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053 Die verklärte Insel

Oktober 2001

Jede Musik, gleichgültig ob große oder kleine, sei letztlich nur als Ausdruck ihrer Zeit wirklich und wahrlich zu verstehen. Diese musikphilosophische Meinung ist am Beginn des 21. Jahrhunderts in den Rang einer selbstverständlichen Norm unseres Denkens über Musik aufgestiegen. Fast jede Deutung von Musik und Musikgeschichte erfolgt unter diesem Paradigma, denn nichts scheint selbstverständlicher als die Einsicht, daß auch die Musik nur als ein Kind ihrer Zeit das Licht einer stets geschichtlich werdenden Welt erblicken könne.

Und ebenso selbstverständlich vertrauen wir der gleichfalls paradigmatischen Meinung, daß jene Musik, die ihre Zeit überdauere und daher als große und zeitlose gehandelt werde, ihre Größe letztlich den Kraftcharakteren und Kraftakten herausragender Genies verdanke. Die Evergreens aller Epochen und Stile entsprängen daher letztlich und wahrlich einem unerschöpflichen Born immergrüner Genies, die als Ersatzgötter einer säkularen Welt zugleich die unendliche Güte besitzen, stets wieder in einer gottlos gewordenen Welt zu deren Tröstung einzukehren.

Dieser Wiederkehr des einen ewigen Genies in der Gestalt unendlich vieler, die zugleich stets andere wie auch gleichbleibende sein sollen, huldigt die Welt der Musik bis auf den heutigen Tag; und die meisten Musiker, Musikhistoriker und Musikjournalisten, gleichgültig welcher Stilrichtung und Musikpraxis anteilig oder zugehörig, opfern auf diesem Altar eines säkularen Mythos jeden Anhauch und Kitzel eines kritischen Nachdenkens wie Lemminge, die ihren Leitkulturböcken überallhin folgen, mögen diese auch bereits in den ewigen Jagdgründen angelangt sein, um auf den Wiesen einer ewigen fata morgana zu grasen.

Der universale Meinungssatz, daß die Musik nur als Ausdruck ihrer Zeit letztlich und wahrlich zu verstehen sei, enthält also einen Gegen-Satz, der den ersten Satz korrigiert und zerteilt. Die Wahrheit des Satzes besteht daher im Klartext aus zwei Sätzen, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lassen. Lediglich für das Schaffen der kleinen Musik gilt nämlich unüberwindlich, daß sie stets nur ein Kind ihrer Zeit gewesen sei und verbleiben werde; indes die große Musik aller Zeiten und Stile ihre jeweilig-eigene Zeit immer nur als Requisitenarsenal für Masken und Kleider benütze, weil die ewige List der Genies dieser bedürfe, um in der Verkleidung von Zeitstilen und Zeitgeistern den ewigen und immerwährenden Stil und Geist des ewigen Genies zu ewig herausragenden Evergreens von Musik auszubrüten.

Die zeitlosen Zugpferde der Pop- und Rockmusik, der Schlager- und Operettenmusik, der Walzer- und sonstigen Seligkeiten des Jazz und aller Volksmusiken aller Volkskulturen dieser Erde rangieren daher auf diesem ewigen Musikbahnhof einer ewigen Musikphilosophie, in deren Paradigma „jede Epoche unmittelbar zu Gott“ steht, ebenso friedlich wie harmlos neben den zeitlosen Zugpferden von „Barock“, „Klassik“ „Romantik“ und „Moderne“, um nur diese zu nennen in einer Welt, in der immerhin noch die Welten von vierzigtausend Musikdialekten lebendig sein sollen.

Dieses gemütliche Musik-Paradigma, das scheinbar alle Fragen über das Verhältnis der Musik zu ihrer und der menschheitlichen Geschichte für immer beruhigt und befriedet hat, ist aber lediglich die späte Frucht des Musikdenkens des 20. Jahrhunderts, und daher muß man nicht Prophet sein, um prophezeien zu können, daß unser aktuelles Meinungsparadigma die Früchte seiner Arbeit so lange genießen wird, bis es an diesem Genuß zugrunde gegangen sein wird. Haben wir erst die selige Insel erreicht, die unser Paradigma ansteuert, das Land des totalen demokratischen Pluralismus gleichberechtigter Musikgeschmäcker, dann werden wir auch über einen vollendeten musikalischen Saumagen verfügen, der uns das unendliche Angebot verschiedenster musikalischer Speisen aus dem stets überquellenden Trog der Musiken aller Zeiten und Stile angemessen verdauen lassen wird. Stracks und leichtmütig werden wir alle Musiken mampfen, und wirklich und wahrlich wird jede kleine Musik als Ausdruck ihrer Zeit mit jeder großen Musik als Ausdruck ewiger Genies in einen und denselben musikalischen Ewigkeitsbrei zeitlos zusammengeflossen sein.

Bevor das ebenso gemütlich historistische wie gemütlich genialische Paradigma der Musik im späten 20. Jahrhundert die innere Bühne unseres Musikverstehens zu beherrschen begann, versuchten noch dann und wann weniger gemütliche Paradigmen des Verhältnisses von Musik und Zeit auf die Gemüter Einfluß zu gewinnen.

Zwar kamen die Meisterdenker des atheistischen Bürgertums und des utopischen Marxistentums zu entgegengesetzten Leitaxiomen über dieses Verhältnis, doch lohnt es sich noch heute zu studieren, welche Speise den Lemmingen früherer Zeitgeister als Leitspeise vorgesetzt wurde, um ihnen verführerisch begreiflich zu machen, wo der philosophische Bartl angeblich den Most des wahren Musik- und Musikgeschichteverstehens hole. Denn beiden Positionen galt eine prinzipielle, eine im Wesen der Musik selbst verankerte universalhistorische Anomalie und historische Ungleichzeitigkeit der Kunst der Klänge für ausgemacht und evident. In jener Musikphilosophie, die bereits seismographisch auf die Unzeitgemäßheit der Wagnerschen Musik in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts reagierte, begegnen wir daher in der blumigen Sprache Friedrich Nietzsches der Grundmeinung, daß die Musik als letzte der abendländischen Kulturpflanzen zum Vorschein gekommen sei. Wie eine Synkope zur Geschichte hinke die Musik deren Entwicklung hinterher und läute die Sprache eines jeweils versunkenen Zeitalters in eine erstaunte und neue Welt herauf. Die Seele des christlichen Mittelalters hätte erst in der Kunst der niederländischen Musiker ihren vollen Klang gefunden, und erst in Händels Musik sei das Beste von Luthers und seiner Verwandten Seele erklungen. Auch sei das Zeitalter Ludwig des Vierzehnten und der Kunst Racines und Claude Lorrains erst in den Werken Mozarts Musik geworden, und erst in Beethoven und Rossini hätte sich das achtzehnte Jahrhundert mit seiner Schwärmerei und seinen zerbrochenen Idealen ausgesungen.

Für die utopischen Meisterdenker der marxistischen Ideologie war es bekanntlich genau umgekehrt, nicht als Synkope hinterherhinkend, sondern als revolutionärer Vorschlag der Geschichte stürme die Musik der Entwicklung der Menschheit als deren ewige Avantgarde stets voraus. Nicht historisch resümierend und verklärend, sondern utopisch antizipierend und revolutionierend sei das Verhältnis der Musik zur Zeit zu deuten, und die Größe einer Musik gründe daher letztlich in ihrer Kraft, die Ideale einer von Herrschaft hinkünftig befreiten Gesellschaft und Menschheit in künftig als Meisterwerke anerkennbaren Meisterwerken ins utopisch erklingende Visier zu nehmen. Im strammen Zukunftsglauben der marxistischen Musikphilosophie Ernst Blochs nimmt daher die „aus sich rollende Musik Beethovens“ die Stimme des revolutionär siegenden Proletariats triumphal vorweg; Wagners Volk und Evchen erdenkt sich auf der Festwiese der „Meistersinger“ ein „selbstgewähltes, vom Künstler selbst als inspirativ gesetztes, utopisches Bayreuth, und Mahler habe schon „äußerlich seine achte Symphonie für eine andere Gesellschaft gewissermaßen vorausgeschaffen.“

Selbstverständlich irren sowohl der bürgerliche wie der marxistische Meisterdenker; aber deren Irrtum ereilt ihre Musikphilosophien auf einem Niveau, das die Nichtmehrdenker des späten 20. Jahrhunderts nicht einmal mehr zu Gesicht bekommen. Deren leitendes Zwillingsideal einer szientifischen Historie der Musik einerseits und zugleich eines ewigen Glaubens an ein zeitloses Musikgenie andererseits betritt lediglich das Nullniveau jedes Denkens über Musik – eine vermeintlich selige Insel jenseits von Irrtum und Wahrheit der Musik. Auf dieser postmodern modernen Insel des vollbrachten musikästhetischen Beliebigkeitsparadigmas wird zwar jede Musik über die unendliche Güte verfügen, gleich gut musizierbar und gleich gut konsumierbar zu sein;  aber in diesem Gefängnis vollbrachter Güte wird für deren Insassen jede nachverklärende wie auch jede vorverklärende Musik verklungen sein. Aus der Verklärung der Beliebigkeit gibt es kein Entkommen.