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061 Die perfekte Melodie

Dezember 2001

Wenn alle großen internationalen Medien und sogar der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika wie auch die Königin von Großbritannien, Nordirland und Haupt des Commonwealth sich bemüßigt und aufgerufen fühlen, das Ableben eines Popmusikers zu kommentieren, als wäre ein großer Musiker und Komponist von uns gegangen, dann ist dies mehr als ein Indiz dafür, daß die demokratische Erste Welt, kulturelle Mutter aller säkularen Unterhaltungsmusik seit dem 20. Jahrhundert, die von ihr hervorgebrachte Popmusik als große im Rang einer Kunstmusik zu erleben, zu achten und zu deuten versucht, und daß sie deren Geschichte und musikalischen Denkmäler als bewahrenswerte Tradition einer Interpretations- und Wirkungsgeschichte zuzuführen beabsichtigt; ähnlich wie das bürgerliche 19. Jahrhundert nach Beethovens Tod alle ältere Musik und später auch Musizierpraxis einem historischen Remember zuführte, um daran die Grundlage zu gewinnen für ein großes, wenn auch nur mehr historisch getragenes Musikleben nach dem Ableben eines von ausschließlich gegenwärtigem Geist und Gesellschaftsleben getragenen Musiklebens.

Dieser These widersprechen bekanntlich die beiden Gegenthesen einer radikal neuen Musik einerseits, die sich während des 20. Jahrhunderts als gesellschaftlich verkannte große Musik einklagte, und einer radikal unterhaltenden Musik andererseits, die zwar über gesellschaftliche Präsenz und kollektiv aktualisierbaren Gegenwartsgeist nicht zu klagen brauchte, die aber vorerst mit ihren unzähligen Unterhaltungsmusik-Genres nicht darüber hinausgelangte, lediglich die für eine säkulare Gesellschaft unabdingbaren säkularen Initiationsriten Jugendlicher im Emanzipationszwang der sich gleichsam säkular beschleunigenden Generationswechsel zu gestalten. Während sich daher die neue Musik bis heute als einen verkannten und zu früh gekommenen Geist einer künftigen Gesellschaft deutet, deutet sich die Unterhaltungsmusik im Bewußtsein ihrer weltumspannenden Population als rechtzeitig gekommene Kunstmusik, aber inkognito verstellt unter dem Pseudonym „Unterhaltungsmusik“, eine verkannte neue Art von Kunstmusik folglich, die nicht nur die genannte radikal neue und sich als Avantgarde titulierende Kunstmusik des 20. Jahrhunderts, sondern auch die Kunstmusik der früheren Epochen als Erfüllungsinstanzen der wirklichen und eigentlichen Musik-Bedürfnisse der modernen Gesellschaft von heute und morgen im tiefsten Grunde ihres kulturellen Kollektivlebens überflüssig gemacht habe.

Einzig noch die Ewiggestrigen einer vorgestrigen Musik machten daher der universalen Unterhaltungsmusik von heute das Glück einer universalen Anerkennung als aktuelle Kunstmusik des 20. oder doch 21. Jahrhunderts streitig, und die nächste Zukunft werde daher zeigen und beweisen, wie ungerechtfertigt und bloß herrschaftselitär schon allein die Zuschreibung des Namens „Unterhaltungsmusik“ erfolgt sei. Und dem künftigen Glück der Unterhaltungsmusik des 20. Jahrhunderts als Kunstmusik des 21. Jahrhunderts scheint nun nichts mehr im Wege zu stehen, wenn in Tat und Wahrheit die rememberisierte Popmusik durch ein comeback forever in den Rang einer großen Kunstmusiktradition aufsteigen sollte, womit freilich die Chancen Arnold Schönbergs, als Mozart mit wirklicher Zukunft in die Musikgeschichte eingehen zu können, endgültig auf Null absinken würden. Angesichts und angehörs dieser Alternative müssen wir somit nicht mehr die Gugelhupfkategorie eines Unterganges des christlichen Abendlandes bemühen, um zu erkennen, daß im 20. Jahrhundert etwas Bahnenzerbrechendes im Innersten der Musik geschehen ist, das den weiteren Gang ihrer Geschichte irreversibel determiniert hat.

Aber warum nicht das Gegenteil annehmen, wenn auch nur um herauszufinden, welches Gegenteil vom Gegenteil die ganze Wahrheit über die Musik und ihre künftige Geschichte sein könnte? Wurden nicht auch Bachs Kantaten zunächst als Gebrauchsmusik für den Gottesdienst, wurden nicht auch Mozarts Konzerte zunächst zum Gebrauch amüsierender Unterhaltung für Hof und Adel komponiert, alle Arten der Operngeschichte bis auf Wagner als tumultuarisch genossene Gesellschaftsspektakel inszeniert, und Beethovens Streichquartette für ein paar Aristokraten zu deren intellektueller Emotionalergötzung tongesetzt, um erst nach und nach im historischen Remember ihrer ästhetischen Wirkungsgeschichte zu dem zu werden, was sie seither für ein paar Ewiggestrige geworden sind und wovon die ehemaligen Gebrauchswerke bei ihrer Geburt offenbar weder träumen wollten noch konnten? Und auch damals konnte und wollte es niemand wagen, das ästhetische Urteil künftiger Geschichte über die Gebrauchsmusiken der Vergangenheit vorwegzunehmen.

Nun genügt freilich ein kurzer Blick und Ohrengang, um zu erkennen, daß ein Popsong auch im Rang eines Welthits nichts weiter als ein bastardisierter Abkömmling der traditionellen Liedarchitektur sein kann. Doch wer stellt dies fest und aufgrund welcher ewiggestrigen Kategorien von Musik und Musikästhetik? Was im Bewußtsein von Millionen als „perfekte Melodie“ wahrgenommen wird, das muß den Einspruch von wenigen und aussterbenden Außenseitern der Musik nicht fürchten – sollte man meinen und glauben können.

Die säkulare Wunderkunst der Popmusik des 20. Jahrhunderts, unvergeßliche Melodien für Millionen zu schaffen, die für ein postuliertes „Für immer“ populär bleiben werden, scheint sich daher einer gegenwartsgetränkten Aktualmusik und ihrer -ästhetik zu verdanken, die nicht auf Vorgängermusiken und deren Ästhetiken rekurrieren muß, um sich als musikalische Kunst höchsten Ranges für eine Menschheit von morgen legitim zu empfehlen. Der musikalische Geschmack von Millionen scheint nicht irren zu können, auch und gerade, weil sich die Perfektheit des Produktes Welthit nur durch die weltumspannende Popularität seines Erfolges und dieser globale Erfolg sich nur durch die musikalische Perfektheit des Produktes begründet. Denn jede Musik, die zunächst als Gebrauchsmusik auf der Bühne Musikgeschichte erscheint, kann nur im Zirkel von Produktion und Rezeption erscheinen und nur im wirkungsgeschichtlichen Austragen dieses Zirkels das Schicksal universaler oder bloß partikularer oder gar keiner Anerkennungsbedeutung gewinnen. Das musikalisch Vollkommene ist nur als res facta im Gang musikalischer Kollektive und Generationen möglich und wirklich, entdeckbar und anerkennbar, komponierbar und musizierbar, erfahrbar und kodifizierbar. Schlechte Aussichten für einen rationalen Dialog verschiedener Musikkollektive, der mehr und anders als bloß postmodern tolerant sein möchte, weil verschiedene Zirkel, die nur als in sich kreisende möglich und wirklich sein können, nur um den Preis eines Verlustes ihrer Identität miteinander konferieren und praktizieren können.

Sagen wir nämlich, die musikalischen Produkte verschiedener ästhetischer Kollektive und Generationen seien unvergleichbar und Unvergleichbares dürfe man nicht vergleichen, dann tun wir das Gegenteil dessen, was wir zu tun behaupten. Über einen Song von George Harrison, ein Lied von Franz Schubert und eine Liedexpression von Arnold Schönberg auszusagen, diese drei seien in ihrer je eigenen Art und Weise perfekt und vollkommen, sie seien daher unvergleichlich und dürften nicht miteinander verglichen werden, bedeutet, da diese drei nicht verschiedenen Welten, sondern der Welt der Musik und ihrer geschichtlich erscheinenden Artenbildung zugehören, nichts anderes, als daß sie als gleichwertig und gleichrangig, eben als „Unvergleichliche“ verglichen wurden. Jede Art erhebt den Anspruch, in gleichwürdiger Weise die ganze Gattung zu repräsentieren, jeder Stil jeder Epoche beansprucht, sich stets gleichwertig unmittelbar – authentisch unschuldig – aus dem innersten Sinnzentrum der Musik über die Menschheit zu ergießen, und man wagt diese fulminante Intelligenz unseres gegenwärtigen Geistes von Musikleben kaum noch zu fragen, warum und wozu überhaupt noch die unsinnigen Einrichtungen von Musikarten und Musikgeschichte gut sein sollen, wenn immer schon alles gleich gut gewesen ist.

Aber dieses intelligenzlose Illusionswunder unserer modernen pluralistischen Toleranzästhetik ereignet sich nicht einmal im Reich der Natur; denn Ozean und Kontinent, Matterhorn und Waldhügel, Gold und Kieselstein, Schlange und Löwe, Maus und Elefant – und alles, was dazwischen liegt und kreucht und fleucht – sind zwar auch „unvergleichliche“ Größen, doch sowohl den Gebrauch wie den Sinn ihrer Existenz und daher auch die spezielle Hierarchie ihres schönheitlichen Erscheinens empfangen sie niemals allein aus der Unvergleichlichkeit ihrer Arten, die ohne vorgängige Gattungseinheit und deren Vergleichssystem nicht einmal aussprechbar wäre, sondern immer schon aus ihrem unaustauschbar sachnotwendigen Lebens- und Erscheinungsdienst für das reale und ästhetisch betrachtete Gattungsganze aller Arten, also einem hierarchischen Beziehungsgefüge von immer schon verglichenen Einheiten und Individuen, aus welchem absoluten Selbstvergleich heraus wir auch einzig und allein ästhetische Urteile, die mehr als bloß subjektive Einbildungen sein wollen, äußern können. Wer daher des Löwen Größe ehrt, muß das Lebensrecht der Maus keineswegs bestreiten. Und jede Kultur wird die natürliche Hierarchie ein klein oder groß wenig anders erleben und deuten. Daß aber die Maus, in den Läufen ihres hurtigen Zirkels befangen, kein Vermögen besitzt, den Löwen als Löwen mit sich von Maus zu Maus objektiv ästhetisch zu vergleichen, sollte, nicht der Maus, aber unserem Sensorium und Intellekt, sofern er sich über den mäusischen unserer Toleranzästhetik erhoben hat, unbedingt und sonnenklar einleuchten.

Wenn daher in der Perspektive der Hüttenbewohner von Songs auch die Paläste von Sinfonien, Opern und Liedern nur als Hütten erscheinen, und als vermeintlich abgewohnte und unbewohnbar gewordene noch dazu, dann ist dies nicht das Ergebnis eines Illusionswunders, sondern das traurige und beschämende Resultat der intelligenzlosen und selbstsüchtigen Projektion eines sich unvergleichlich vergleichenden Kollektivzirkels, der in allen seinen Vergleichen mit anderen Kollektivzirkeln stets von seiner eigenen Unvergleichlichkeit ausgeht, um an dieser die Unvergleichlichkeiten der anderen zu messen und zu vergleichen, die folglich bloß mit den Lippen des Mundes und den Masken einer verstellten Sprache anerkannt und zugebilligt werden. Ist alles unvergleichlich, ist der also Sprechende stets der Unvergleichlichste; ist aber wirklich alles nur unvergleichlich, dann ist alles gleich und gleichgültig – und es kann endlich mit gleicher Münze bezahlt und getauscht werden, womit die unvergleichliche Katze aus dem Sack springt, in den verpackt sie uns als vergleichsloser Bär aufgebunden werden sollte. Nur das angeblich Unvergleichliche läßt sich auf den alles ausgleichenden Märkten unvergleichlich gut verkaufen.