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068 Die Sehnsucht der Prätorianergarden

Februar 2002

Weil die Fundamente unseres Verstehens vergangener Musik notwendigerweise jenem Jahrhundert entstammen müssen, das die Selbsthistorisierung der Geschichte der Musik nach Beethovens Tod einleiten mußte, bleiben wir in der praktischen und theoretischen Interpretation vergangener Musik Jünger des 19. Jahrhunderts auch dann, wenn wir dieser musikgeschichtlichen Horizontschwelle entweder durch eine Rückwärtsflucht in die vorklassischen Musikpraxen oder gar durch eine Aktualflucht in die modernsten, etwa aleatorischen Praxen der Neuen Musik zu entfliehen versuchen.

Übertragen wir die Begriffe der Theorien des 19. Jahrhunderts daher auf die Musik der vorklassischen und vormodernen Epochen und ebenso auf die Musik der Moderne des 20. Jahrhunderts, dann erleiden unsere Interpretationen – praktisch wie theoretisch – einen Schiffbruch, der sich gewaschen hat, weil er uns mit allen Wassern einer Aporie überschüttet, der unser gewöhnliches Denken und Verhalten nicht standhalten kann.

Doch scheint ein Ausweg nahe und leicht: gar keine Begriffe übertragen, jede Musik reinlich und quellendlich nur aus den Begriffen ihrer eigenen Epoche verstehen und deuten, und bekömmlicher Friede und wahrhafter Eierkuchen werde einkehren in unser Verstehen und Interpretieren vergangener Musik. Aber die Naivität, mit der sich das historistische Paradigma über seine Quellen beugt, ist nicht die Naivität der Quellen selbst; niemals kehren wir in unsere Kindheit als Kinder zurück.

Übertragen wir die Begriffe der Stufen-, Funktions- und Schichtentheorien, die seit dem 19. Jahrhundert an den Werken der klassisch-romantischen Epoche gesäugt werden, ebenso die motivisch-thematischen und gattungsarchitektonischen, gleichfalls die Theorien und Praxen des Interpretierens und Musizierens, die seit dem 19. Jahrhundert entwickelt wurden, auf Musiken, die dem Geist und Musizieren vergangener Epochen entsprangen, dann fügen wir der interpretierten Musik zugleich eine Reduktion und eine Erweiterung bei, die das Wesen von Überlieferung getreulich enthält und widerspiegelt: auch die Werke der Tradition steigen niemals an derselben Stelle in denselben Fluß.

Bachs Musik, nach den genannten Theorien des 19. Jahrhunderts traktiert, büßt ihr erstförmiges Wesen ein, indem es auf die Begriffsumfänge der deutenden Theorien reduziert und zugleich als Vorstufe jener Musiken, von welchen die Theorien Abstraktionen sind, erweitert wird. Die motivisch-thematische Theorie seziert Fugen und Inventionen nach Motiven und Themen im klassischen Wiener Sinn, der sich als übergeschichtlicher Metasinn von Melodiebildung mißversteht; wo noch die Echos des soggetto und die imitatorischen Gestaltungsweisen des vorklassischen Stils walten, soll schon die Wiener oder gar eine ewige Klassik zu uns reden.

Die Quintfallsequenzen der barocken Harmonik und Melodik werden als permanentes Kadenzieren einer funktionalen Harmonik und Melodik interpretiert, unterstellend, die kontrapunktische Satztechnik fließender Klauseln und ihrer imitatorischen Denkweise wäre schon zu Ende gewesen, noch ehe sie in Bachs Musik sich vollenden konnte.

Kontrapunktisch gesetzte Harmoniesequenzen auf den verschichteten Gang dreier Grundakkorde und deren Stellvertreter reduzieren, führt in die Aporie einer Projektion, deren ideologischer Schein durchschaubar ist: das 19. Jahrhundert wähnte sich in einer ewigen Natur ewiger klassischer Kunstmusik angekommen, indes doch nur, aber mehr als immerhin, die ewige Geschichte ewiger Musik zu Ende gekommen war. Die Prätorianergarde eines metageschichtlichen Sinnes von Kunstmusik wollte sich daher an den vormodernen Stilen und Werken die ewige Modernität einer hinkünftig ewig klassischen Kunstmusik bestätigen.

Dies führte am musikgeschichtlichen Ende des 19. Jahrhunderts einserseits in das musikalische Herbarium getrockneter Werkeblumen, in die ewig reproduzierbare Hülsenklassik eines Heinrich Schenker, oder in den Schiffbruch aller Schiffbrüche, in das kontingente Expressionieren einer vermeintlich endlos erweiterbaren Entelechie von Musik: Schönbergs op. 11 mißverstanden und –interpretiert als grenzenlos entgrenzbares und doch zugleich immer noch funktionsharmonisches exerzitium ad libitum classicum.

Also lieber und sorgfältigst gar keine Begriffe übertragen, Bachs Musik reinlich und quellendlich nur aus den Begriffen ihrer eigenen Epoche verstehen und interpretieren. Wäre doch gelacht, wenn uns dieses Kunststück nicht gelingen sollte können. Das endgültig wahre, das ultimativ authentische Interpretieren und Verstehen einer Bachschen Invention, wie es eigentlich schon einmal in der Stunde ihrer Geburt und Nachgeburt da gewesen ist und nur von einer schändlichen Tradition nichtauthentischer Interpretationen böswillig oder ahnungslos verschüttet wurde, soll an der erlauchten Quelle wiedergefunden und als immerwährendes Interpretationsideal festgeschrieben und tradiert werden. An der ursprünglichsten Quelle soll jenes Wasser getrunken werden, dem noch kein Mißbrauch, keine Verschmutzung, keine Mißdeutung zuwidergehandelt hat: der ultimativ historisch-authentische Aufführungspraktiker wandelt als Parzival und Don Quichote zugleich durch die schmutzigen und verdorbenen Länder der musikalischen Gegenwart, um den Gral der ursprünglichen Reinheit wieder zu erkämpfen. Und da in den Buchquellen der Quellenlage buchstabengetreu zu lesen steht, wie einst noch authentisch und daher nun für immer zu spielen und zu hören sei, sei der Sprung von Karajan zu Harnoncourt der eigentliche Beginn der Interpretationsgeschichte der Bachschen Werke gewesen.

Doch weil wir an den Quellen der Tradition nicht trinken können wie an jenen der Natur, denn jede historische Quelle verdankt sich immer auch dem Restaurationswillen des historisch trinken Wollenden, ist kein Trinken im Maßstab 1:1 möglich, und jeder Trinkende verändert nicht nur das Getrunkene, sondern stellt es nach den Gebräuchen seines Trinkens erst her. Stets müssen wir in unserer Art der Art eines fremden Beispiels folgen, wenn wir nun einmal – als Kinder einer Tradition von Musik-Geschichte – auf den kreativen Gehorsam einer Beispielsnachfolge angewiesen sind. Und die Scheinquelle einer Absicht des Komponisten, der jede Interpretation gehorsamst zu folgen hätte, dieser Urquellen-Animateur vieler Interpreten, geht uns eine trockene Spuke an, weil uns nur aus dem Kelch des Werkes im Spiegel unseres Werke-Interpretierens der Wille des Komponisten entgegenschäumen kann.

Der eigentliche Grund für die historistische Rückwärtsflucht der traditionellen Werke-Interpretation ist die kaum noch zu verkennende Tatsache, daß die Tradition großer Starinterpreten, die der Interpretation der traditionellen Werke bislang Prototypen erst- und einmaliger Werke-Interpretation vorgaben, allmählich zu Ende geht. Diese spontan und ungebrochen vorwärtsgehende Interpretationstradition war daher noch weit bis ins 20. Jahrhundert kaum auf theoretisch und praktisch reflektierte Rückgriffe auf vermeintlich Authentizität verbürgende Originalquellen und -instrumente angewiesen.

Der Starmusiker und dessen Ingenium, die prototypischen Manieren des Interpretierens vergangener Musik, die das 19. Jahrhundert ins Leben gerufen hatte, aus eigener Spontaneität und Phantasiekraft weiterzuentwickeln, waren es daher auch, die nochmals ein großes Publikum an der Stange der traditionellen Werke halten konnten. Das Kehrt-um-zu-den-Quellen ist interpretationsgeschichtlich der Anfang dieses Endes, und die Entwicklungsfähigkeit dieser reflektiert gebrochenen Interpretationsgeschichte ist nicht so gesichert, wie deren Vertreter undemütig glauben; sie schreitet in eine ungewisse Zukunft der Musik.

Wollten wir heute den Motivations- und Wirkungszusammenhang, aus dem und für den eine Bachsche Invention in der Werkstube Johann Sebastian Bachs das Licht der Welt erblickte, wiederherstellen, dann würden wir die Unmöglichkeit von Zeitreisen durch die fiktionale Möglichkeit von Bewußtseinsreisen zu überbieten versuchen.

Die scheinbar absolut identische Invention X ist zur ganz anderen Y geworden, wenn sie im professionellen Studiengang des Musikers von heute als zu bestehende Spitze im Spießrutenlauf von Prüfungen, als Rodeopferdchen im Wettbewerbskampf angehender Musiker gegen Musiker, als CD-Zeugnis für die Einfühlungsgabe von Pianisten oder Cembalisten in „originale“ Interpretationsmanieren, oder auch nur als muskellockernde Zugabe und Sparringpartner des täglichen Pianistentrainings herhalten muß.

Bach, als gebliebener auferstanden und des modernen Gebrauchs seiner Inventionen ansichtig und anhörig, würde sich maßlos verwundern und erzürnen und noch nachträglich jene verklagen, die seinen Inventionen zu einer druckschwarzen und damit wiederholungsreifen Öffentlichkeit verhalfen. Statt senza fine in der besten aller möglichen Komponiermanieren ewig weiter zu inventionieren, sei man am Ende, nach Durchlauf aller möglichen und unmöglichen Inventionsmanieren, dem abstrusen Gedenkgedanken verfallen, seine Inventionen des spontanen Augenblicks senza fine der Panzerung eines ewigen Repertoires eines ewigen Musikerstandes zuzuführen. Aber der Komponist Johann Sebastian Bach würde noch mehr darüber erstaunen, daß er schon seinerzeit ein ganz anderer gewesen war, als er noch lebend dachte, ganz nur er und kein anderer zu sein.