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058 Wo bleibt die Gemütlichkeit?

November 2001

Jedes reale Erscheinen von Klängen und deren Parametern ist in formaler Perspektive entweder ein mechanischer oder ein chemistischer oder ein teleologischer Zusammenhang. Aber das Entweder-Oder in diesem disjunktiven Urteil darf nicht als ein ausschließendes verstanden werden; zwar ist der mechanische der niedrigste, der chemistische der höhere und der teleologische der höchste Zusammenhang; aber der je höhere bedarf zu seiner Verwirklichung der niedrigeren, weil er sich nur in und an diesen als deren überwindende Integration und überwundene Wirklichkeit verwirklichen kann. Im teleologischen Zusammenhang sind daher die mechanischen und chemistischen Elemente und Prozesse jederzeit rekonstruierbar und durchscheinend, weil sie die bedingenden Mittel und Werkzeuge sind, an und in welchen der teleologische Prozeß sich darstellt.

Sprechen wir daher von Ordnung und Chaos, von innerer oder äußerer Notwendigkeit und von Zufälligkeit im Reich musikalisch gesetzter Klänge, dann ist stets eine Frage zu berücksichtigen, die nur unter der Strafe gemeiner Selbstverdummung vernachlässigt werden darf. Handelt es sich um mechanische oder um chemistische oder um teleologische Ordnungs- oder Chaosbeziehungen? Denn schon der Unterschied von äußerer und innerer Zweckmäßigkeit findet sich nur im Reich der Zwecke, ebenso jener einer Kollision verschiedener Zwecke; und der Unterschied von neutralisierender und vereinnehmender, von gärender und zementierender Wechselwirkung nur im Reich des Chemismus, der Unterschied von ruhender und bewegter, von freier und unfreier Kraftwirkung nur im Reich des Mechanismus.

Der einfache regelmäßige Rhythmus ist musikalischer Mechanismus, der freilich als reiner Rhythmus nur in der unhörbaren cheironomischen Aktionszeichnung des Dirigierens erscheint, weil in Verbindung mit Tonhöhen oder Geräuschen der Rhythmus sogleich mit den Parametern des Klanges eine chemistische Verbindung eingeht; und diese zunächst ateleologische chemistische Verbindung wird ein teleologischer Zusammenhang erst dadurch, daß auf höherer musiklogischer Ebene mitten in der ganzen mechanischen und chemistischen Verbindung von Rhythmus und Klangbewegung ein Ziel derselben so erscheint, daß der ganze Weg zum Ziel, nicht etwa nur erst der letzte Ton einer finalen Skala von rhythmisch bewegten Tonhöhen, die Ausführung des musikalischen Formzweckes darstellt. Jede finale Melodie ist daher eine Einheit von äußerer und innerer Zweckmäßigkeit, die im Reich der Musik ihresgleichen sucht.

Weil diese Aussagen über die fundamentale Logik von musikalischem Zusammenhang lediglich in formaler Perspektive, nicht in der letztlich entscheidenden Perspektive des Musikalisch-Schönen zu erfolgen scheinen, läßt sich jederzeit in der Musikgeschichte auf den verführerischen Schein hereinfallen, es könnten sich jenseits der finalen Melodie noch etwelche höher belustigte und ganz andersartige einfinden lassen, deren ästhetischer und künstlerischer Wert höher stehen könnte – ein folglich überrationaler musikalischer Formenwert, der im Reich der Musik seinesgleichen suche.

Nach der musikgeschichtlich anerkannten Lehre Arnold Schönbergs ist die Zwölftonreihe ein musikfähiger Zusammenhang von Tonhöhen; zwar stehen die neuen zwölf Gesellen nicht mehr autoritär um den Meister eines Grundtones herum, welches autoritäre Verhalten in der traditionellen Musik finalisierbare Einheiten von Melodik und Harmonik garantierte; aber die neuen Tongesellen, vom hierarchischen Druck des alten Meisters befreit, sind nun so herrlich freigeworden, mit jedem anderen Gesellen ihres befreiten Milieus eine Grundbeziehung eingehen, um den Gesellenbund einer Zwölftonreihe begründen zu können. Daher sollen „zwölf nur aufeinander bezogene Töne“ einer Zwölftonreihe einen höheren musikalischen Zusammenhang herbeizuführen berufen sein als jener herkömmliche tonale Zusammenhang, der lediglich dazu berufen war, einen Bach und einen Mozart zu kärglichem Haushalten mit kärglichen musikalischen Zusammenhängen anzuhalten.

Dies ist die ewig wiederkehrende Ursituation des Sophisten und seiner Klientel. Indem der geniale Sophist in prophetischer Rede einen neuen Gattungsbegriff von Zusammenhang ankündigt, unterläßt er es zugleich und scheinbar nur vergeßlicherweise, über die spezifische Differenz des neuen Gattungsbegriffes nähere Auskünfte mitzuteilen; also gelingt die Überredung der Klientel, auf die sie kongenial berechnet ist, denn im Rausch der beschwörenden Worte verklingen die letzten Echos jener logischen Fragen, welche die Gesellen ihres Meisters und auch diesen selbst vor dem Sturz in die selbstverschuldete Unsinnigkeit unsinniger Zusammenhangsbehauptungen hätten bewahren können. Unterm Schwall pleonastischer Appell- und Signalwörter, die den bedingungslosen Gehorsam der Klientel einfordern, erstirbt unter einer kollektiv reflexhaften Zustimmung jedes Interesse an einer vernunftgeleiteten Reflexion über die behauptete Sinnhaftigkeit genial verkündeter Zusammenhänge. Statt Fragen und Rückfragen, statt Suche nach Gründen, statt Nachgedanken auf Vorgedanken erfolgt eine autoritäre Meisteranhörung, deren tabuisierte Wortechos den überrational sein wollenden Geist der Klientel mit bewundernden Affekten und utopischen Hoffnungen erfüllen. Und geradezu übermenschenmöglich erscheint plötzlich die kühn erwogene Möglichkeit, daß eine Musik, die nur auf einen Grundton bezogen ist, von geradezu läppischer Einfalt sein könnte gegen eine ganz andere Musik, deren Töne nur aufeinander und daher geradezu auf alle bezogen sind: endlich weg der alte Meister und dessen falsche Einfalt, endlich herbei die neue unerschöpfliche Geselligkeit und wahre Vielfalt der Zauberlehrlinge.

Bis zum heutigen Tag verwundern sich Musikhistoriker und Musiker über das angebliche Paradox, daß Arnold Schönberg einerseits als großer Prophet einer neuen großen Musik und Musiktheorie gehandelt wird; andererseits seine nichtmehrtonalen Werke bis heute die Musik einer „absoluten Minderheit“ geblieben sind. Die Antwort auf den trügerischen Schein des herbeigemuteten Paradoxes ist unschlicht und abhebend teleologisch: die musikalische Moderne wäre nicht Moderne, wäre sie berufen, eine neue Ontologie von Musik, also eine universale Kunstmusik auf der Basis einer neuen seinsollenden Natur von Musik hervorzubringen. Die musikalische Moderne mußte daher seit der Stunde ihrer musikgeschichtlichen Geburt einen ästhetischen Transzendentalismus bemühen, eine kontingente Freiheitsphilosophie und -praxis, in deren Namen das vollkommen freigesetzte Genie der ästhetischen Moderne scheinbar ontologisierbare transzendentale Möglichkeiten für neue Erfahrungen von musikalischen Wirklichkeiten ausdenkt, um sich zu Konstruktionen zu ermächtigen, die lediglich die Utopie einer neuen Ontologisierung von Musik, nicht aber die Realität eines wirklich gesollten Seins von Musik sein können. Der Kredit, den das subjektiv transzendentale Genie vom Konto einer anerkennenden Zukunft bezieht, kann niemals ausbezahlt werden, es zehrt vom Vorschuß eines schlecht unendlichen Vertrauens.

Dem bodenlosen Reihen-Apriori Schönbergs widerfuhr daher das Schicksal, das jedem ontologisch ungegründeten Transzendentalismus widerfährt: er stürzt sich alsbald in den Krater eines handgreiflichen Empirismus und seiner konkretistischen Naturalien. Angesichts und angehörs der Bodenlosigkeit einer furchterregend sinnlosen Leere zwischen den zwölf Gesellen sollte doch wieder eine liebenswürdige Natur für eine angeblich zweckhafte Vorgegebenheit und notwendige Aufgefundenheit der Reihe vorgesorgt haben. An die Stelle der freien Reihe freigesetzter Gesellen sprangen plötzlich die Zauberlehrlinge „entfernter Obertöne“ – der lediglich menschlicher Satzung entsprungene Gesellenverbund „gleichberechtigter Töne“ sollte doch wieder einer universalen Tonmutter entlockt worden sein.

Daß dieser Versuch des genialen Transzendentalisten, sich am eigenen Sophistenschweif aus dem Sumpf unauflösbarer Selbstwidersprüche zu ziehen, scheitern müsse, wußte der andere Reihen-Meister der musikalischen Moderne im intuitiven Geist altmeisterlicher Propheten. Daher bemühte Josef Matthias Hauer von Anfang an und bis zu seinem verkannten Ende den Appell an einen atonalen Weltenbaumeister, der gütig dahinter stehen möge, wohinter freilich keiner stehen mochte, weil hinter dem Ontologieprojekt einer anderen Natur von Musik kein anderer Gott jemals wird aufzufinden sein. Die Phantomschmerzen des Meisters aus Wiener Neustadt, die jenen aus Mödling nicht plagten, waren daher reale Phantomschmerzen, nicht nur subjektiv transzendentale und konstruierte. Davon wußte Schönberg nur, wenn er auf dem theosophischen Pferd durch seine Theorielandschaft einer neuen universalen Musik ritt, wenn sie ihm wieder einmal als ungeniales Ungeheuer begegnet war, nachdem sie ihm schon unter nicht ganz geheuerlichen Umständen zur Welt gekommen schien.

Doch ist Verständnis für die Sehnsüchte nach einer heroischen Moderne der Musik unter den heute lebenden Musikhistorikern und Musikern angebracht; denn wie anheimelig romantisch und niedlich erhebend erscheint uns Heutigen der Fin de Siecle-Gegensatz des 19. Jahrhunderts, der im ästhetischen Wien des frühen 20. Jahrhunderts die Gestalt von okkulten und autodidaktischen Vororte-Geistern annahm, als deren Kehrseite die Wiener Heurigenseligkeit den Geist des authentisch Lokalen verbürgte. Das Fin-de Siecle des 20. Jahrhunderts bietet uns statt dessen eine Wüste und deren verwüsteten Gegensatz : Kleinformatige Zeitungen, grenzdebile Musiksender, volksvertröstende Talkshows, wüstenverstaubte Musikantenstadels und Massenevents jeder nur machbaren Sorte haben zu ihrer Kehrseite eine alternativ sich glaubende Kunstszene, deren Intellekt sich vom Nichts der Vorurteile verblassender Ideologien in Politik, Wissenschaft und Kunst ernähren muß.

Schleunigst sollte das ewige Musikland Österreich daher eine Behörde der Gemütlichkeit einrichten, um der sich steigernden Ungemütlichkeit Einhalt zu gebieten; ohne Heurigen- und Genieseligkeit ist das Leben bald nicht mehr das, was es für immer bleiben soll.