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066 Das musikgeschichtliche Wirkungsquantum

Jänner 2002

Wer die konkreten Funktionen aller Einzelmomente durch und für das Ganze eines musikalischen Kunstwerkes erkannt hat, scheint dessen ewigen Begriff unangreifbar in der Tasche zu haben. Da es nicht der Zweck und Sinn musikalischer Kunstwerke ist, Ausdruck ihrer Zeit zu sein, denn das Insgesamt einer epochalen Zeit kann und soll nicht Thema einzelner musikalischer Kunstwerke sein, und da es ebenso nicht Zweck und Sinn musikalischer Kunstwerke ist, Selbstausdruck eines großen oder kleinen, immerhin Genie und Komponist genannten Menschen zu sein, interessiert uns daher auch an den musikalischen Kunstwerken der Vergangenheit zurecht nur deren wahrhaft individueller Ausdruck, und diesen auf den Begriff zu bringen, bemüht sich jeder Musikpädagoge, der sich auf eine Unterrichtsstunde vorbereitet, in der er einem Studenten des 21. Jahrhunderts eine Invention Johann Sebastian Bachs aus dem 18. Jahrhundert verständlich und musizierbar machen soll.

Wohl haben wir uns irreparabler Weise angewöhnt, musikalische Kunstwerke als Ausdruck ihrer Zeit und großer oder kleiner Menschen zu deuten, ähnlich wie wir die untätig gewordenen Werkzeuge vergangener Äonen – Tonscherben, Bauernmöbel, Postkutschen, Briefe und Haarlocken – als Dokumente ihrer Zeit zum Sprechen zu bringen versuchen; aber dieses Lesen von Dokumenten der Geschichte als Zeugnisse vergangener Welten und Geister auf die Welt und Geschichte der Kunstwerke übertragen, kommt einer totalen Verkennung ihres Wesens gleich. Denn die Aufgabe der Geschichte einer Kunst ist es nicht primär, Ausdruck ihrer Zeit, sondern zuletzt und zuerst Ausdruck und Findung ihres eigenen Wesens zu sein. Die Epochen der Musik daher als Ausdrücke ihrer zeit- und geistesgeschichtlichen Epochen aneinanderzureihen, ist nichts als der hilflose Versuch, der Desorientierung eines historischen Bewußtseins von Musik, dem alle vergangenen Musiken und aktuellen Musikkulturen gleichzeitig und gleichwertig geworden sind, zu einer äußerlichen Orientierung zu verhelfen. Da sich jede und daher auch unsere musikalische Gegenwart als letzte Diskretion von Gewordensein an das ununterbrochene Kontinuum der Musik-Geschichte anfügt, sind folglich auch wir einem musikimmanenten wirkungsgeschichtlichen Kontinuum unterworfen, wenn wir uns Begriffe vergangener musikalischer Kunstwerke bilden, und zur Findung und Fassung dieser Begriffe trägt der Zeugnischarakter der Kunstwerke vergangener Kunstgeister als Ausdruck vergangener Epochen nichts bei.

Das Adagio eines Mozartschen Klavierkonzertes ist ein totaler funktionaler Zusammenhang aller seiner Momente von Material, Form und Inhalt. Es drückt einen Inhalt aus, der nur durch seine Form ausdrückbar und dennoch nicht mit dieser tautologisch identisch ist. Denn in diesem Fall wäre das Adagio nur ein Spiel von Tönen, nicht ein Ausdruck von Geist. Diesen nennen wir mozartisch, weil ein universaler Personalstil als Individuation eines universalen musikalischen Epochenstils alle genannten Momente durchdringen und zu universalen Tonideen erheben kann. Nicht drückt das Adagio etwas Unsagbares aus, sondern etwas nur durch Musik Sagbares. Weil uns aber die Übersetzung des in den Mozartschen Tönen auf das Bestimmteste Ausgedrückten in Worten nicht geraten will, reden wir gedankenlos das epochale Vorurteil nach, Musik sage etwas Unsagbares aus; als ob uns das Adagio nicht soeben deutlich genug gesagt hätte, was es uns zu sagen hat.

Auf das Bestimmteste findet daher in unserem Adagio jenes musikalische Theater statt, auf dessen Bühne die Gestalten von Freude und Trauer, von Verzweiflung und Erlösung, von Melancholie und deren Tröstung in den Masken von mozartischen Tonideen vor uns und durch uns hindurch wandeln. Und kein Gedicht aus Worten, und wäre es noch so individuell bemüht, allein nur den totalen funktionalen Zusammenhang des Mozartschen Adagios zu umkreisen und übersetzend auszudrücken, vermag das Sagen der mozartischen Musik in ein Sagen der Worte und Begriffe zu übersetzen. Das Mißverständnis einer Berufung auf das vielberufene Unsagbare erklärt sich aus dem säkularen Wunsch der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, Musik als Kunst in den Rang einer Ersatzreligion zu erheben. Das wirklich Unsagbare ist allein das präexistierende Absolute – das in der Geschichte der Menschheit entweder nicht mehr oder noch nicht erscheinende Sagen Gottes und die durch keine Kunst und Wissenschaft aussagbare Totale am Kontingenten jedes Lebensaugenblickes und Weltgeschehens.

Jeder Musikpädagoge und Musiker, der sich im 21. Jahrhundert irgendeinem musikalischen Kunstwerk vergangener Epochen zuwendet, muß sich folglich mit den Formfunktionen der Werke im Zusammenhang der mimetisch symbolisierten Inhalte und verwendeten Materialien nicht nur beschäftigen, sondern zugleich seinen individuellen Vorschlag einer Umsetzung der Werke in die Praxis heutigen Musizierens und Musikverstehens standhaft vorbringen. Im harmonisch-melodischen Formenbereich wird er daher irgendeine Version oder Mischung von Stufen-, Funktions- und Schichtentheorie, im thematischen Bereich irgendeine Version motivisch-thematischer und gattungsarchitektonischer Theorie und Methode, im interpretatorischen Bereich irgendeine Version von musikalischer Interpretation auf eine Musik, die dem Geist und Musizieren vergangener Epochen entsprang, applizieren müssen. Und über die geheimnisvolle und vermeintlich unaussagbare Beziehung der Formen auf die Inhalte der Werke wird er oft nur mit entweder vorgehaltener Hand oder mit nachgelassenen biographischen Anekdoten plaudern können und überaus dankbar sein, wenn ihm aus den Gebilden der wortgebundenen Musik der musikalische Inhalt als selbstverständliche Beinote des Textes entgegenzutönen scheint. Als gründete im Textinhalt von Mozarts Bildnisarie deren musikalischer Vollendungscharakter.

Da die Fundamente unseres Verstehens vergangener Musik notwendigerweise jenem Jahrhundert entstammen müssen, das die Selbsthistorisierung der Geschichte der Musik nach Beethovens Tod einleiten mußte, weil die genannten musikalischen Formtheorien aus dem Werkefond der klassisch-romantischen Musikepoche abstrahiert werden mußten, bleiben wir Jünger des 19. Jahrhunderts auch dort, wo wir dieser musikgeschichtlichen Horizontschwelle entweder durch eine Rückwärtsflucht in die vorklassischen Musikpraxen oder gar durch eine Aktualflucht in die modernsten, etwa aleatorischen Praxen der Neuen Musik zu entfliehen versuchen.

Weil sich der ewige Gehalt einer Bachschen Invention und eines mozartischen Adagios weder aus den Usancen modernster Musikpraxis und Musiktheorie noch aus den vermeintlich original restaurierten Musikpraxen und -theorien der „damaligen Zeit“, aber auch nicht durch eine Übertragung und Rückprojektion der Kategorienarsenale des 19. Jahrhunderts auf die vorherigen Musikjahrhunderte für das Musizieren und Musikverstehen von heute wirklich erschließen läßt, stellt das musikimmanente wirkungsgeschichtliche Kontinuum der Musikgeschichte sowohl das Theorem eines ewigen Werkgehaltes wie auch die scheinbar selbstverständliche Annahme identischer Werkgestalten an den Pranger eines universalen Zweifels. Mit diesem wird sich daher das nächste Philosophon beschäftigen, es wird am eingangs formulierten Satz: – Wer die konkreten Funktionen aller Einzelmomente durch und für das Ganze eines musikalischen Kunstwerkes erkannt hat, scheint dessen ewigen Begriff unangreifbar in der Tasche zu haben -, die Schalen dieses Scheins zu entblättern versuchen.