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069 Improvisation

Februar 2002

Wie der Schneider zwischen engen und weiten Hosen, unterscheidet die Wissenschaft der Musik zwischen engen und weiten Begriffen des Musikalischen. Der weiteste Begriff musikalischer Improvisation wird demnach jener sein, in dem auch dessen weite Hose nochmals in einer weiteren Hose verschwindet: in dem Begriff von Improvisation überhaupt; und der engste Begriff musikalischer Improvisation wird jener einzelne sein, den wir nur an einer soeben musizierten und gehörten Improvisation durch luzide Abstraktion und virtuose Beurteilung aus dem Meer der Musik an das Ufer der Insel Sprache ziehen können.

Das Sprüchlein des weitesten Begriffes ist rasch aufgesagt: wo das Unerwartete geschaffen wird, da ist Improvisation, nicht die Stagnation des Immergleichen und auch nicht das gesetz- und regellose Chaos, in dem zwischen Bleibendem und Neuem, zwischen Erwartbarem und Unerwartetem nicht unterschieden werden kann. Weil also das Unerwartete und Unerwartbare nur im und gegen das Feld des regelhaft Immergleichen als Unerwartetes und Überraschendes geschaffen und erfahren werden kann, ist die Improvisation nur möglich, wo wenigstens einige statuarisch vorgegebene Regeln und Inhalte als stets miterwartete gleichbleiben.

Jeder Sport und jede Show bemühen sich daher, in dieser weitesten Hose von Improvisation ihr Publikum zu überwältigen. Und selbstverständlich ist der Sport ehrlicher und wahrhafter als jede Show, weil er das Überraschende nicht inszeniert, sondern durch sein Spiel wirklich spielt. Wir wissen zwar zum voraus, wie die Spiele des Sports gehen, nicht aber wie sie ausgehen; und dies gilt für jeden Abschnitt des Spieles, für jede einzelne Szene, ja für die kleinste Aktion in jedem Moment des Spieles von Sport. Der Sport ist daher die wahrhafte Religion einer Entleerung des Geistes unter dessen säkularen Existenzbedingungen; seine Kraft, zur kulturenübergreifenden Globalisierung einer neuen Menschheit beizutragen, größer als die der Künste und bestehenden Religionen. Und das weltweit eingeübte und alle Völker nach strengen Regeln und exorbitanten Märkten verbindende Fußballspiel ist die Inkarnation dieser erspielten tabula rasa des Weltgeistes und die einzige aktuelle Weltniederlage der United States of America; denn was ist Football gegen Fußball? Der Rückfall einer fußintellektuellen Mannschaft in die neoarchaische Urhorde einer raufwütigen Körperschaft.

Folglich muß die Hose der musikalischen Improvisation enger sein. Wer aber bestimmt und definiert deren Maße und Grenzen, wenn doch gilt, daß Improvisieren mit und in Klängen immer schon war und immer sein wird? In jeglichem Material und Formwesen, an jeglichem Inhalt und Ausdruckswesen. Zwar widerspricht uns kein Besonnener, wenn wir behaupten, daß Improvisieren nicht Interpretieren und auch nicht Komponieren und schon gar nicht Hören von Musik ist; und kaum jemand wird hellhörig und einer Schwindelei uns verdächtigen, wenn wir in einem zweiten Satz den ersten wieder aufheben, indem wir behaupten, daß die Übergänge zwischen den genannten Spielen der Musik überaus fließend sind. Denn das ist so recht nach dem Gusto eines Publikums und auch von Künstlern, denen es nicht um das Begreifen, sondern um das Wechselspiel von Spielen geht, die in überraschender und spontan improvisierbarer Weise nach Belieben ineinander verwandelbar bleiben sollen. Also scheint kein allgemeiner Begriff musikalischer Improvisation zu existieren, der eindeutig gegen die anderen Grundspiele der Musik gestellt bleibt und als Gattungsbegriff für alle musikgeschichtlichen Arten musikalischer Improvisation dienen könnte – wie auch die Regeln des Fußballspiels nicht aus den Regeln eines Ballspieles überhaupt deduzierbar zu sein scheinen. Der Teufel aller systematischen Begriffsbildung liegt auch bei den musikalischen im Detail des historischen Erscheinens der systematischen Begriffe von Musik. Aber der Teufel könnte sein Spiel nicht treiben, wäre er nicht gezwungen, seine Spiele zuzeiten zur Ehre höchster und wahrhaftigster Spiele spielen zu müssen. Die Wahrheiten konkreter geschichtlicher Dinge in einem reinen Begriffshimmel jenseits der Geschichte aufsuchen zu wollen, war nur kurzfristig sinnvoll in der jungfräulichen Epoche einer scheinbar unschuldig fragenden Aufklärung.

Was unterscheidet eine Improvisation im Feld des Generalbasses von einer des stupend musizierenden Jazz; das Improvisieren im sakralen Gelände des gregorianischen Chorals von der Alternativ-Praxis des volkseigentümlichen Jodelns; eine Kadenzimprovisation der Konzertkultur der Mozart-Epoche von den sogenannten aleatorischen Improvisationen zufallsdeterminierter Musik der Cage-Epoche?

Stürzen wir uns dergestalt von den wohlfeilen Inseln wissenschaftlicher Abstraktbegriffe in den Strom musikgeschichtlicher Konkretbegriffe, taumeln wir zunächst hilflos und ohne bewahrenden Schwimmreifen und orientierenden Kompaß von einer Strömung zur anderen; abgetrieben von jener und zugetrieben zu dieser erleben wir in jeder durch deren Repräsentanten, wie das Einzigartige ihres Improvisierens übertrieben und das der anderen hintertrieben wird.

Da kommt überraschend Freude auf, denn ein speziell neuer Strom, der seit kurzem im Meer der Musik vor sich hintreibt, verspricht durch ein musikalisches Cross-Over aller nur verfügbaren Arten von Improvisation sowohl eine globale musikalische tabula rasa wie zugleich deren produktive synkretistische Überwindung. Wir ahnen eine Überraschung oder doch nur deren Inszenierung: der archimedische Punkt im System der Musik und ihrer Geschichte, das wahrhaft allgemeine Gesetzes- und Regelsystem für ein globales Improvisieren und Musikschaffen könnte kurz vor seiner Entdeckung und Globalisierung stehen. Nicht nur wären damit unsere bisher unüberwindlichen Schwierigkeiten, die system-wissenschaftlich konstruiert überzeitlichen Begriffe eines ewig konstanten und womöglich natürlichen Improvisierens und Musikschaffens mit deren jedesmaligen Vernichtungen durch die furiosen Veränderungen von Kultur zu Kultur, von Epoche zu Epoche, die keinen musikalischen Stein auf dem anderen belassen, in vernünftiger Weise zusammenzubringen. Auch über den menschheitlichen Wert und musikästhetischen Rang der verschiedensten Arten von Improvisieren und Musikschaffen kann vielleicht entschieden werden, wenn uns die aktuelle Artenvielfalt ihre Fähigkeit, in einen neuen Weltstil von Musik und Kunstmusik integrierbar zu sein, beeindruckend vorgeführt und bewiesen hat. Und außerdem könnten wir schuldlos mit der Ansicht sympathisieren, daß sich just im gegenwärtigen weltgeschichtlichen Augenblick, da sich die Menschheit anschickt, ihre universale Vereinigung endgültig einzuleiten, gleichfalls alle bisherigen Weisen von Musik und Musizieren nach universalen Gesetzen und Regeln vereinigen müssen und können. Das wahre Eldorado des musikalischen Improvisierens und Musikschaffens stünde unmittelbar vor seiner Entdeckung und Eroberung, und nicht nur wäre der von den modernen Europäern so gehaßte musikalische und musikgeschichtliche Eurozentrismus endlich beim Teufel, wo er vermeintlich immer schon war, auch die künftige Geschichte der Musik könnte endlich beginnen, eine von originärer Weltkunstmusik unter dem Dachsegen der Vereinten Nationen einzuleiten.

Daß dieses Märchen zu schön ist, um wahr sein zu können, weiß jeder, dem das Durchqueren der aleatorischen Improvisations-Strömung in den Cage-Gewässern als unvergeßlicher und unbewältigbarer Kälteschock durch die Glieder seiner Erinnerung rieselt. Während nämlich im Cross-Over-Strom von einer Weltmusik auf der Basis weltmusikalischer Improvisationsregeln und -inhalte geträumt wird – ein ebenso verführerischer Musiker- wie zugleich abstoßender Komponistentraum – werden wir im Cage-Strom bis heute eines Musikers angesichtig und angehörig, der einer Weise von Improvisation huldigt, der nichts mehr vorgegeben ist als des Musikers Stimme, Hand, Mund und Body und das zur Malträtierung freigegebene Arsenal traditioneller und technologischer Instrumente sowie aller Gebrauchsdinge ad libitum.

Folglich eine tabula rasa von Improvisation ganz anderer Art, die kraft ihrer Intention, neue Klänge aus dem Nichts von Musik und Musikgeschichte zu erzeugen, unmittelbar in eine tabula rasa des aktuellen Komponierens von Musik kollabiert, das wiederum, weil eben darin zu seiner vollkommen regellosen Kreativität befreit, unmittelbar in jenes freihändige Improvisieren zurückkollabiert. Beide Systeme haben aneinander nur mehr den Halt gegenseitiger Haltlosigkeit, die Instabilität ihres Wechselspiels ist ihre einzige Stabilität, beide sind nicht mehr System, sondern ein unendlich fallendes Chaos. Sie zelebrieren ein Verschwinden von Improvisieren und Komponieren, nicht indem sie lediglich an die Grenze der Musik gehen, sondern über die Grenze der Musik hinaus in deren Niemandsland, an das bereits alles andere grenzt, das nur mehr alles andere und nicht mehr Musik ist. Und wir wissen auch längst, was dies bedeutet: die Einkehr der Musik in ihre erfüllte Geschichte; und allein diese Kehre ist der Musik wahrhafte Universalität und Globalisierung.

Gewiß zählt das spontane und regellose Erzeugen von Klängen und Geräuschen zu den ersten Begeisterungen des Menschen als Kleinkind. Aber die globale Rückkehr einer weltmodernen Kunstmusik in den Kindergarten würde sie als öffentlichkeitsfähigen Partner einer Menschheit disqualifizieren, die den Zustand reflektiertester Sprachlichkeit erreicht hat. Musik im erreichten Zustand totaler Sprachlosigkeit kann uns nur mehr als Abenteuer eines Aushaltens im Feld erwartungsloser Erwartungen und eines Ertragens spielloser Spiele erreichen.