063 Elfriedes Haß und Leiden
Jänner 2002
Ein authentisches und lebendiges Musizieren zu ermöglichen und zu entbinden, ist das letzte und oberste Sinnziel jeder Instrumental- und Gesangspädagogik. Doch haust in diesem Sinnziel eine Antinomie, die jeder Musikpädagoge bis in ihre letzten Gründe und Abgründe nach- und ausdenken sollte, um sich nicht als lebenslanges Opfer undurchschauter Selbstwidersprüche erfahren zu müssen.
Bringen wir die Antinomie zunächst auf zwei einfache Sätze: einmal sagt der Musiklehrer zu seinem Schüler: du mußt diese Musik authentisch ausdrücken; ein anderesmal sagt derselbe Musiklehrer zu demselben Schüler: du muß Dich selber als Musizierender authentisch ausdrücken. Wie vertragen sich diese beiden Dogmen, ohne deren Befolgung jeder Musikunterricht zu einem beliebigen Spiel entspannender Freizeitbeschäftigung verkommt?
Die beliebte Antwort, das Problem existiere gar nicht, weil ohnehin jedes Musizieren immer beides sei: Darstellung fremden und eigenen Ausdrucks, ist keine Antwort, sondern eine Reflex gewordene Abwehrhaltung und Antwortverweigerung. Weil jeder Musikpädagoge mit seinem Interpretationsdogma legitimerweise eins ist, widrigenfalls würde er seine Ansichten über Musik und Musikinterpretation wechseln wie seine Hemden, hat er für sich die Frage der Dogmenverträglichkeit gelöst, auch wenn ihn ein – ausnahmsweise kontroversieller – Schüler zu anderen Ansichten und Dogmen zu bekehren versucht. Ein solcher Schüler wäre kein Schüler mehr, sondern ein Kollege, und mit diesem müßte sogleich jener ebenso legitime wie unerbittliche Streit um Wahrheit und Lebendigkeit in Musik und Musizieren anheben, dessen dogmatischer Veitstanz jedes Fach der Instrumental- und Gesangspädagogik stigmatisiert.
Wie aber soll sich ein musikalisches Ich, dessen Selbstausdruck als Musizierender absolut eingefordert wird, selbsteigentümlich in einem nicht durch es selbst werkgestalteten Selbstausdruck eines anderen und meist längst verblichenen Ichs adäquat ausdrücken können? Müßte nicht das Sich-selber-Spielen des Musizierenden, das unvorhergestaltete Sich-Selber-Ausdrücken des Musikstudierenden in den Sprachmaterialien der Musik das erste und letzte Ziel einer zeitgemäßen Musikpädagogik sein, die sich der Worthülse Kreativität in jedem zweiten Satz ihrer Bekenntnisse bedient? Bekanntlich geschieht das Gegenteil: des Schülers Unterwerfung unter das legitime Interpretationsdogma des Lehrers, und Vertrauen und Gehorsam tragen diese aus der mittelalterlichen Handwerks- und Kunstgewerbekultur überkommene Lehrer-Schüler-Beziehung solange, bis ein anderes Dogma das vermeintlich eine und einzige des Lehrers verdrängt.
Aber wen interessiert eigentlich der Selbstausdruck eines Musikers? Nicht einmal ihn selbst, wenn er sich ehrlich befragt, denn auch sein intimes musikalisches Credo lautet letztlich: ich will gute und herausragende Musik machen, die im Bewußtsein von Zuhörern als erinnerungswürdige Musik erfahren und bestätigt wird. Ich will nicht der Zweck der Veranstaltung Musik, sondern deren höchstes dienendes Werkzeug sein, und nur als Mittel bin ich auch Zweck. Und auch meine Individualität soll nur dazu dienen, der wahren Individualität guter Musik zu einem triumphal kollektiven Erfolg zu verhelfen; und der Erfolg der Musik wird dann auch mein Erfolg sein. Das sollipsistische Schifflein des subjektiven Selbstausdrucks zerschellt im geschichtlich strömenden Sog und an den ehernen Klippen des objektiven Musikausdrucks. Und in der zur anthropologischen Universalie aufgeputschten Kategorie eines Musizierens, das ideologiepädagogisch als unersetzliche Ausdrucksweise des Menschen behauptet wird, formuliert sich nur das ohnmächtige Aufbegehren des Musikers gegen seinen Status als Künstler in Reproduktion.
Bekanntlich ist die Musik nicht nur die reproduktivste, sie ist auch die kindfähigste aller Künste. Ein Kind jedoch, das mittels einer reproduktiven Kunst zu einem Künstler des individuellen Selbstausdrucks erzogen wird, ist ein lebender Selbstwiderspruch, der nur scheinbar verschwindet, wenn entweder Jazz- oder frei improvisierte Musik als didaktischer und methodischer Ersatz aller komponierten Musik für ein freies Musizieren von Kindern angeboten und eingeübt wird; und unnötig zu ergänzen, daß die Musizierpraxen der U-Musik noch vorindividueller sind als die des Jazz. Kinder wollen nicht ihre, sondern die Sprache der Musik erlernen, und daß diese in viele zerfallen ist, wissen sie oft besser und genauer als jene Pädagogen, die allein ihre Musik und ihr Interpretationsdogma als allein seligmachende Lehren vorbringen müssen.
Selbstverständlich kann und soll der Musikunterricht die Kräfte des Selbstausdruckes von musikalischen Kindern in vorgegebenen Sprachen von Musik stärken; ohnehin in einer Zeit, in der die uniformierenden Idiotismen populärer Musikidiome ihr Zerstörungswerk flächendeckend besorgen. Aber Musik als Sprache eines Selbstausdrucks von Individuen ist seit dem 20. Jahrhundert als wirklich individuelle Sprache nur auf jenem Niveau möglich, auf dem sich die Komponisten neuer Musik bewegen; ein Niveau, das aber zugleich nicht als universale Basis eines modernen Musikunterrichts institutionalisierbar ist, weil ein nur auf Neuer Musik basierender Musikunterricht jene in den traditionellen Musiksprachen inkarnierten sozialen Kommunikationsweisen kollektiven Selbstausdrucks sprengen würde, denen sich zugleich die musikgeschichtliche Installierung von Musikunterricht überhaupt verdankt. Man kann nicht beides auf gleichem Niveau haben: das Glück der Reproduktion und das Glück der Individuation. Daher müssen Musik und Musikpädagogik ihr kindliches Anfangsniveau bewahren und stets neu definieren, um ihr soziales und traditionsbildendes nicht gänzlich zu zerstören.
Hätten wird Literatur-Schulen und – Literatur-Konservatorien, an denen ein individueller Umgang mit der Sprache der Worte, ein selbsteigenes Schreiben und Denken gelehrt würde, hätten wir uns fundamental vor der pädagogischen Lächerlichkeit zu hüten, Eleven heranzuzüchten, die sich in den Sprach- und Denkweisen eines Goethe und Schiller, eines Shakespeare und Balzac, eines Hegel und Nietzsche, eines Hölderlin und Rilke auszudrücken versuchten.
In der Sprache ist der universale und zugleich individuelle Selbstausdruck von Ichen geradezu das Ethos ihres Gebrauches von Worten und Kategorien; die Sprache ist Sozialität schlechthin; Musik und Musizieren eine nur spezielle; und in einem speziellen Idiom von Sozialität ein Leben lang sich ausdrücken und kommunizieren, geht nicht auf die Haut eines Individuums, das in der agonalen Lebenswelt der modernen Gesellschaft überleben soll können.
Die Legitimationskrise von Beruf und Berufung des Musikpädagogen mußte im 20. Jahrhundert akut werden, weil unter den säkular-diskursiven Bedingungen der modernen Gesellschaft die Kluft zwischen allgemein-sprachlicher und speziell-musikalischer Kommunikation zu einem Abgrund sich öffnete.
Obwohl sich daher die Musikpädagogen des 19. Jahrhunderts in der Sicht des 20. Jahrhunderts als „fürchterliche“ Typen und Charaktere ausnehmen – changierend zwischen musikpädagogischen Zuchtmeistern mit „preußischen“ Methoden und quasi-religiös versponnenen und skurril weltfremden Musikmagiern – wurde ihnen in der Literatur des 19. Jahrhunderts weithin Respekt und Ehrfurcht entgegengebracht.
Der Musikpädagoge des 20. Jahrhunderts hingegen wird spätestens seit dem 2. Weltkrieg nicht nur in den Romanen von Bernhard, Jelinek und Süskind erbarmungslos nieder- und aufgemacht und nach seiner psychopathologischen Typologie sortiert, in die sich die Ewigkeitspubertät der Achtundsechziger-Generation als krönende Spezies glänzend einfügt. Er mußte das literarische Füllhorn von Spott und Verachtung über sich ergehen lassen, weil er sich offensichtlich nach Maßstäben verhielt, nach denen er sich zugleich verhalten mußte und nicht sollte. Die Antinomie von Selbst- und Fremdausdruck offenbarte sich in der musikpädagogischen Unfähigkeit zu einer diskursiv vermittelten Kommunikation und in der literarischen Fratze zynischer Unversöhnlichkeit, als ob die Wunden der Unlust, die das pädagogisch beschädigte Kind erlitten, nur im erwachsenen Haß der schreibenden Selbstbefreiung heilbar wären.