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062 Mikrotonalität

Dezember 2001

Wenn es für etwas, das es nicht gibt, dennoch ein Wort gibt, dann muß es gut erfunden oder noch besser gestohlen sein, um den Unterschied von Wunsch und Realität im Bewußtsein derer, die eine prominente Wortgestalt durch Generationen unreflektiert in den Mund nehmen, zu verschleiern. Denn da die gewünschte und erträumte Realität nun einmal nicht zu haben ist, muß man sich mit einem X von Wort ein U von Etwas vormachen, an dem man doch auch ein kommunizierbares Etwas besitzt.

Mikrotonalität heißt das Zauberwort, das eine Realität herbeizaubern soll, an deren Möglichkeit daher auch nur andeutend zu zweifeln, einem fundamentalen Tabubruch gleichkommt. Denn wo steht geschrieben, daß sich der durchschauende Begriff urplötzlich ermächtigen dürfte, ein allgemeines Recht auf Narrenfreiheit in der musiktheoretischen Begriffsbildung aufzuheben, weil er des Kaisers neue Kleider als solche dechiffriert?

Der Versuch, im Reich der Kleinstintervalle ein neues Tonsystem für eine wirklich neue Musik ausfindig zu machen, trieb die avantgarden Gemüter des frühen 20. Jahrhunderts zunächst noch auf den Spuren einer kleinstintervalligen Ultrachromatik um, die sich als Fortsetzung und Steigerung der spätromantischen Chromatik dachte, um deren musikalischen Erschöpfungszustand radikal zu überwinden. Hába und Wyschnegradskij wandelten insofern auf kühneren Wegen als Schönberg, dessen dodekaphones System lediglich die musikgeschichtlich erzwungene Atonalität als eine neue Art von Tonalität zu organisieren und kollektiv einzugewöhnen versuchte. Und obwohl uns mittlerweile der Glaube an Tonsysteme, welche imstande wären, das tonale universal ersetzen zu können, durch ein inflationäres Angebot an konstruierbaren Systemen gründlich ausgetrieben wurde, sind die Wortruinen des einstigen Väterglaubens noch da, und diese als solche zu erkennen und wegzuräumen, ist daher die unabdingbare Pflicht jeder Theorie von Musik, die diesen Namen verdient.

Um es kurz und schmerzlos zu machen: wer Tonalität als Grundbeziehungsgefüge der Dreiklangsintervalle für ein akustisches oder ein durch Stimmungssysteme oder ein durch Partialtöne fundiertes und manipulierbares Phänomen von Tonhöhenbeziehungen hält, begeht einen fundamentalen Irrtum, in dem sich die naturwissenschaftliche Denkweise unseres Zeitalters zum Dingfetischismus eines tabuisierten Aberglaubens an akustische Ursachen verfestigt hat. Reflexartig schießt uns daher beim Wort „Mikrotonalität“ die durch nichts begründbare Vorstellung ein, es sei doch wohl möglich, daß uns zwischen kleinen und kleinsten Tonhöhenabständen abermals so etwas wie „Tonalität“ begegnen könnte. Eine Begegnung, die uns folglich eine hand- oder maschinengestrickte Akustik vermitteln könnte – entweder vorgeführt von einer mathematischen Ingenieurkunst oder einer genialen Mikrotonkomponierkunst oder von beiden zusammen.

Wenn Mersenne und später Doni im frühen 17. Jahrhundert die Enharmonik Salinas dazu verwenden, die Oktave in reiner Stimmung in 31 und 39 Töne zu teilen, um auf einem Orgelinstrument mit sechzig Tasten in der Oktave reine Dreiklänge in verschiedensten Tonarten zu erhalten, dann entsteht der Schein, als ob auch die Reinheit des Dreiklanges an den „instrumentalakustisch“ erscheinenden reinen Dreiklängen durch vermeintlich mikrotonale Teilungen zustande gekommen wäre. Aber die Reinheit des Dreiklanges steht schon vor dessen Zurichtung in jedem Stimmungssystem fest; Oktave, Quinte und große Terz sind in ihrer Einfachheit Beziehungen, die nicht der Schwingungsphysik der Dinge und nicht der Physiologie des Ohres und auch nicht der Neurologie unseres Gehirns ursprünglich entspringen, und die auch nicht auf ihre Zahlenproportionen als letzte Quelle reduzierbar sind. Was daher „mikrotonal“ genannt wird, ist nichts weiter als die Anreicherung einer schon vorhandenen Intonationstonalität in unserem inneren Hören durch extern nachgereichte Mikrotonverhältnisse, die keiner Intonation tonaler Ursprünglichkeit jemals zugänglich sein können.

Wenn Vicentino im 16. Jahrhundert die Oktave in mitteltöniger Stimmung in 31 Töne teilt, um die antiken chromatischen und enharmonischen Tonarten einer vermeintlich antiken mikrotonalen Musik auf seinem arcicembalo mit 132 in sechs Reihen angeordneten Tasten wiederzubeleben, dann sind die dabei entstehenden großen reinen Terzen, die auf Kosten verkleinerter Quinten möglich werden, nicht die Eroberung einer vermeintlichen Mikrotonalität, sondern lediglich das Manipulationsresultat einer Stimmungsvirtuosität, über deren Wert für die Praxis die Musikgeschichte negativ entschieden hat. Und nicht besser erging es bekanntlich dem untemperiert gestimmten Harmonium und Enharmonium des 19. Jahrhunderts, an dem sich die Bastlerakustik eines Helmholtz, Ellis, Eitz, Engel und anderer austobte.

Am Beginn des 20. Jahrhunderts, als das Niveau des musiktheoretischen Denkens bereits so weit abgesunken war, daß man das temperierte Stimmungssystem als ein „natürliches“ und daher eine Zwölftonreihe im Rang einer „chromatischen Skala“ als ein Intonationsganzes anzuerkennen begann, anstatt seinen Rang als willkürliches Aggregat von Tonhöhen zu durchschauen, erklomm die Welt der vermeintlich mikrotonalen Kleinstintervalle den Rang einer futuristischen Verheißung. Für Busoni sogar die Eroberung einer tieferen und ursprünglicheren Natur der Musik durch eine Freiheit, die aller bisherigen Musik, deren Traditionsbildung nunmehr in ausgelebten Formen akademisch erstarrt wäre, verschlossen geblieben sei.

Die nun entstehenden Vierteltonklaviere und oft beinahe 50stufigen temperierten, in der Ekmelik sogar 72stufigen Systeme pro Oktave, die in detailgesättigten Harmonielehren vorgelegt wurden, mißbrauchten daher weiterhin das Wort „tonal“, obwohl der Bezug auf die Universalharmonie des absoluten Dreiklanges kaum noch eine Rolle spielte. Denn erst seit dem 20. Jahrhundert steht es uns frei und nur mehr frei, im Mikrobereich zwischen Halb- und Vierteltönen unzählige Zwischentonhöhen in Gestalt minimunder Kleinstintervallbeziehungen einzufügen, eine Einfügung, die beim gewöhnlichen Sprechen seit jeher schon geschah und immer noch geschieht. In diesem Mikrotonbereich können daher sogenannte „Zentren“ nach Belieben ausgesonnen und durch entsprechende Spezialinstrumente – in jüngster Zeit computergeneriert – ausgeführt werden; ob jedoch diese „Zentren“, die voreilig mit tonalen Zentralbeziehungen gleichgesetzt werden, mehr als konstruktivistische Mikrotonsysteme sind, könnte nur durch die Antwort auf die Frage entschieden werden, ob sie auch hörbar, intonierbar und musizierbar sind und sein sollen. Dieser Frage und Antwort glauben sich die gläubigen Anhänger eines Glaubens an Mikrotonalität entziehen zu können, indem sie den Glauben der akustischen Wissenschaften an akustische Ursachen der Tonalität teilen.

Bekanntlich vollbringen die neuen Technologien spektrale Organisationen von Mikroton-Intervallen mit einer kinderleichten Virtuosität, von welcher die Väter der Mikrotonmusik nicht einmal träumen konnten. Auch verabschieden die technologisch-elektronischen Instrumente, die jede beliebige Frequenz des Tonhöhenspektrums wiedergeben können, den traditionellen Unterschied von Mikroton- und Nichtmikrotoninstrumenten. Und der Strukturgenerator ist auch schon an besseren Konservatorien heimisch geworden.

Was ist eigentlich „akustisch“, und was ist eigentlich „Tonalität“? Diese beiden Fragen entweder für längst beantwortet oder durch naturwissenschaftlich operierende Wissenschaften für beantwortbar zu halten, zeichnet die Naivität des Denkens über Klang und Musik im wissenschaftlichen Zeitalter aus. Und diesem Wissenschaftsaberglauben entspricht kompensierend die Freiheit der beliebigen Begriffs- und Wortebildung, die wir uns im postmodernen Diskurs über die Grundlagen der Musik gönnen. – Wir können, was wir können; und wir scheinen alles zu können, weil wir alles können; aber dieses unser Seinkönnen ist ein hinfälliges und ephemeres. Wer mit Wyschnegradskij an den „mikrotonalen“ Cluster als vollkommenen Zusammenklang glaubt, gegen den die Oktave ein Greuel an Dissonanz wäre, wer mit Schönberg daran glaubt, daß der Unterschied von Konsonanzen und Dissonanzen ein bloß anerzogener Sonanzenunterschied sei, der würde mit diesen Meinungen, angewandt im Reich der Musikpädagogik, Kinder zu monströsen Zombies, zu musikalisch sprachlosen Tieren erziehen. Und wer mittels sogenannter Naturseptime oder abgestumpfter Jazzseptime glaubt, der absoluten Harmonie ein Yota hinzufügen und mit dem sinnlosen Schlagwort eines „Erweiterns“ sophistischen Wortestaub aufwirbeln zu können, der soll es tun und glauben. Doch stets wird er an der absoluten Definitionsmacht des Begriffes der absoluten Harmonie nicht erst scheitern, sondern immer schon gescheitert sein. Dessen unvergänglichem Seinkönnen kann weder widersprochen noch zuwidergehandelt werden.