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051 Das Fanal

Oktober 2001

Das Fanal von New York und Washington hat das säkulare Konzept einer multikulturellen Vereinigung der Menschheit mitten ins linksgrüne Herz getroffen und das laizistische Prinzip seiner falschen Naivität geköpft. Dabei hatte das Programm so schön und menschenfreundlich gelockt und gelautet: alle gutwilligen und modernesuchenden Menschen aller Kulturen und Religionen tauschen ihre guten und schönen Seiten und Sachen aus, um auf dem Pferd des multikulturellen Dialoges in die triumphale Zukunft einer versöhnten Weltkultur hinüberzureiten.

Und manchenorts schien schon geglückt, worum die Politik noch rang, woran die Gesellschaft noch zweifelte, und wovon die Religion erst noch träumte. Künstler und Intellektuelle engagierten sich als Reservepolitiker, um fremde Kulturen einander näher zu bringen und deren Kollektive und Individuen auf den Geist einer offenen Moderne einzustimmen. Wenn nur jede Kultur ein Stück von sich ablasse, werde man sich irgendwo in der goldenen und selbstverständlich säkularen Mitte treffen – bei Tanz und Spiel, bei Liedern und schönen Worten. Die völker- und kulturenverbindende Kraft der Künste, die gemeinverständliche Sprache der Musik, die weltumspannende Macht der Unterhaltungsimperien mit dem Film an der Spitze, die alle Welt interessierende Welt des Sports, sie alle wurden wie säkulare Gottheiten im Namen „der Menschen“ beschworen, den Tag eines ewigen Weltfriedens im Zeichen einer befreiten Kultur schaffender und spielender Gesellschaften anbrechen zu lassen.

Hinter diesem Programm einer gegenseitigen kulturellen Absorption stand allerdings der säkulare Pate eines kaum verhüllten, luzid antireligiösen Gedankens. Im Amalgam der Weltkulturen zu einer einzigen würden deren religiöse Gründe und Sümpfe von selbst austrocknen, und auf diesem neuen und planen Grund würde daher das große Vereinigungswerk einer befreiten, befriedeten und gleichmäßig reichen Welt wie von selbst sich erbauen.

Nach dem augenöffnenden Fanal von New York und Washington ist nun die Depression der globalen Kulturvereinigung tief, die Ernüchterung bitter, die Enttäuschung untröstlich, die Ratlosigkeit mit Händen zu greifen. Als ob die ganze bisherige Arbeit vergeblich und hinfällig gewesen wäre, als ob sie kaum und nur illusionär an der Oberfläche der Kulturen gekratzt hätte. Als ob hinter den Geschichten von 1001 Nacht eine noch ganz andere Geschichte und Nacht, eine bedrohlich unbekannte und kulturell unschickliche, aufgeschrieben und vorgesehen sei.

Der moderne Intellektuelle und Künstler speziell europäischer Provenienz erfährt somit, ob er es weiß oder nicht, daß sein säkularer und laizistischer Kulturbegriff an den globalen Pranger gerückt wurde – ganz wie von selbst. Und die Gründe dafür sind nicht luzid, sondern die rationalen einer nur vermeinten säkularen Schläue.

Als er nämlich ausrückte, um seinen offenen Kulturbegriff zu globalisieren, vergaß der homo modernus, eine eindeutige Frage an sein Tun eindeutig zu beantworten: ob er als Agent einer menschheitsvereinenden Kultur in der Rolle des Überchristen oder in der Rolle des Antichristen erfolgreich sein werde.

Sein zweideutiges Spiel ging daher nur so lange gut, als er glauben konnte, über den Glauben der Religionen nicht mehr nachdenken zu müssen, weil sich dieser ohnehin im Nichtglauben der modernen Gesellschaft neutralisieren und im Eintopf der Kulturen verkochen werde. Von der weltgeschichtlichen Asymmetrie der Weltreligionen überfordert, pflegt daher der religiös nichtreligiöse Spatzengeist der europäischen Intellektuellen und Künstler seit Nietzsche selbstverliebt vom Tod der Metaphysik und vom Ableben Gottes zu schwafeln.

Seinen laizistischen Prinzipien gemäß überantwortet er das Religiöse bei sich zuhause jener privaten Beliebigkeit, die er zugleich als Regressionsphänomen verachtet; in der Fremde aber entdeckt er das Religiöse als interessantes Ornament am öffentlichen Kragen von neugierig zu beäugenden und entweder ethnologisch zu rettenden oder gleichberechtigt anzusprechenden Kulturen, und versteht dann nicht, warum diese nun ausgerechnet ihm an den schein- oder nichtreligiösen Kragen springen.

Dunkel bleibt ihm, wie es möglich sein kann, daß in den Vereinigten Staaten von Amerika einhundertdreißig Religionsgemeinschaften zugelassen sind und dennoch der amerikanische Präsident seinen Amtseid auf die Bibel leistet. Unverständlich bleibt ihm, wie sich die öffentliche Teilnahme der christlichen Religion am politischen Leben mit den säkularen Prinzipien einer modernen egalitären Religionspolitik verbinden läßt. Und dies, obwohl es jenseits des großen Teiches keinen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen, keine Theologieprofessoren als Staatsbeamte gibt. Sollen wir dies für eine religiöse Folklore hartnäckiger Sektierer oder für die Marotte von schwärmerisch gebliebenen Auswanderungseuropäern halten?

Auf den hellen Kern reduziert lautet die Antwort: Amerika wurde nicht in ebenso verheerender Weise wie Europa das Opfer einer über sich selbst nicht aufgeklärten Aufklärung. Die Trennung von Religion und Staat erfolgte daher in den Vereinigten Staaten von Amerika nicht mit der Zielvorstellung einer Verdrängung der Religion aus dem öffentlichen Leben, sondern um ihr jene Freiheit verschaffen, die sie für immer von politischer Gewalt befreien würde, um ihr freies religiöses Leben im und für das ganze Leben der Gesellschaft leben zu können.

Daher ist es nur Amerika und einer von ihm geführten Allianz möglich, was den Europäern unmöglich geworden: von der Notwendigkeit einer aktiven Religionsfreiheit auch Religionen zu überzeugen, die von der Notwendigkeit dieses modernen Prinzips nicht wirklich wissen können, weil sie sich noch unterwegs in ihrer vormodernen hierarchischen Ritualgeschichte befinden. Sie wissen noch nicht, und die europäische Moderne weiß es nicht mehr, daß nur ein auf gelebter religiöser Freiheit gegründetes Individuum in der Zukunft der ewigen Moderne einer vereinten Menschheit wird überleben können.

Eine säkulare und radikal religionsbeliebige Moderne hat kein Verständnis mehr für den Grund und für das Wesen jener Freiheit, die seit Beginn der Neuzeit über die Menschheit gekommen ist, um eine neue hervorzubringen.

Es versteht sich, daß daher nicht Europa, sondern Amerika seit Beginn des 20. Jahrhunderts die Führung der Agenden des Weltgeistes übernehmen mußte, um das monumentale Projekt einer von Armut und Gewalt zu befreienden Menschheit voranzutreiben. Verständlich auch das ambivalente Eingeständnis der Europäer diesbezüglich, ihr schizophrenes Hin- und Hertaumeln zwischen Amerikaverachtung und Amerikabewunderung.

Auch das Salzkammergut gehört zu dieser Welt, und wohl deshalb ließ sich kürzlich eine österreichische Schriftstellerin, tief erschüttert vom multikulturellen Fiasko, aus diesem geborgensten aller österreichischen Teile der westlichen Hemisphäre zu Fragen der aktuellen Weltkrise öffentlich vernehmen. Nach einigen Ausbrüchen geballter Ratlosigkeit: Gefühle seien doch international, Religionen etwas, worüber man nicht wie über Politik diskutieren könne, weil Koran und Bibel keine rationalen Werke seien, die Religion überhaupt das Reich der Regression für frustrierte Menschen wäre, ließ sie doch noch mit einer sensationellen Frohbotschaft aufhorchen. Da wir Menschen uns nämlich von den Affen genetisch nur um zwei Prozent unterschieden, folglich die Menschen untereinander noch weniger, sei das ganze aberwitzige Problem des aktuellen kulturellen Weltkonfliktes unserer wissenschaftlichen Forschung und deren Laboren zu überantworten. Da ging wohl ein letztes Aufatmen durch die Welt des stets erfolgreich minderbemittelten österreichischen Kulturlebens. Kaum jedoch in Mekka und Kabul, und auch nicht in New York und Washington, weil das Zeugnis einer bekennenden Anhängerin des modernen wissenschaftlichen Aberglaubens von den islamischen und christlichen Eliten der aktuellen Weltmächte nicht als gesprächs- und menschenwürdig akzeptiert werden kann. Mit einer Affenreligion kann daher die moderne multikulturelle Schickeria auch dann nicht international Furore machen, wenn sie von einem geistigen Ort her spricht, an dem es operettenbekannt immer lustig ist, gut lustig zu sein.