064 Das schöne Wort schön
Jänner 2002
Gern zitieren Musiker und Musikpädagogen Kants Paragraphen über das begrifflose Wohlgefallen am Schönen; weil das Schöne uns unmittelbar ergreife und begrifflos gefalle, sei es nicht zu begreifen und nicht zu begründen, und daher sei, wie sich ein Musikhistoriker ausdrückte, das Schönste am Schönen das Wort schön. Dieser nominalistische Minimalkonsens scheint in der Tat für eine Epoche, deren Angebot an verschiedensten Musiken kaum noch zu überbieten ist, höchst praktikabel zu sein; denn im leeren Kofferraum des Wortes schön läßt sich mit einigem guten oder frechen Willen jede nur mögliche Musik ebenso anstands- wie begrifflos verstauen.
Nun hat aber Immanuel Kant ein ganzes Buch über den Begriff des Schönen geschrieben, und man muß nicht Gedankenkünstler sein, um zu erraten, weshalb es ausgerechnet die heißbegehrte Begrifflosigkeit ist, die stets wieder der Kritik der Urteilskraft entwendet wird, wenn sich Musiker und Künstler mit philosophischen Federn auf dem Kampffeld der Reflexion über das Schöne in Natur und Kunst zu rüsten und zu schmücken versuchen. Die narzißtische Begriffswahl hat tiefe epochale Gründe, und sie lassen sich am Niedergang des Schönheitsbegriffes seit den Tagen der Aufklärung exemplarisch veranschaulichen.
Noch im Systemprogramm des deutschen Idealismus – 1796 – trohnte die Idee der Schönheit als höchste im höchsten Ideenhimmel, da sich allein in ihr die anderen vereinigen könnten, weil „Wahrheit und Güte nur in der Schönheit verschwistert sind“. Bekanntlich stand nicht nur Goethes Schaffen, sondern auch sein olympisches Leben unter diesem ästhetischen Sternbild, das noch weit davon entfernt war, ein bloß ästhetisches zu sein.
Auch der frühe Hegel gab sich noch der Illusion hin, einzig durch das schöne Kunstwerk ließen sich alle Entzweiungen der modernen Welt versöhnen und heilen. Eine antikisierende Meinung, die er in seinem ausgeführten System bekanntlich dahingehend korrigierte, daß allein der Antike und ihrer mythischen Welt eine Kunst im Rang von realer Religion mit universaler Versöhnungskraft zu Gebote stand.
Heute – 2002 – im Zustand vollendeter und nicht mehr endender Moderne wissen wir, daß sich im und durch den Prozeß der Moderne Wahrheit von Güte, diese beiden von Schönheit und alle drei vom Heiligen trennen mußten. Da eine radikal säkulare Freiheit eine neue Welt begründen und herbeiführen sollte – nur wenige wissen wozu – mußten alle Reiche des menschlichen Daseins ihrer radikalen Autonomisierung zugeführt werden. Und dieser Prozeß ist ebenso abgeschlossen wie unabschließbar.
Daher ist die Formel vom Wahren und Guten und Schönen, in dessen Zeichen eine Kunst von morgen wieder als universale soll möglich werden, nur mehr als Kitsch einlösbar; und in der Alltagsprache ist die altväterische Ideen-Formel nur mehr als verhöhnendes Bonmot eines zynischen Weltkommentars praktikabel.
Die Verselbständigung des Schönen im Reich der Künste führte bereits im 19. Jahrhundert zu dessen beginnender Amoralisierung und Verbeliebigung – das Ästhetische wird Ästhetizismus. Der späte Vischer denunziert am Ende seine eigene Metaphysik des Schönen, weil das Schöne letztlich doch nichts anderes sei als eine bestimmte Art, die Dinge anzuschauen. Und der Versuch Schopenhauers, unter Rückgriff auf Kant und Platon nochmals gegenzusteuern, Kunst und vor allem Musik als neue Religion auszurufen, scheiterte sang- und klanglos, obwohl sich Wagner aus den Trümmern dieses Versuchs eine Künstlerästhetik zurechtzimmerte, die freilich erst recht die autonomisierende Emanzipation des Schönen und Musikalisch-Schönen vorantreiben mußte. Zwar sei das Leben jämmerlich und schrecklich, verkündet Schopenhauer, doch verfüge die Kunst und zuhöchst die Musik über die Kraft, von der Qual des Lebens und Lebenmüssens zu befreien. Vornehmlichst bewirke der kontemplativ genossene schöne Schein der Musik, daß uns alle Dinge des Lebens doch wieder schön erscheinen könnten. Nur ästhetisch sei das verdammte Dasein des Menschen zu rechtfertigen, und die Musik sei fraglos das berauschendste Elixier dieser Überlebenskunst, in deren Zentrum folgerichtig die Darstellung des schönen Menschen, womöglich des musikalischen, als eines neuen Gottes, einrücke, dessen Offenbarung und Verherrlichung die aktuelle Kunst zu dienen habe.
Diese Botschaft empfand Hanslick bekanntlich gar nicht als beglückend, und verzweifelt versuchte er daher, auf einem historistischen Weg das Musikalisch-Schöne auf bestimmte Formen der Wiener Klassik, die als verewigbare sollten gelten können, zurückzuführen und zu begründen.
Dies wiederum stieß auf Nietzsches Empörung, weil ein Schönes, das nur noch dazu tauge, die fruchtlosen Träume eines zum faden Klassizismus herabgesunkenen Ideals zu befeuchten, allein noch in den korrumpierten Abteilungen der damals entstehenden Trivialästhetik verhandel- und vermarktbar sei. Erstmals finden wir bei Nietzsche die bissige These über das „Schöne an sich“, das nichts weiter denn ein Wort sei. Wie würde Nietzsche, dem der Trip des überschönen Übermenschen seinerzeit gar nicht gut bekam und der auch seine Nachläufer nicht zu neuen Olympiern machte, heute über einen ewigjungen Michael Jackson staunen, und dies nicht nur weil dieser kürzlich in Amerika, im Land der immer noch unbegrenzten Möglichkeiten, zum „Künstler des Jahrhunderts“ ausgerufen wurde!
Die in der Romantik einmal angefachte Amoralisierung und Verbeliebigung des Schönen führte rasch an das scheingroße Tor der Moderne, an dem die Futuristen bereits warteten, um den höchsten ihrer fliegenden Vögel abzuschießen. „Der Krieg ist schön“, verkündete Marinetti, denn niemand könne der prächtigen Sinfonie aus Gewehrfeuer, Kanonaden, Parfums und Verwesungsgerüchen widerstehen. Im Krieg als Gesamtkunstwerk vollführte die Amoralisierung des Schönen jenen salto mortale in die reale Geschichte, aus der sich sowohl die Theorie wie auch die Kunst eines autonomisierten Schönen nur mehr mit gebrochenem Rückgrat an die säkular gedeckten Tische des modernen Tages erheben sollte.
Ist nämlich das Schöne dem vollständig autonomen Künstler und seiner Phantasie – jenseits verbindlicher Güte und Wahrheit und gar Heiligkeit überantwortet – dann frönt er einer Emanzipation, der er zugleich nicht mehr froh werden kann; geradezu Lichtjahre entfernt sind plötzlich die Tage und Bücher Kants, in denen das Schöne nur als Symbol des Sittlich-Guten zugelassen war, und die schöne Kunst nur deshalb Kunst eines Genies war, weil sie aussah und erklang wie eine von Natur geschaffene.
Diese Salbung des Kunstschönen mit dem metaphysischen Schein eines Naturschönen bemühte im 20. Jahrhundert nochmals die Ästhetische Theorie Adornos, doch selbstverständlich nur mehr unselbstverständlich, weil das Schöne in der modernen Kunst nur mehr negativ erscheinen könne. Adornos unzeitgemäßer Rettungsversuch des Schönen, das sich in der Mimesis an ein Naturschönes an sich in den modernen Künsten restauriere, war aber nur im marxistischen Konzept einer materialistischen Definition von Geist und Geschichte als Begründung der nicht-mehr-schönen Künste der Moderne sinnvoll.
Dieses schönen Bürgerglaubens an die schöne Natur als letzten Hort möglicher Transzendenz für den edleren Marxisten bedurfte Lukacs nicht, als er seiner normativen Kunsttheorie eines „sozialistischen Realismus“ ein klassizistisches Konzept des Schönen ungeniert unterjubelte. Noch hemmungsloser, aber auch freudloser bestimmte Freud das Wesen des Schönen, das er umstandslos aus den Gefilden des Sexualempfindens ableitete. Jetzt weiß die staunende Menschheit daher, daß sie auf das Erscheinen von Onkel Doktor Freud aus Wien warten mußte, um erkennen zu können, woher das Schöne eigentlich kommt und woran man mit ihm eigentlich ist.
Die Berufung auf die Begrifflosigkeit des Schönen trägt heutzutage nur mehr postmoderne Eulen nach Athen. Daß das Schöne der Künste, zuletzt das der Musik, einzig und allein an und durch die absolute Historizität ihrer Geschichte bestimmbar ist, sollte daher auch in die Reflexion von Musikern und Musikpädagogen eingehen können, die das Schöne, wenn nicht als Grund, so doch als schmückenden Teppich der gegenwärtigen Musizierpraxis unterlegen wollen. Denn das Schöne der Musik schwebt weder über deren Geschichte, noch ist es am historischen Pegelstand musikalischer Formen ablesbar; was die Schönheit der traditionellen Kunstmusik über jene der unterhaltenden Musik stellt, ist nicht zuerst und zuletzt ein Formunterschied, sondern die einst möglich gewesene untrennbare Identität von Gehalten und Formen, die ohne ihre Gehalte nicht musikalische Wirklichkeit hätten werden können. Das Musikalisch-Schöne als Geschichte von Gehalten, die den Stilen und Werken zugleich transzendent und endgültig inkarniert sind, setzte die Möglichkeit einer absoluten Vereinigung von Form und Inhalt in einem Schein von objektiver Natürlichkeit voraus, und diese universale Möglichkeit einer Vereinigung und Versöhnung durch Musik hing am Zustand einer Welt und Menschheit, in deren alteuropäischen Herzen die höchsten Ideen noch ungetrennt und untrennbar ineinanderschwangen.
Der Inhalt der Sonata facile ist ihrer Form ebenso endgültig inkarniert wie zugleich auf keines ihrer Formmomente rückführbar. Und das Ganze ihr Form ist unmittelbar nur das Ganze ihrer Form. Also muß sich die Vermittlung des Gehaltes mit dem Ganzen der Form stets neu bestimmen, stets neu erhören und ermusizieren; obwohl keine andere Form zugegen ist als jene, die wir kennen, weshalb die Inkarnation des transzendenten Inhaltes eine vorgegebene Unmittelbarkeit vorstellt, die einzig durch die absolute Historizität des Musikalisch-Schönen absolut vermittelt ist. Absolute Musik war und ist nur als absolut schöne Musik möglich und sinnvoll.
Nur weil Gehalt und Form und deren Einheit an den absolut schönen Werken endgültig bestimmt sind, sind diese in eine Wirkungsgeschichte entlaßbar, in der sich der Gehalt ihrer ästhetischen Ideen auch an den Formen bis ins kleinste Detail stets neu und anders entdecken und bestimmen läßt. Die Reproduktion von Musik als Interpretation ihrer Geschichte, ein spätes Ereignis später Kulturen, setzt ein wirkungsgeschichtliches Kontinuum fortwirkender Schönheit frei, in dem sich der unendliche Gehalt wahrhaft ideengezeugter ästhetischer Ideen in der Kraft unendlicher Interpretationsvielfalt enthüllen soll.