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057 Sehen und Hören

November 2001

Wovon die Neue Musik des 20. Jahrhunderts träumte, scheint der abstrakten Malerei und darstellenden Kunst der Moderne geglückt zu sein: durch Gewöhnung ans Neue und Abstrakte ein größeres Publikum zu gewinnen, das als selbstverständlich hinnimmt, was als selbstverständlich behauptet wird. Während den Artefakten der modernen Kunst eine scheinbar unproblematische Anerkennung und sogar öffentliche Präsenz zuteil wird, fristet die Neue Musik eine marginale Existenz mit lediglich separierter Anerkennung, und dies sogar unter Musikern von Profession.

Der gewöhnliche Einwand, diese Asymmetrie gründe zuerst und zuletzt in der glücklichen Tatsache, daß sich die Artefakte der bildenden Kunst zugleich als Kapitalanlage verwerten ließen, woraus ein uneinholbarer Vorteil für alle Produkte der modernen Künste gegenüber den Werken und Produktionen der Neuen Musik erwachse, ist ein lediglich ökonomisches Argument, an dessen Geist zuerst und zuletzt nur der stramm eingewöhnte Marxist glauben sollte.

Zwar entzog sich der Edelmarxist Ernst Bloch diesem Geist, wenn er behauptete, daß wohl die „neuartigsten Bilder nachsichtiger beurteilt“ würden als die jeweils neuartigsten Klänge; doch kehrte er sogleich nur wieder beim Geist des Gewöhnungsargumentes ein, wenn er hinzusetzte, daß dennoch das „Entsetzen“ über die „modernsten Satzarten“ „bald vorüber ginge“, wenn alsbald durch die Kraft „neuer Gewöhnung“ der „Streit um die Grundsätze des Schönen und Melodischen“ wie gewöhnlich rasch und billig geschlichtet worden sei. Die Vergewöhnlichung des Ungewohnten als Vorstufe seiner Karriere als „Klassik“: wer vermöchte diesem ungewöhnlichen Märchen heute noch mit vertrauensseligen Kinderohren zu lauschen?

Da weder das ökonomische noch das Gewöhnungsargument jene Anerkennungs-Asymmetrie der modernen Künste zufriedenstellend erklären – dieses führt zu Illusionen und Utopien, jenes in kunstexterne Bedingungsfelder der ästhetischen Existenz von Kunst – müssen wir uns um tiefere und ungewöhnlichere Gründe umsehen, um nicht der Blendung durch Gewöhnung und Kapital gewohnheitsmäßig auf den Leim zu gehen.

Es ist die grundsätzliche Andersartigkeit sowohl der ästhetischen Erfahrung wie der Beurteilung beider Kunstarten, die den Erfolg der bildenden und den Mißerfolg der klingenden modernen Kunst im Gemüt des modernen Menschen zuerst und zuletzt verursacht.

Während die Allgegenwart und massenhafte Produktion von Normalbildern durch Film und Fotografie, durch Werbeindustrie und Alltagserfahrung nicht als Kontrafakt gegen die kunstästhetischen Bilderwelten der Moderne erfahren wird, die wie selbstverständlich mit gebrochenem Normalitätsinhalt, abstrakten Formen und formlosen Farben operieren und reflektieren, wird im Gegensatz dazu die ubiquitäre Existenz der Unterhaltungsmusik im Bewußtsein des modernen Menschen als eigentliche und erfüllte Zweckbestimmung dessen wahrgenommen, was Musik heutzutage sein soll und sein kann. Daher erklingen in seinen Ohren die je neuesten Klänge modernster Kunstmusik als Veranstaltungen eines verfehlten Zweckes, als Klang-Feelings von Außenseitern, die außen vor bleiben müssen.

Und gegen diese Zuteilung zweier grundverschiedener ästhetischer Dienste am und im Leben des modernen Menschen – am abstrakten Bild die beliebig freigesetzte Reflexion; an unterhaltender Musik die entspannende und befreiende Emotion – ist jede Anrufung erzieherischer Mächte einer neuartigen Gewöhnung an neue Musikklänge sekundär und illusionär.

Erblickt der moderne Mensch daher ein abstraktes Bild, reagiert er unwillkürlich spartenspezifisch und den Tabus kultureller Arbeitsteilung konform. Trotz horrender Selbstwidersprüche, die unter den eingewöhnten Tabus unbemerkt bleiben, schaltet sein Wahrnehmen und Beurteilen mechanisch von einer Bilderwelt in deren entgegengesetzte um. Fand er soeben noch das Bild einer Frau in einer Illustrierten für würdig, mit dem Prädikat begründeter Schönheit bedacht zu werden, wird er schon im nächsten Augenblick bemüht sein, das Bild eines zerteilten oder vermehrfachten Frauenkopfes von Picasso gleichfalls mit ästhetischen Hochglanzkategorien zu versehen; bewunderte er soeben noch den Body eines zum Leitbild der Massen aufgestiegenen Sportlers als vollkommen, wird er angesichts der Schrumpffiguren Giacomettis den von der kunsthistorischen Kommentatorengilde ausgerufenen Vollkommenheitsprädikaten ohne Widerspruch zustimmen; ärgerte er sich soeben noch über einen Farbtopf, der versehentlich über seine Wohnzimmerwand verschüttet wurde, wird er schon demnächst einer Galerie der modernsten Schüttbilder interessante Gedanken und Assoziationen abzugewinnen wissen.

Er wird der marktgefesselten Rede von den „ganz großen Genies“, die das Reich der bildenden Künste auch im Gewand der modernen Abstraktionen immer noch bevölkerten, nicht mißtrauen, während er doch zugleich nicht einmal von ferne mit dem gleichen Ansinnen im Reich der Neuen Musik belästigt werden möchte. Während er Picasso, Giacometti und Nitsch den Passierschein eines „großen Genies“ an der Urteilsgrenze seiner ästhetischen Geschmacksprovinz unbürokratisch ausstellt, überläßt er die Frage, ob Boulez, Schönberg und Stockhausen als Genies einer neuen Musik passieren könnten, einer höheren Behörde von Fachleuten und Kennern. Denn wovon er nichts verstehe, darüber habe er nicht verbindlich zu befinden. Und die Schreibprogramme meines Computers teilen dieses Verhalten unverschämt, da sie zwar den schreibfehlerverteufelten Namen „Giacometti“ dank genialer Thesaurusgewohnheiten stante pede zu korrigieren verstehen, dieselbe Wiedererkennungsehre aber dem verschriebenen Namen „Boulez“ verweigern – der richtige Name des französischen Komponisten, der sich auch als Dirigent einen Namen gemacht hat, ist auf meiner Festplatte noch nicht angekommen.

Während also die Bilderfahrung von Welt und Mensch im Bewußtsein des modernen Menschen mit erhöhter und kollektiv steuerbarer Reflexivität vollzogen wird, gilt die Musikerfahrung als Hort einer hörbaren Liebesmacht und tröstenden Stimme, deren Streicheleinheiten mit erhöhter Emotionalität vollzogen werden, weshalb sie vor allem auch Kinder und Jugendliche begleitet und verbindet.

Sehen von Bildern ziele auf Denken, Hören von Klängen ziele auf Fühlen. Diesen epochalen Grundmaximen der modernen Seele mußte unausweichlich der feeling-turn der Musik des 20. Jahrhunderts folgen und sich gehorsamst in zwei neue Grundtonarten zersprengen: U und E, die einander grundverschieden kontrastieren, während die traditionellen Tonarten von Dur und Moll noch dem einfachen Selbstgegensatz des universalen Harmoniegrundes entsprangen.

Weil sich an Klängen die Freiheit des Gedankens nicht einüben läßt, die sich zugleich an abstrakten Bildern als freies Belieben ausüben läßt, verbleibt die Musik eine Botschafterin von Emotionen, ein Hort der Freiheit von Gedanken und Denken, worin die moderne Seele frei von der Last permanenter Reflexion entspannt in sich zurückzubaumeln pflegt. Und dieses Glück der U-Musik ist zugleich das Pech der modernen E-Musik – besonders nachdem sie die kollektiv steuerbaren Emotionsbahnen der tonalen Unmittelbarkeitszüge gekappt hat.

Daß aber im Reich der modernen Künste der Film als neue universale Kunst obsiegen muß, wenn im Reich der alten Bildformen, mögen diese noch so abstraktioniert modern sich präsentieren, die freie Fahrt beliebiger Reflexion, im Reich der unterhaltsam gewordenen alten Musikklänge aber die rauschhafte Fahrt der kollektiven Emotionen und in dem der neuen Musikklänge die Reise einer ebenso ort- wie weltlosen Emotion und Reflexion angefahren wurde, versteht sich von selbst. Der Film triumphiert als universale Mitte über die zerteilte Beliebigkeit der beiden Altkünste, obwohl das moderne Bewußtsein in den Zug der Erfahrungen des Filmauges, und wären es die des trockensten Dokumentarfilms, nicht einzusteigen pflegt, wenn nicht die emotionale Begleitlokomotive Musik vorneweg mitfährt. Die Einheit von Reflexion und Emotion, die der Film in seinem System von Gattungen und Arten, von Syntaxen und Stilen anbietet, ist die unüberbietbare Selbstdarstellungsspitze für ein modernes Bewußtsein, das in einer Art traumhaften ästhetischen Erlebens säkularer Befriedung und Verstörung sein modernes Leben und Handeln auf einer höheren Ebene im Auge aller noch einmal erleben möchte.