Categories Menu

059 Das verschollene Gloria

November 2001

Die moderne Klage der christlichen Kirchen über das unbotmäßige Verhalten eines sich verlaufenden und auflösenden Kirchenvolkes, hängt mit keiner anderen Geschichte und Gegenwart von Kunst so innig zusammen wie mit jener der Musik. Nach dem Ende des christlichen Abendlandes ein nachgereichter Beweis dafür, daß die Musik jene Kunst war, die noch innerlicher als die Malerei – von den anderen Künsten ganz zu schweigen – allein aus christlichem Glauben geboren, und daß sie nur aus dem sich säkularisierenden Geist der christlichen Religion als große Geschichte einer triumphalen Kunst von Musik, die immerhin dreihundert Jahre währen sollte, ermöglicht werden konnte.

Wenn uns daher moderne Musikhistoriker und Musiker von heute, die mittlerweile das Gerücht erreicht hat, irgend etwas stimme nicht mit der modernen Kirchenmusik, mitteilen, es handle sich dabei lediglich um ein vorübergehendes Depressionsproblem der Musik, die nun einmal nicht zu jeder Stunde ihrer Geschichte eine glorreiche religiöse Musik hervorzaubern könne – als ob die Geschichte der Menschheit in irgendeinem ihrer wesentlichen Departements das Wellenmodell der Mode nachzuäffen beliebe – dann haben sie den weltgeschichtlichen Zusammenhang von Religion und Musik noch nicht verstanden, weil ihnen weder das Wesen der christlichen Religion noch ihrer absoluten Kunst – der Musik – hinreichend in zureichenden Begriffen nahegebracht wurde.

Mit unschön erzwungener Regelmäßigkeit bemühen sich die Kirchenoberen und deren treues Fußvolk eine zeitgemäße Liturgie und moderne Verkündigung der christlichen Botschaft und ihrer Lehre zu suchen, um das Kirchenvolk aus seiner modernen Diaspora in eine Kirche zurückzuholen, die wieder von heute und morgen und nicht mehr von gestern sein soll. Und dabei soll die Musik eine wiederum zentrale Rolle spielen – aber welche Art von Musik aus welcher Tradition von Musik? Selbstverständlich die Musik von heute, legt sich als rationale Antwort nahe, weil der moderne Mensch nur in den Bahnen einer Musik emotional erreichbar ist, die sein modernes Lebensgefühl tagaus, tagein grundiert und erfüllt. Und aus dieser scheinbar vernünftigen Einsicht folgern die von Unternehmungsberatungsfirmen wohlfeil beratenen Kirchen heutzutage messerscharf, daß selbstverständlich nur das Panorama der U-Musik-Genres als zeitgemäße musikalische Ressource für eine auch musikalisch wieder zeitgemäß zu gestaltende Liturgie und Verkündigung in Frage und engere Wahl komme. Doch scheint der swingenden Messe irgendein Wurm innezuwohnen, der von innen her behaglich die letzten Bastionen eines christlichen Geistes in Liturgie und Verkündigung aushöhlt, um sich nach vollbrachter Sättigung über die Müllhalden abgelegter Moden der U-Musik in einen Abgrund von musikalischer Kloake hinabzuwälzen. Die Verfallszeit der U-Musik-Genres ist von einer Kürze, die sich nur unglücklich verträgt mit dem auf Ewigkeitszeit vorgesehenen Inhalt der Genres in christlicher Liturgie und Verkündigung.

Beim Versuch, auf den Zug der „modernen“ Musik aufzuspringen, um ein aktuelles musikalisches Organ für einen aktuellen Gottesdienst zu ergattern, kamen die Kirchen daher im 20. Jahrhundert immer zu spät, sie erwischten immer nur die letzten und falschen Waggons des langen Zuges der U-Musik-Genres, nämlich die von gestern und vorgestern, und daher erreichten sie weder „die Jugend“ von heute noch den Jugendlichen von gestern, der als Erwachsener unverschämterweise gleichfalls den Anspruch erhebt, ein Mensch von heute zu sein. Doch scheint dieses Argument am Beginn des 21. Jahrhunderts zunehmend weniger zu verfangen, weil die U-Musik-Genres mittlerweile gleichfalls historisch geworden sind und mit der Selbstverzehrung ihrer Geschichte begonnen haben. Um so besser für die Kirchen von heute, könnte eine scheinbar rationale Reaktion auf diesen musikgeschichtlichen Tatbestand lauten, denn weil die Botschaft, welche die Kirchen zu verkündigen haben, ohnehin immer eine und dieselbe bleibe, sei es im Grunde gleichgültig, in welcher musikalischen Verpackung der Inhalt der Religion an „die Menschen“ von heute herangebracht werde. Dieser Verpackungsstandpunkt, konsequent ein- und durchgehalten, würde freilich zu einer musikalischen Demokratisierung und pluralistischen Selbstsprengung des gesuchten modernen Gottesdienstes führen – dem pluralistisch aufgespalteten Spektrum des verschiedensten Musikgeschmackes der Moderne gemäß. Außenseiter träumen sogar von der Möglichkeit, eine ewig avantgarde Kunstmusik als die eigentlich geistliche Musik eines Gottesdienstes von morgen anerkennungsfähig machen zu können.

Der verbreitete kirchliche Verpackungsstandpunkt in Sachen neuer Kirchenmusik glänzt also durch historische Ahnungslosigkeit über die Eingeweide der Musik und ihrer Geschichte. Er tut so, als lebe der moderne Mensch von heute musikalisch immer noch in den musikalisch glänzenden Tagen des Barock, als es noch bis in die letzten Stunden Telemanns hinein der Musik möglich war, auf der Basis einheitlich universaler Musiksprache sowohl geistliche wie weltliche Hierarchien von musikalischen Gattungen mit Syntaxen und Stilen zu versorgen, die mit dem Inhalt der religiösen Botschaft wie zugleich mit den Inhalten des aktuellen vormodernen Gemüts ohne emotionalen und musikalischen Bruch harmonierten. Dieser noch wahrhafte Bürger nur zweier Welten, die von einem ungebrochenen ästhetischen Geist und einer vormodernen Sprache der Künste umfangen waren, ist aber nicht nur seit langem in der Geschichte verschollen, er wird aus dieser auch nicht mehr wiederkehren, weil er nicht als ein Modegeck einer schicken Art von Musik den Gang der Musikgeschichte zierte, sondern als eine universale Stufe im irreversiblen Gang der Selbstsäkularisation von Christentum und Musik das musikgeschichtliche Podium betreten durfte und sollte.

Lediglich in der Perspektive des modernen Interpreten traditioneller Musik ergibt sich der notwendige und verzeihliche Anschein einer Art von Wiederkehr; denn der Begründungsstandpunkt jeder autonomen Interpretationsästhetik historischer Musik macht uns an ein historisch-musikalisches Als Ob glauben: als stünde des Interpreten Podium in der Mitte eines Stadions, und die Stile und Werke der Musikgeschichte auf den Rängen stünden als gleichgewichtige und gleichwertige Anhänger-Fraktionen im Kreise um den Interpreten herum und feierten sein Tun und Können mit nicht enden wollenden Wellen a là laola. Und wie man hört und sieht, ist unserer Sprache das Wellen in Silbenwellen gleichfalls nicht fremd, und doch führt auch hier kein Weg von der Zufälligkeit des äußeren Silbenkleides der Wörter zur Notwendigkeit des inneren Sinnes der Worte. Es gibt also etwas noch Äußerlicheres und Hinfälligeres als das Äußerliche und Verrückende im Wechsel der Moden; die Mode ist immer noch sinnvoller als jedes Modell von Welle, das sich der Wellentheoretiker der Geschichte vom nackten Formverlauf der Mode abgekupfert hat.

Riskiert die Kirche von heute und morgen aber den Versuch, aus der Geschichte der künftigen Musik auszusteigen, um nur mehr historische Arten von Kirchenmusik als liturgie- und religionsfähig anzuerkennen und zu praktizieren, dann könnten schon bald die letzten musizierenden Mohikaner einer vergangenen Kirchenmusik und Gottesdienstordnung zum Gottesdienst erscheinen, die bereits vorgeübt und vorgewöhnt von einer beredten Welle nicht enden wollender Stille auf den Rängen der Kirchenbänke umfangen sein werden.

Und mit diesen letzten Mohikanern wird sich auch der Gedanke der Kirche still und unbemerkt genähert haben; scheinbar auf den Spuren Calvins wird er für eine Gestalt des Gottesdienstes plädieren, die sich jeglicher Musik enthält; dann wird der gesuchte Neugläubige von morgen nicht mehr stets auch um der Musik willen, sondern allein nur mehr um des Gottes und seines Seelenheiles willen auf einem neuen Podium in der Geschichte der Religion erscheinen.