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056 Phönixasche

November 2001

Ferrucio Busoni prophezeite der Musik am Beginn des 20. Jahrhunderts eine große Zukunft. Erstmals in der Geschichte der Menschheit werde eine von allen bisherigen Fesseln entfesselte Musik als neue und wirklich freie Kunst erscheinen. Erstmals werde Frau Musica daher gänzlich eigene Wege gehen und vermögend sein, eine Geschichte sui generis, frei von allen Vorurteilen und Hemmnissen musikfremder Mächte, in traditionsbildende Wege zu leiten. Und niemand kann leugnen, daß in Tat und Wahrheit die Kunstmusik des 20. Jahrhunderts die Schaffung neuer musikalischer Gattungen als musikgeschichtlich obsolet erkannte und einen Typus von Individualitätsgenie und Individualitätswerk hervorgebracht hat, deren Musik die Menschheit und die Musikgeschichte vor dem 20. Jahrhundert weder erahnen noch erhören konnte.

Am Beginn des 21. Jahrhunderts betätigen sich die Ideologen des Cross-Over als Propheten einer womöglich noch größeren Zukunft der Musik. Denn erstmals in der Geschichte der Menschheit sei nun die Möglichkeit offenbar und die Wirklichkeit aktuell nahe geworden, alle bisher getrennten Gattungen und Stile der U-Musik des 20. Jahrhunderts mit allen Gattungen und Stilen der vormodernen Musikgeschichte und auch mit den Individualsprachen der modernen Kunstmusik des 20. Jahrhunderts zu verbinden. In der schöpferischen Mixtur des totalen Crossover werde die Musik daher ihre bisher noch verborgene und durch die Trennung der „Moden U und E“ gefesselte Kreativität, also ihre ultimativ unerschöpfliche Schöpferkraft entfesseln und einen Stammbaum niegewesener Fruchtbarkeit an neuen Gattungen und Stilen in die Arena der künftigen Musikgeschichte werfen.

Auch die gesellschaftliche Marginalisierung der im 20. Jahrhundert neu entfesselten Kunstmusik, die sich trotz Busonis euphorischer Prophezeiung schmählicherweise nicht verhindern ließ, werde in der Crossover-Kraft des neuen Lebensbaumes der Musik demnächst schon zu überwinden sein. Denn bei einer Musik, die endlich wieder als Kunst und Unterhaltung zugleich in der Arena agiere, werde auch ein großes Publikum mit wieder intaktem Geschmack und Verständnis wiederkehrend erscheinen.

Wiederum steht also die Geschichte der Musik vor ihrem eigentlichen Beginn, und da wir uns hier nicht im Kabarett, sondern im Kabinett des Musikdenkens des 20. und 21. Jahrhunderts befinden, ist nicht kabarettös, sondern seriös einzugehen auf die Voraussetzungen und Konsequenzen der aktuellen Prophezeiungen eines möglichen universalen Crossover, dem universale Gattungen und Stile der Musik wie ein musikalischer Phönix aus dessen vormaliger Asche entsteigen könnten.

Wie schon Busoni auf gewisse Geräuschstellen in den Sinfonien Beethovens als Vorboten einer neuen großen Kunstmusik verwiesen hatte, so verweisen die Ideologen des Crossover auf die musikhistorische Einsicht, daß sich sämtliche Gattungen und Stile der Tradition gewissen Synthesen aus anderen Gattungen und Stilen verdankten. Und in Tat und Wahrheit ist nicht zu leugnen, daß keine der traditionellen Gattungen und Stile anders denn als Synthese von anderen Gattungen oder deren Teilen, von anderen Stilen und deren immanenten Fortbildungen möglich und wirklich gewesen ist.

Wer sich aber heute, am Beginn des 21. Jahrhunderts anschickt, in der Rolle des historistischen Propheten zu verkünden, immer schon sei in der Geschichte der Musik das Prinzip „Cross-Over“ das insgeheim leitende in der Bildung und Traditionsgestaltung von musikalischen Gattungen und Stilen gewesen, der gibt zu verstehen, daß er das Wesen der Geschichte der Musik noch nicht verstanden hat. Er übersieht den entscheidenden Punkt jener absoluten Selbstunterscheidung, den das Wesen und der Begriff der Musik in ihrer Geschichte seit spätestens 1600 irreversibel vorgeführt hat. Von 1600 bis 1750 vollzieht sich die universale Sprachwerdung der Musik in einer langsamen Lösung von sakralem Inhalt und sakralisierter Form der Musik; von 1750 bis 1914 erfolgt die primäre Säkularisierung dieser universalen Basis im Rang einer einmal möglichen und daher absoluten Autonomisierung der Musik, die den Namen absolute Kunst nicht nur dem Namen nach verdient; die Stil- und Gattungsnamen von Barock, Klassik und Romantik sind daher absolute, nicht nur geschichtliche Namen, ihre unübertreffbare Säkularisierung jener sakralen Einheit von Inhalt und Form der Musik konnte daher auch unter dem Namen einer „absoluten Musik“ sinnvoll traktiert werden; von 1914 bis 2001 aber erfolgte bereits die Säkularisierung der Säkularisierung, im Sektor U-Musik mit der Möglichkeit nochmals universale Gattungen und Stile auf Unterhaltungsniveau zu generieren; im Sektor E-Musik mit der Einsicht in die Unfreiheit solchen Gebarens.

Wenn daher die Ideologen des Crossover heutzutage die universale Bastardisierung der Musik, die Kreuzung aller ihrer Gattungen und Stile ausrufen, bekennen sie ein, daß auch die gesunkene Traditionsbildung der U-Musik-Genres an ihr Ende gelangt ist. Aber die Befolger ihres erzwungenen Aufrufes haben über den Ort, an dem sie in der Geschichte der Musik die Ehre und Unehre haben, als Leitbild zu erscheinen, noch keinen vernünftigen Gedanken ausgefaßt. Die Säkularisierung der Säkularisierung der Musik im 20. Jahrhundert erbrachte erstmals und gleichfalls irreversibel in der Geschichte der Musik einen professionalisierten Musikerstand als Führungsmacht der Musikgeschichte hervor; zugleich entstand erstmals in der Geschichte der Musik ein freier Markt von Musiken, der ebenso irreversibel die Vermittlung zwischen moderner Demokratie und allen ausdifferenzierten Systemen der Musik übernommen hat; daher ist wohl das Bedürfnis des Menschen der modernen Gesellschaft nach Musik den Intentionen der Ideologen des Crossover überaus entsprechend bastardisiert, aber der Verschnitt von Musiken jeder Art, der im Inneren des Menschen von heute haust, ist nicht mehr tauglich, ein tragendes Fundament und eine fruchtbringende Basis für die Ausbildung universaler Gattungen und Stile aufzumischen. Denn im Innersten des Beziehens von Inhalten auf Formen und ebenso von Formen auf Inhalte der Musik ist jede universale Konvention erloschen, aus deren Gesetzeskraft das Regelwerk einer musikalischen Syntax und Stilbildung genieverdächtiger Crossover-Gattungen die Arena der aktuellen Musikgeschichte betreten könnte. Welche Arten von Crossover ein Musiker sich daher ausdenkt, einmacht und verkauft, dies liegt ebensosehr ganz in seinem Belieben wie zugleich ganz im Nichtbelieben der Verkaufszwänge konkurrierender Musikindustrien und -märkte um die Gunst eines ohnehin perfekt bastardisierten Musikgeschmackes im Musikerleben des heutigen Musikpublikums. Ob Crossover gemacht wird und wie, ist daher gleichgültig und kein Befriedigen irgendeines Bedürfnisses irgendwelcher Eliten der modernen Gesellschaft; das reale Crossover existiert bereits in unüberbietbarerweise als Horizont ihres alltäglichen Musikumganges.

Der virtuos entfesselte Zugriff auf alle Stile und Gattungen der Musik bringt jenen rasenden Stillstand der Musikgeschichte hervor, der sich ebenso als Paradies des professionalisierten Musikers wie als Hölle der Musik im Bewußtsein der Menschen erweisen wird. Ist einmal alles mit allem gekreuzt, jede Musik mit jeder anderen synthetisierbar geworden, wird sich der noch vor wenigen Jahrhunderten sakralverdungene Klang als Träger von Geist und Freiheit in sein endgültiges Gegenteil verwandelt haben. – Freund der Musik, Du kennst die Hölle der Musik noch nicht; wehre den Anfängen und überlege genau; denn auch in der Geschichte der Musik ist kein menschliches Tun und Lassen frei von Schuld, frei von den Folgen unbedachter Verschuldung. Der Preis der Freiheit ist so hoch wie der Verlust ihrer Notwendigkeit.