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052 Das religiöse Opfer im Rausch der Phantasie

Oktober 2001

Die ästhetische Verherrlichung von Gewalt und Verbrechen, von Rausch und Vernichtung aller Tabus ist in der Kultur der westlichen Gesellschaften in den Rang eines selbstverständlichen Ritus aufgestiegen. Künste und Medien, allen voran der Film, die Musik und die Literatur huldigen dem Negativen als einem der prominentesten Stofflieferanten, die im Kampf um die Gunst der Märkte und ihres Massenpublikums als Erfolgsgaranten einsetzbar sind.

Das tägliche Programm einer stattlichen Anzahl von Fernsehkanälen vollendet diese Spirale der ästhetischen Verherrlichung des Negativen sowohl quantitativ wie auch als neue Qualität, da die neue Herrlichkeit der ästhetischen Entgrenzung ein unverzichtbarer Teil des modernen Lebens werden muß, wenn ein ubiquitäres Medium die einst trennende Distanz zwischen Leben und ästhetischer Sphäre tilgt. Der moderne Mensch wird als homo privatus Teilnehmer einer Kultur, die ihre Freiheit als entgrenzte mit unaufhaltsamer Gewalt und flächendeckend exekutiert.

Wird eine Kultur dieser einzigartigen Art von einem Gewaltakt getroffen, der nicht der ästhetischen Sphäre, sondern der realpolitischen eines global mächtigen Terrorismus entstammt, erscheint urplötzlich die bislang selbstverständliche ästhetische Verherrlichung von Gewalt und Verbrechen, von Rausch und Vernichtung aller Tabus in einem unerwartet neuen Licht.

In einer ersten panischen Reaktion werden Programme und Stoffe zensuriert, und alle Filme mit einschlägigem Inhalt ziehen sich verschämt aus der öffentlichen Szenerie zurück. Auch in den Songs der Popmusik darf plötzlich nicht mehr zur Tötung prominenter und nichtprominenter Menschen aufgerufen werden; nicht mehr dürfen die „besten Songs aller Zeiten“ über regnende Menschen singen, und das ganze Repertoire tabuloser Exzesse globaler Stars und Gruppenkünstler gerät plötzlich in den Verdacht, nicht ganz hell auf der Platte gewesen zu sein, als es der Menschheit zuliebe eine Palette von Produkten erbrach, die von ihren Anhängern wie Brosamen vom Tisch der Göttlichen aufgelesen werden.

Was im Augenblick des kollektiven Erschreckens auch nur den Anschein, und wäre es ein ästhetisch-künstlerischer, einer Befürwortung des terroristischen Verbrechens erweckt, wird tabuisiert, und dies inmitten einer tabulosen Kultur und Gesellschaft. Als hätte die säkulare Gesellschaft nochmals die Chance erhalten, kraft einer Auszeit durch selbstverordnete Askese, in der jedes Kulturgemetzel einige Tage innehalten sollte, weil ein reales Gemetzel den Bestand der Gesellschaft real bedrohe, die Erfahrung eines wirklich absoluten Tabus zu machen. Die Unerfüllbarkeit dieses Wunsches, sich zeigend schon in den nur lückenhaft und pseudosymbolisch ausgeführten Selbstbeschränkungen des Kultur- und Medienbetriebes, führt daher in der modernen Gesellschaft zu einer wahrhaft erschreckenden Wahrheits- und Selbsterkenntnis. Sie weiß nun auf einen und durch einen globalen Gewaltschlag, daß sich ihre eigene geschichtliche Zeit von der rituell-hierarchischen Zeit der religiös kollektiven Gesellschaften nicht um gemütliche sechs Jahrhunderte, sondern um ein ganzes säkulares Lichtjahr entfernt hat und immer noch weiter und rascher entfernt.

In diesem zunächst kalten säkularen Licht regrediert daher die anfängliche Selbstzensur der westlichen Kultur, in der für einen hinfälligen Augenblick die Möglichkeit einer spirituellen Umkehr erwägbar scheint, in eine sogleich folgende Selbsterhebung, die mit kaum unterdrückter Eitelkeit stolz darauf hinweist, daß die einschlägige Phantasie nicht weniger Produkte von Film, Musik und Literatur die terroristischen Akte nach Ort und Handlung, nach Idee und Ausführung exakt vorweggenommen habe. Die säkulare Phantasie der modernen Welt sei immer schon weiter und größer als alles, was die rituelle Märtyrerphantasie religiöser Welten sich ausdenken könne; aber diese dachte nicht nur aus, was jene nur mehr ausdenkt, und diese Asymmetrie auszudenken, ging über das religiös begrenzte Pouvoir hinaus, mit dem eine modern entgrenzte Phantasie, die sich in einer nur mehr säkularen Welt grenzenlos fadisiert, ihre religionslosen Schulden begleicht. Daher hielten die einen die medial erblickte Katastrophe zunächst für eine prächtige Show simulierter Gewaltschönheit, die anderen für eine gelungene Werbeselbstinszenierung eines Fernsehsenders, und nur ein paar ewige säkulare Nörgler für einen schlecht aufgemachten Science-fiction-Film.

Die kulturelle und mediale Selbstzensur erfolgte daher – besonders in europäischer Perspektive – zuletzt nur mehr im Namen eines Ferngedenkens an die sogenannten Nächsten, im Namen eines „Respekts vor den Ermordeten“, in welchem Respekt das egoistische Gedenken an die Möglichkeit, jederzeit selbst der nächste sein zu können, jederzeit mitschwingt.

Als hätte die Unfähigkeit der modernen Gesellschaft zu kollektiver Trauer noch eines Beweises bedurft; ist der Tod in der ästhetischen Verherrlichung von Gewalt und Verbrechen zu einem banalisierten Unterhaltungsmittel kollabiert, ist an bindende kollektive Riten und Symbole, aus welchen die hierarchisch-religiösen Gesellschaften ihre Lebenskraft beziehen, nicht mehr zu denken.

Der moderne Konsument der ästhetisch verherrlichten Gewalt denkt bei seinem Genuß der einschlägigen Produkte an nichts und an seine Lust dabei; also an diese zwei: an den verschwundenen eigenen Tod und an eine ästhetisch aufbereitete und distanzierte Gestalt des Todes, die stets und beglückend nur anderen Menschen widerfährt. In dieser Hülle von Schadenfreude kraft einer entfesselten Todesfreude hausend, erfährt er daher mit gespannter Begeisterung die Ermordung von Menschen, die Zerstörung von Metropolen, den Untergang von Kulturen; und wenn eines Tages der reale Tabubruch in Gestalt eines globalen Verbrechens in diese unterhaltungsgespannte Welt einbricht, wird auch dieser Bruch nur von wenigen in der Realität selbst erfahren, obwohl ausnahmslos alle die medial vermittelte Erfahrung des Geschehens zuletzt als unverzichtbaren Teil ihres eigenen Lebens zu bewältigen haben – als Embryo eines entstehenden Weltgewissens.

Mit diesem lebt in der säkularen Welt der moderne Todesspaßbürger, ein Teilhaber vieler autonomer Welten, einträchtig zusammen; schon deshalb ist im Sog des globalen Terrors nicht eine Umkehr oder Abkehr vom ästhetischen Todesspaß am Todesleben in Film, Musik und Literatur zu erwarten – eine Abkehr vom täglichen Sammelerlebnis unzählbarer Morde, Vergewaltigungen, Folterungen und anderer Greuel und Tabubrüche, die seinen film- und ferngesehenen Tag und Abend so gemütlich machen wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit, denn diese Dauer-Events eines vollbrachten Abwechslungsreichtums sind als Ferment des modernen Lebens selbstverständlich und unverzichtbar geworden.

Ebenso selbstverständlich aber ist dieser säkulare Ritus, in dem der Opfergedanke der alten Religionen seine säkulare Pervertierung und Auflösung erfährt, um Welten ferngerückt vom Ritus und Leben einer religiösen Welt und Kultur, die sich nochmals aufrichtet, ehe sie vom Moloch einer säkularen Welt und Kultur verschlungen wird.

Weil im Basisprinzip der modernen Welt irreversibel vorgesehen ist, daß sich alle Bereiche des Lebens in freier Autonomie nebeneinander versammeln und differenzieren sollen, muß die Ethik der säkularen Demokratie auf allen Ebenen der Gesellschaft eine dem fundamentalisierten islamischen Prinzip genau gegenteilige Vermittlung von Individuum und Kollektiv, von Universalität und Singularität festhalten und weiterführen. An diesem kritischen Punkt der universalen Asymmetrie, ist er einmal in Aktion gebracht, muß daher in beiden Kulturen eine radikale Besinnung auf ihre universale Differenz und eigene Identität erfolgen, widrigenfalls der kriegerisch zugespitzte Konflikt ohne Sinn und Ziel geführt wird. Wohl müssen sich die Kontrahenten realpolitisch stets wieder auf provisorisch haltbare Übergangs- und Zwischenszenarios einigen, realgeschichtlich jedoch reden sie im Prinzip und in der gelebten Realität ihrer Welten nicht nur aneinander vorbei, sie handeln auch aneinander vorbei; und dies mag in der Welt der Phantasie grenzenlos interessant sein, nicht aber in der weltgeschichtlichen Realität einer Menschheit, die sich als eine finden soll und muß.

Die universale asymmetrische Differenz ihrer Kulturen muß radikal und fundamental behandelt werden; und nichts anderes geschieht seit dem Niedergang des osmanischen Reiches, in dessen Gestalt der Islam zum letzten Mal in den Rang einer zentral geeinten und geführten politischen Weltmacht aufsteigen sollte.