Öffentlichkeitsexperten über politische Ernstfälle meist um so all- und altklüger, je ferner die aktuellen Weltkrisen sich vollziehen und sich auch zeitlich fernab in ein Vergessen verdrängen lassen. Und die Weltpolitik wird erst dann zum eigenen existentiellen Ernstfall, wenn Gott Mars, etwa an einem Dienstag, an die Pforte der Weltgeschichte klopft.
Urplötzlich verschwindet die sonst normale Verhöhnung des Politischen in den vielen politikfeindlichen Szenen der modernen Kultur, und auch die sonst unmißverständliche Verachtung des Politischen durch Künstler und Künste ist plötzlich wie weggeblasen. Die hehre Meinung, die Leistungen der Künste verhielten sich zu denen der Politik wie der Endzweck der menschlichen Existenz zu den dienenden Mitteln bestmöglicher Rahmenbedingungen, gerät ins Wanken.
Die sonst eher politikverdrossenen Gemüter der ästhetischen Welten, die meinen, ihre hehre Meinung vom Endzweck Kunst bestätige sich an und in der Geschichte selbst, von der doch schließlich, wenn ihre Schlachten geschlagen, weiter nichts übrigbleibe als nur die Monumente der Kunst und der Kultur, beginnen zu ahnen, daß es in der Geschichte der Menschheit doch noch etwas Höheres geben könnte, um das es gehen könnte. Während daher die modernen Politiker zu aktuellen Ereignissen der Künste kaum noch Stellung nehmen, auch dann nicht, wenn diese eigens als Skandale zur Erregung der öffentlichen Aufmerksamkeit inszeniert werden, äußern sich die Künstler aller Künste und Szenen sogleich zu aktuellen politischen Ereignissen, wenn sie auf dem medialen Tandem von ihrem zugeteilten Journalisten befragt werden. Sie äußern sich als prominentes Sprachrohr einer Öffentlichkeit, die den Menschen als Konsumenten unendlicher Kulturprodukte plötzlich wieder als Menschen entdeckt, sie leistet nun öffentlichen Beistand, ähnlich wie in der Vormoderne der Klerus der Kirche beratend und helfend in Krieg und Not, in Seuchen und Katastrophen Beistand leistete.
Dabei decken auch die Äußerungen der Künstler das ganze Spektrum der aktuellen Meinungen zur Weltlage ab: von der eingestandenen Ratlosigkeit und Unwissenheit, über die stets aktuellen Mitläufermeinungen auf ganz rechter bis ganz linker Linie, von der gemütlich österreichisch bis zur kirchlich überzeitlich beabsichtigten Neutralität, und auch die psychiatriereifen Äußerungen esoterischer Einzelgänger fehlen nicht. Ganz wie es sich gehört für eine offene pluralistische Gesellschaft, die in der vermeintlich einzig selig machenden Perspektive von Poppers kritischem Rationalismus keine Wahrheit als verbindlich und endgültig anerkennen sollte und könnte, die sich aber gleichwohl durch sich selbst – allein durch das Wunder des offenen Diskurses und seiner endlosen Konsensfindung – zum stets Besseren und Besten für die ganze Welt wandeln und entfalten könnte und sollte.
Sind die Bildner der öffentlichen Meinung aber stets auch deren Opfer, weil sie stets nur im Windkanal des aktuellen Zeitgeistes agieren können, dann gerät auch dieses angenehme und vertraute Gleichgewicht der modernen Gesellschaft ins Wanken, wenn der Zeitgeist der modernen Welt vom Zorneswirbel des Weltgeistes erfaßt wird. „Nichts ist mehr so, wie es früher war“, alles ist wie hinfällig geworden, was eben noch unschuldig schien, alles ist wie mitschuldig geworden – dies ist die Stimmung und Reaktion der ersten Stunde. „Das Leben geht weiter“, lieber Erdenbürger, bleib doch bei deiner Art, deine Erbsen zu zählen, auch wenn die Erde unter dir erbebt – dies ist die Stimmung und Reaktion der zweiten Stunde. Eine Trauerminute vor jedem Fußballspiel muß doch genügen; alle Raverparties zu Friedenskonzerten umtaufen, das muß doch genügen; alle Horror- und Katastrophenfilme ausblenden, das muß doch genügen; alle Popsongs, die von fliegenden Menschen singen, nicht mehr auf die Menschheit loslassen, das muß doch genügen.
„Liebe, Frieden und Eierkuchen“ lautete die zynische Botschaft der in kollektivem Schwachsinn versinkenden Unterhaltungsmusik und ihrer technoiden Klientel in einer suizidalen Spaßkultur – es war das Menetekel an der betäubten Wand, deren Zeichen niemand verstand.