067 Das Umkreisungsspiel
Februar 2002
Nach Meinung der einen ist die Wahrheit eines musikalischen Kunstwerkes vorgegeben; der Interpret hat sie lediglich zu interpretieren und zu reproduzieren; nach Meinung der anderen ist die Wahrheit eines musikalischen Kunstwerkes nicht vorgegeben, sondern wird erst durch die Interpretation hergegeben. Nach der ersten Meinung ist das Kunstwerk fix und fertig da, auch wenn es nie interpretiert wurde; nach der zweiten Meinung ist das Kunstwerk inexistent, wenn es nicht durch eine Interpretation existent wurde.
Dies sind zwei Sätze, deren Inhalte einander ausschließen, und daher scheinen wir uns für einen der beiden Sätze entscheiden zu müssen. Denn nur einer der beiden scheint wahr, der andere falsch zu sein. Wer dies meint, hat noch nicht auf die Logik meinender Sätze reflektiert; er hat übersehen, daß jeder der beiden Sätze seinen Inhalt nur behaupten kann, indem er den Inhalt des anderen ausschließt; er schließt also den ausgeschlossenen Inhalt in sich ein, er konstituiert und bezieht sich auf seinen eigenen Inhalt nur, indem er den anderen mitkonstituiert und ihn als ausgeschlossenen in sich einschließt. Beide Sätze sind daher als verselbständigte nur unwahre Meinungen; in ihrer Wahrheit aber sind sie Teilsätze eines dritten und ganzen Satzes, der folglich aus zwei Teilsätzen besteht, die einander widersprechen. Und nur in der Perspektive dieses dritten Satzes erkennen wir, daß und wie die beiden gemeinten Sätze einander bedingen, weil sie als Teilsetzungen eines ganzen Satzes, dessen zerteilte Erscheinung sie sind, erscheinen. Lediglich das erscheinende Denken des Meinens trennt also die beiden Teilsätze und macht sie zu selbständigen Sätzen, die sich vermeintlich selbst begründen und als wahrhafte behaupten könnten.
Unter welcher Logik von Sache dürfen und müssen wir uns daher für beide Sätze als untrennbare Satzung eines Gesetzes entscheiden? Wie können wir begreifen, daß das musikalische Kunstwerk zugleich vorgegeben und nichtvorgegeben, die Interpretation zugleich hergebend und nicht nur hergebend ist? Welches erhellte Denken fordert jener höhere ganze Satz von uns, wenn wir das Wesen musikalischer Kunstwerke in der Auslegung durch ihre Wirkungsgeschichte nicht verfehlen, sondern wahrheitsgemäß erfassen wollen?
Fragen wir nach der 313. Sonate Domenico Scarlattis, dann wissen wir, daß sie nicht die 312. und nicht die 314. ist; ihre numerische Identität ist also durch eine nachbarschaftliche Negation gewonnen, auch sie ist durch Ausschluß anderer, den sie in sich einschließt, mit sich identisch. Das Gesamtwerk Scarlattis wiederum durch Negation anderer Gesamtwerke; sein Stil wiederum durch den anderer Stile; seine Epoche wiederum durch die anderer Epochen usw usf bis hinauf zu jenem Satz, den wir schon kennen: Das Werk existiert vor seiner Interpretation, indem es nicht vor seiner Interpretation existiert.
Fragen wir nach einer bestimmten Interpretation der 313. Sonate Domenico Scarlattis, die sie als Werk auf der Bühne der Musikgeschichte erscheinen läßt, etwa nach einer Aufführung oder Einspielung durch Gould, Horowitz, Leonhardt oder Schiff, dann wissen wir, daß jede Interpretation eine umstrittene sein muß; nicht nur, weil jeder Interpret ein anderer ist als jeder andere, sondern weil jener Urstreit zwischen Werk und Interpretation auf zwei widerstreitenden Grundsätzen aufruht, der sie in einen einzigen Grund- und Ursatz untrennbar zusammenzwingt.
Dieser Ursatz enthält daher das traditionsermöglichende Lebensprinzip jedes Kunstwerkes, das sich nur als Summa summarum seiner Interpretationsgeschichte verwirklichen kann, und zugleich das werkermöglichende Lebensprinzip jeder Interpretationstradition, die nur an der vorausgesetzten Werk-Identität alle jene Veränderungen und Nichtidentitäten der Werke durchspielen kann, in denen die Identität der Werke erst mit sich identisch wird. Das große Spiel der die Werke auslegenden Interpretationen konstituiert die Werke als auslegefähige Identitäten; und die auslegefähigen Identitäten konstituieren zugleich eine traditionsfähige Interpretationsgeschichte. Es ist ein Umkreisungsspiel, dessen Mittelpunkt wie der des Kreises fungiert: an ihm selbst ist der Mittelpunkt nichts, als Peripherie ist er alles. Das Werk ist seine Geschichte, und die Geschichte ist des Werkes Entfernung und Rückkehr in sich selbst.
Im juste milieu gewisser namhafter oder auch provinzieller Traditionsorte der Musikgeschichte kann eine außer Streit gestellte Interpretationsweise Platzhirsch werden, der röhrend verkündet, hier und jetzt seien die Werke so und nicht anders zu spielen, weil sie hierorts immer schon so und nicht anders gespielt wurden. Im Reflexionsverbot über Inhalte und Formen sowohl der Werke wie ihrer Interpretation entsteht im Gehorsam der Mitläufer und Nachspieler jene Urgemütlichkeit eines Stillstandes von Tradition, dessen peripheres Dasein sich mit dem Nabel von Werk und Interpretation verwechselt.
Existierte das einzelne Werk vor seiner Interpretation als fix und fertiges Etwas, dann allerdings gäbe es eine bestmögliche Interpretation, die als einzige anzubeten wäre; bei formalen Inhalten ist dieses Verhältnis unschuldig möglich und notwendig: 2+2=4 kann und soll sich in der Interpretation jedes sogenannten Kopfrechners vollendet verwirklichen, die Sache ist mit ihrer Interpretation wie ein eineiiger Zwilling eins. Existierte aber die Interpretation eines musikalischen Kunstwerkes als eigentlicher Urheber und alleiniger Hergeber der Werke, dann wäre der Interpret Komponist, und über des Komponisten Status müßte neu verhandelt werden.
An dem aufgezeigten Urstreit zwischen Werk und Interpretation mogeln sich Musiker – befragt über Absichten und Ziele beim Interpretieren der Werke – gern im Schafspelz schlauer Wölfe vorbei; sie erklären der ebenso gern Kreide schluckenden Journalistenschar, daß ihr Interpretationsauftrag selbstverständlich zuerst und zuoberst und selbstverständlich ausschließlich dem geheiligten Willen des Komponisten zu dienen habe. Ein Irrtum, der nicht durch Aufklärung oder gar Information ausgerottet werden kann, weil die Verwechslung von Werk- und Komponistenwillen im innersten Denken der Musiker durch eine habituell gewordene Einsicht als Irrtum erhellt und als Lüge erkannt worden sein müßte, um als gedankenloses Vorurteil ausgerottet werden zu können. Je dümmer Meinungen, um so großartiger ihre Verbreitung.
Da es so viele Willen eines Werkes wie Interpreten gibt, liegt es angesichts dieser grenzenlosen Freiheit im Land des Urstreites zwischen Werk und Interpretation allerdings nahe, im Urwesen eines Urwillens, der dem Komponisten als heilig soufflierende mens auctoris aufgeladen wird, einen festen Halt und Grund zu gewinnen; irgendwer muß doch irgendwann genau gewußt haben, was eigentlich vor sich geht und vor sich zu gehen hat in der Bude der Musik; und wer sonst, wenn nicht der arme reiche Teufel von Komponist wäre auserwählbar, in diese Rolle des Allwissenden und Allwollenden, des Allführenden und Allentscheidenden zu schlüpfen? In Wahrheit jedoch weiß auch der Interpret – besonnen befragt über seine Absichten und Ziele beim Interpretieren der Werke – woran er mit dieser zur Schau gestellten Meinung und Lüge ist: was von des Komponisten Willen in den Willen des Werkes eingegangen ist, sei es notiert oder zusätzlich nachformuliert, dies wirft den Interpreten auf sich und seine freien Entscheidungen zurück. Der Interpret als Lakai des Komponisten wäre noch kurioser gestellt als der Kammerdiener des Heroen.