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055 Michael Kohlhaas, selbstreferentiell

Oktober 2001

Einem jungen Musikhistoriker von heute, der im Dunstkreis der Unterhaltungsmusik des 20. Jahrhunderts aufgewachsen ist, müssen zumindest einige der Unterhaltungsgenres von Folk und Jazz, Operette und Musical, neue Volksmusik und Filmmusik, Pop und Rock, Musikvideo und aktuelle Dance-Musik zur zweiten Seele geworden sein. Dieses Kind seiner Zeit wird sich daher darüber am meisten verwundern, daß es noch am Beginn des 21. Jahrhunderts Menschen gibt, die als Kinder einer vergangenen Zeit leben, weil ihnen jene Musik, die sich die moderne Gesellschaft angewöhnt hat, „klassische“ oder „alte“ zu nennen, zur zweiten Seele geworden ist. Eine Musik, die längst nicht mehr dem zeitgemäß-authentischen Ausdruckbedürfnis der heutigen Gegenwart angehöre, und die dennoch ein unberechtigt elitäres Leben inmitten einer egalitär gewordenen Musikkultur weiterführe. Hinter den Schlagworten von E- und U-Musik wird der junge Musikhistoriker daher eine elitäre Ungerechtigkeit vermuten, eine Höherwertung der Kunstmusik und eine Abwertung der Unterhaltungsmusik. Diese Ungerechtigkeit wird ihm gegen den Strich seiner zweiten Seele gehen, und er wird daher danach trachten, für Gerechtigkeit auch im überreichen Laden der Musikkultur von heute zu sorgen. Besonders piquieren wird diesen musikalischen Michael Kohlhaas die ausgesprochene oder unausgesprochene Behauptung der Insider der E-Musik, daß allein die Kunstmusik das tiefe, die Unterhaltungsmusik aber das seichte Wesen der musikalischen Kunst präsentiere.

Schlau gemacht im Angebot der gegenwärtigen Methoden, das Ei mit dem Gelben des Eis gleichzusetzen, wird er sich aus dem ebenfalls reichen Laden hermeneutischer Methoden unter den läufigen Konstruktivismen und Dekonstruktionen jeder nur denkbaren Art zuletzt für die erfolgversprechenden Werkzeuge der Systemtheorie entscheiden. Diese werden ihm kongenial tauglich erscheinen, seinen Lieblingsgedanken in die Tat einer systemtheoretischen Ästhetik umzusetzen, nämlich das System U-Musik als ein ästhetisch gleichberechtigtes neben, wenn nicht gar als ein überlegenes über dem System E-Musik nachzuweisen. Er wird dabei folgenden Gedankengang als Fundament legen, um auf ihm das Gebäude einer autonomen Musikästhetik seiner geliebten und gelebten Genres des Systems U-Musik zu errichten.

Da das System U-Musik alle Merkmale aufweise, die gemäß Systemtheorie einem selbstreferentiellen System zukommen müssen, um es als autonomes und selbstwertiges System abzusichern, wird er die musikhistorische Adaption des systemtheoretischen Ansatzes scheinbar widerspruchsfrei durchführen. Ebenso wie das System E-Musik sei das System U-Musik ein selbstreferentielles System, weil in ihm erstens alle Stilfelder der diversen Genres mit spezifischen Sozialfeldern spezifisch verbunden sind; weil dieses System zweitens über eine interne Geschichte verfügt und eine künftige entwickelt; und weil schließlich drittens die Werthierarchie der herausragenden Künstler und Werke in allen Genres allein aus dem spezifischen und traditionsbildenden Spannungsfeld zwischen Stil- und Sozialfeldern entspringt – also in gleicher Weise wie im System E-Musik. Wie in dieser wird daher auch in der U-Musik zwischen Tiefen- und Oberflächenphänomenen unterschieden, und stets sind es nur die inneren Konventionen des Stilfeldes und die daran geknüpften inneren Anerkennungsmechanismen des Sozialfeldes, die den Meisterwerken und Meisterkünstlern der Genres eine hohe, allen schwächeren Werken und Künstlern aber nur eine geringere oder gar keine Aufmerksamkeit gönnen.

Der absolute Unterschied eines Hits von Bob Dylan und eines Liedes von Franz Schubert, einer Sinfonie von Beethoven und eines Rockkonzerts der Rolling-Stones ist damit systemtheoretisch ausgeglichen, und diese Gleichung zu erreichen, war das erklärte Ziel der systemtheoretischen Anschleichung an das System Musikgeschichte.

Warum aber ist unser musikhistorischer Michael Kohlhaas so bescheiden, lediglich die Gleichwertigkeit der beiden Systeme durchsetzen zu wollen? Da doch allein die Rolling-Stones und Bob Dylan, um diese freilich auch nicht mehr ganz zeitgemäßen Gruftis ihrer Genres als herausragende Meisterbeispiele der U-Musik zu nennen, das musikalische Ausdruckbedürfnis der modernen Gesellschaft massenhaft abdecken, längst aber nicht mehr die Stilfelder und Werke eines Beethoven und Schubert, die ganz anderen und für immer unwiederbringlichen Sozialfeldern angehören, müßte das System U nicht neben, sondern weit über dem System E zu stehen kommen.

Die Erklärung erklärt ein Systemfehler im System der systemtheoretischen Musikästhetik. Denn um zunächst nur die Gleichstellung der beiden Systeme von U und E zu erlangen, muß unser zeitgemäßer Musikhistoriker zur Beschreibung und Begründung dessen, was als Stil und Meisterwerk in beiden Systemen anerkannt werden kann und soll, die ehrwürdigen Grundkategorien jener Ästhetik bemühen, die ausgerechnet für die Kunst und E-Musik seit 1750 eingeführt wurden und kaum noch nach 1850 gebrauchbar waren – die Kategorien der Ästhetik und Musikästhetik von Baumgarten bis Vischer, von Schubart bis Hanslick. Denn anders nicht lassen sich die beiden Systeme von U und E als ästhetisch gleichberechtigte Arten der Gattung Kunstmusik vorschlagen und scheinbar glaubhaft machen.

Unser musikästhetischer Kohlhaas muß daher die übergeschichtliche System-Gerechtigkeit eines ästhetischen Kunstsystems in Anschlag bringen, das vermeintlicherweise dazu tauge, Musiken in stets gleichwertig hoher und tiefer Schönheit in die Welt zu setzen; sein brüchiges Fundament ruht ungegründet auf der Basis einer Ästhetik, die mit einer geschichtlich seit 1750 autonom werdenden Musik mitentstanden war – als deren begleitender Begriff und kommentierende Wissenschaft. Wer aber die Musikästhetik einer geschichtlichen Art von Musik für eine andere Art, etwa für die moderne E-Musik oder für die ebenso moderne U-Musik zu systemästhetischen Zwecken mißbraucht, der muß sich als sich betrügender Betrüger betätigen, wenn er die historischen Systeme und Subsysteme von U und E in scheinbar gleichwertiger Weise unter eine Ästhetik subsumiert, die nicht dafür vorgesehen ist, auch noch andere Kinder als die eigenen unter ihre Glucke zu subsumieren. Die sophistische Subsumierung und ästhetische Gleichstellung rächt sich daher nicht im Lager der Insider des Gegensystems, sondern inmitten des eigenen Systems.

Wenn die Grundkategorien einer vermeintlich ewig gültigen Musikästhetik beispielsweise fordern, daß ein herausragendes Musikstück eine „gelungene Einheit von Form und Ausdruck“ repräsentieren müsse, daß ein musikalisches Meisterwerk die „künstlerische Bearbeitung existentieller Fragen des Menschseins in handwerklich überzeugender Weise“ darbieten müsse, daß die best-of-Musik jedes Systems „Fülle und Reichtum im Detail bei geschlossener Einheit des Ganzen“ anzustreben habe, dann ist es unwitzig, die Meisterwerke differenter Musiksysteme, etwa die genannten von Bob Dylan und Schubert, von Rolling-Stones und Beethoven in ästhetisch gleichberechtigter Weise unter die Haube vermeintlich ewig erfüllbarer Grundkategorien bringen zu wollen; denn nur weil wir als Insider des musikhistorischen Systems U-Musik daran glauben, daß im Innersten der modern dahinrasenden Musikgeschichte der Stillstand einer ewig gleichbleibenden Musikschönheit und Musikästhetik ruhe, die sich aller Musiksysteme der Musikgeschichte nur wie eines modischen Arsenals von Verkleidungen und Entkleidungen der stets unverändert verbleibenden Sache bediene, ereignet sich nicht das Wunder einer Ausgleichung des absoluten Unterschiedes der Sache Musik im Drama ihrer Geschichte. Wem Schönbergs Klavierkonzert als eine Art von schöner Musik wohlgefällt, der ist ein Greuel für jenen, der den Musikantenstadel für eine Veranstaltung schöner Musik hält – und umgekehrt. In diesen beiden Geschmacksurteilen, demokratisch gleichberechtigt und öffentlich erlaubt, erscheint das Wort schön als hypothetisches Prädikat, und daher erscheint es an der gesamten Musik des 20. Jahrhunderts nur mehr als ein Wort – als zerbrochene Hypothese verblichener Kunst-Schönheit. Inmitten des Zerfalls der Worte meldet sich das Schisma von U und E wieder zurück, und dieser Zerfall ist aus der Welt der Musik seit dem 20. Jahrhundert auch systemtheoretisch nicht mehr hinauszureden.

Die U-Musik-Ästhetiker und -Historiker sollten daher ihre bekannten Lieblingskategorien ernst nehmen und nicht nach solchen suchen, die vermeintlich die Fälle aller gewesenen und noch kommenden Musik-Ergüsse unter eine ewige Schönheitshaube bringen, weil in einer vermeintlich nur äußerlich und gleichgültig sich geschichtlich verändernden Musik eine ewig gleichbleibende Skala von tief und seicht, von ernst und unterhaltend, von autonom und heteronom, von selbstreferentiell und nichtselbstreferentiell bestehen bleibe.

Die U-Musik-Ästhetiker und -Historiker sollten ihre bekannten Lieblingskategorien wirklich ernst nehmen und als ein defizientes System einer defizienten Musikästhetik für eine defiziente Musik erfassen. Sexuell durchschlagend, dekorativ umwerfend, unwiderstehlich unterhaltend, emotional cool und hot, kommerziell wertvoll, um nur einige wenige herausragende Meister-Kategorien des Subsystems U-Musik zu nennen, sind in diesem System ebenso ernst zu nehmen, wie die Kategorien der traditionellen Ästhetik in ihrem traditionellen System, und ebenso wie die gebrochenen Kategorien der fragmentierten modernen E-Musik in wiederum ihrem System. Ernst und Ernst ist also auch systemtheoretisch nicht dasselbe, denn was Ernst ist in der Musik, das ändert sich mit dem Ernst der Lage der Musik in ihrer Geschichte; ist sie als Unterhaltungsmusik universal und global geworden, dann ist allerdings die Lage der Musik todernst geworden, und das Wort ernst ist selbstreferentiell nur mehr im System des Meisterwerkes der deutschen Sprache.