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060 Die List der Liste

November 2001

Es ist das höhere Vorrecht von Behörden auch internationaler Machart, Dekrete in die Welt setzen zu dürfen, die am Her- und Weitergang jener Welt, für die sie erlassen werden, kein Yota verändern, und die dennoch erlassen werden, weil die ererbte Macht der Behörde diese dazu drängt, die Berechtigung ihrer Existenz an der widerspruchslosen öffentlichen Hinnahme von Dekreten im Rang symbolischer Wortspenden als sinnwichtig und kulturschaffend zu erfahren. Wie es eine sich selbst erfüllende Prophezeiung gibt, so gibt es auch eine sich selbst erfüllende Bestätigung. Dies führt zwanglos zur überkulturellen Gretchenfrage: wer oder was mag am Bestand und Wirken von symbolischen Behörden der kulturschaffenden Machart ein nicht nur symbolisches Interesse haben?

Die Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, „bis auf wenige Blätter“ Hüter des Autographs von Ludwig van Beethovens Neunter Sinfonie, teilt der medialen Öffentlichkeit mit, daß am 6. Dezember 2001 in der Geburtsstadt des Komponisten ein kulturelles Großereignis stattfinden wird. Die Deutsche UNESCO-Kommission hat erwirkt, daß kraft internationaler Urkunde die im Jahre 1824 vollendete Sinfonie nach beinahe 180jähriger Wartezeit in die erlauchte UNESO-Liste vom „Gedächtnis der Menschheit“ aufgenommen wird.

Wie vom Geist symbolischer Dekretierung zu erwarten war, wird in der Verlautbarung des Erlasses mit feiner Unschärfe nicht zwischen Beethovens Neunter Sinfonie selbst und deren Autograph unterschieden: Aber wer wollte so kleinlich sein und dort noch die Perlen zählen, wo uns ein ganzheitlich geschmiedetes Geschmeide um den Hals gehängt wird?

Unterstellen wir mit gänzlich unsymbolischer Ruhe, die hohe Beethoven-Kommission als ordentliches Organ der allerhöchsten UNESCO-Kommission wäre bei ihren gewiß gewissenhaften und ebenso methodenschwierigen wie sachverzwickten Vorverhandlungen über die menschheitliche Positionierung einer neuen Kulturwertschöpfung von vernünftigen Begriffen und Grundsätzen ausgegangen und durchgehend geleitet gewesen. Die formidablen Axiome ihrer Begründungen und die vermittelnden Ketten ihrer Schlußfolgerungen wären folglich dem Urmodell des modernen Denkens über Musik und Musikkultur gefolgt.

Im unantastbaren Obersatz, über den nicht mehr oder nur mehr subjektiv dekonstruierend oder systemtheoretisch objektivistisch nachzudenken, die primäre und quasikultisch beruhigende Aufgabe des aufgeklärten Denkens der Moderne ausmacht, stünde also wie ein ehernes mosaisches Gesetz der Ursatz unseres Denkens über Musik: jede Musik ist von Menschen gemacht. Im Regal der vermittelnden Mittelsätze folgt wie von selbst eine ganze Riege von Mittelbegriffen, die gleichfalls so einleuchtend scheinen, wie das Licht vom hellichten Tag. Jede besondere Musik wird von besonderen Menschen gemacht; und weil geniale Menschen auch nur Menschen sind, leuchtet schon hier das Happy-End der aufgeklärten Schlußfolgerungsstory durch. Doch fehlt uns im Reich der Mittelsätze noch das Gelbe vom Ei: die Besonderheit jeder besonderen Musik, worin mag sie liegen und schlummern? Kein Problem; selbstverständlich in ihrer Qualität als einmaliger und unverwechselbarer Musik, gelbe Eigenschaften, die wiederum jene glückliche Unvergeßbarkeit für jedes künftige Menschheitsgedächtnis von Musik zu beantragen und zu verbürgen vermögen, nach der die Behörde des kollektiven Kulturgedächtnisses der Zukunft fahndet. Folgt im Schlußsatz konsequent, daß jede einmalige besondere Musik, obwohl nur von wenigen und großen Menschen gemacht, doch für alle die vielen und die kleinen Menschen gemacht wurde, die unsere Erde in aller behördlich zünftigen Zukunft bevölkern werden. Hat der Oberbeamte diesen seinen modern erborgten Grundgedanken lückenlos durchgedacht, darf sein Unterbeamter den Bleistift spitzen, der die Ehre haben wird, die gesuchten Exemplare der ganz besonderen Gedächtnis-Spezies aus aller bisherigen Kulturgeschichte feinsäuberlich in die Liste aller Listen einzutragen.

Und die behördlich beeidete Schlußkette der UNESCO-Kommission ist von einer derartig überartigen Allgemeingültigkeit, daß wir uns über ihr rückwirkend allmächtiges Gelten in und für alle vormoderne Geschichte und Musikgeschichte und ebensowenig über ihr vorwirkendes Gelten in und für alle Zukunft von Geschichte und Musik keine Sorgen mehr machen müssen. Schon ein Beethoven, obzwar besonderer Mensch und besonderer Komponist, hat letztendlich auch nur aus dem unerschöpfbaren und immergrünen Born eines adamitischen Musikgedächtnisses geschöpft; und wenn auch noch nicht an Hand von Listen und Dekreten, so doch als Mitglied eines musikgeschichtlichen Stafettenlaufes großer Menschen, deren menschheitlicher Marathon sich verläuft ohne Anfang und Ende.

Im Geist dieses modernen Credo an die Geschichte der Menschheit als Alpha und Omega ihres Sinnes wird der Sinn von symbolischen Kulturbehörden und ihrer symbolischen Tribunale scheinbar ganz symbollos und aufgeklärt logisch selbstbestätigt. Was heute gilt, das hat insgeheim auch gestern und immer schon gegolten, und was morgen gelten wird, das wird im modernen Hier und Heute festgelegt. Wir halten Gericht über uns selbst und alle anderen in Vergangenheit und Zukunft. Was kann uns daher noch geschehen, was könnte uns noch an unbewältigbaren Ereignissen begegnen und erschüttern, das nicht per Erlaß in einer menschheitlich in Besitz genommenen Welt und Geschichte endwertig festzuschreiben und hochwertigst aufzulisten wäre? Folglich konsequent der Versuch der Versuchung, die Gedächtnisleitung einer künftigen Weltkultur den planenden Händen und Köpfen von wertsprechenden Menschheitsbehörden zu überantworten. Wen wundert noch, daß auch unsere deutschgründliche Beethoven-Kommission dem hypermodernen Versuch der Versuchung, die musikalische Menschheit als Gottheit der Musik zu installieren, nicht widerstehen kann?

Im zweiten Jahrhundert nach Christi Geburt eilte Pausanias durch das hellenistische und römisch verwaltete Griechenland, um nicht nur in Olympia, Delphi und Athen die Pracht der übermenschengroßen Kultwerke und ihrer immer noch lebendigen Kulte aufzulisten und genau zu beschreiben. Doch beklagte er verschiedentlich, daß die Götter nicht mehr allerorts wie früher geehrt würden, weshalb sie sich immer mehr zurückzögen. Zwar blühten noch in jeder Provinz die geheimnisvollsten und kreativsten Liturgien, und das Gedächtnis an herkulische und mirakulöse Taten von Heroen, die einst von den Tischen der Götter aufgestanden waren, um prächtige Städte und Tempel zu gründen, sei immer noch lebendig. Auch lebe das kultische Wissen der Gottheit fort, daß die großen und einmaligen Kultwerke, wie der immer noch prächtig in Elfenbein und Gold zu Olympia thronende Vater Zeus, einem gewissen Phidias geoffenbart, nur als unmittelbar bezeugte Selbstoffenbarungen der Gottheit Sinn und Übersinn beherbergen.

Noch nicht verschwunden waren demnach die sogenannten Sieben Weltwunder der Antike, und noch lebten die priesterlichen Nachkommen des kultischen Künstlers der antiken Religion, um deren Tempel und Kulte, deren Mythen und Spiele, deren Orakel und Mysterien zu betreuen. Doch beklagt Pausanias, ohne behördlichen Auftrag wie ein Hermes der verschwindenden antiken Gedächtnisgottheit in den Ländern Griechenlands umherreisend, daß die griechischen Städte nicht mehr aus eigener Kraft imstande wären, neue Kultwerke und Prunkbauten, neue Theater und Bibliotheken zu errichten. Allein noch die philhellenischen Kaiser zu Rom, allen voran die kulturgütigen Behörden eines Antonius Pius und Hadrian, die zwar dem gleichzeitigen Kulturraub in den griechischen Provinzen auch nicht Einhalt gebieten könnten, seien angewiesen und befähigt, nochmals für den Fortbestand eines Lebens zu sorgen, um dessen Zukunft die Götter offenbar vergessen hätten, sich weiterhin zu besorgen. Und schon wenige Jahrhunderte nach Pausanias sollten dessen Nachreisende bemerken, daß der Verfall ein Verschwinden eingeleitet hatte, das ganz ohne behördliche Organisation die ganze Welt der antiken Prachttümer von der Liste gestrichen hatte.

Um die ganze Gedächtnissache daher übermodern und außer Dekret zu Ende zu denken: die sich selbst erfüllende Bestätigung, die sich Religionen und Künste in ihren Kulten und Kultwerken geben, bedarf nicht der Anleitung und des Schutzes einer Behörde von Menschheit, solange umgekehrt diese, die Menschheit, der Anleitung und des Schutzes durch bisherige Religion und Künste bedarf. Ist dieses „Solange“ daher an sein erschöpftes Ende gelangt, dann hat sich die Geschichte der Menschheit längst schon in ganz anderer Weise nach ganz anderen Bestätigungen ihrer Freiheit auf Suche begeben; und nur ein anmaßender Schelm von Geist kann vermeinen, den Ergebnissen dieser Suche durch Erinnerungsdekrete vorgreifen zu können.