070 Die Improvisation der Komposition der Interpretation
Februar 2002
Musikalische Improvisation geschieht, wenn sich das Erfinden und das Ausführen der Musik durch ein und denselben Akt vollzieht; das Improvisieren ist komponierend, und das Komponieren ist noch improvisierend. Geschieht die Trennung von Erfinden und Ausführen, dann erhalten wir durch diese Selbstteilung der Musik zuerst ein Komponieren von Musik, das sich als Komponieren selbständig ausführt, auch wenn es das Improvisieren nochmals zu Hilfe nimmt; danach und zugleich ein selbständiges Interpretieren des Komponierten, das die ausgeführte Erfindung als aufführbare Musik interpretiert, auch wenn das Interpretieren gleichfalls noch Momente des Improvisierens in sich enthält. (Daß diese Teilung der Musik in zwei selbständige Totalitäten die universale Tradition ihres Wesens nur als zugleich chrono-logische Tradition eines universalen Wesens von Musik-Schrift begründen und vollenden konnte, versteht sich. Die universale Schrift der Musik, unabdingbare Bedingung einer universalen Musik-Geschichte, kam nicht von außen an die abendländische Musik heran, sie kam aus deren innerstem Wollen und Können heraus. Es wurde eine Musik musiziert, die eines universalen Aufschreibens würdig war, und ein Aufschreiben praktiziert, das eine schlechthin würdige Musik musizierbar machte. Und das Aufschreiben war ein Fortschreiben und zu Ende Schreiben der Schrift; wie das Musizieren ein Fortmusizieren und zu Ende Musizieren der universalen Musik war und ist.)
Im ursprünglichen Akt der Musik sind ihre Grundmodi von Erfinden und Ausführen wie in einem Embryo ununterscheidbar eins: Anfang des musikalischen Lebens. Die Improvisation ist ihre Komposition und diese ist ihre Interpretation. Je differenzierter und später die Musikgeschichte, um so getrennter diese Spiele ihrer Grundspiele, obwohl sie noch in den spätesten und entwickeltsten Zuständen – 2002 – nicht gänzlich die Fähigkeit zu gegenseitiger Substituierung und Verwechslung verlieren.
Aber in unserem Begriffespiel haben wir einen unersetzbaren Mitspieler sträflich vergessen; vielleicht weil er gar nicht mehr Mitspieler zu sein scheint; begleitet er doch die anderen nur wie ein scheinbar überflüssiger Mitläufer; weil aber sein Begleiten aller Grundspiele für diese ebenso unersetzlich ist, ist auch er ein Grundspieler und am Ende sogar jener, um dessentwillen das ganze Spiel gespielt wird. Denn kraft seiner ausgezeichneten Perspektive, inmitten des Spieles zugleich dessen Haften am körperlichem Tun und sinnlichen Vereinigtsein mit den Klängen distanzieren zu können, verfügt er über die einmalige Fähigkeit, Mitspieler und Nichtmitspieler zugleich zu sein – er ist gleichsam das sehende Auge aller musikalischen Spiele, das hörende Hören und das durchempfindende Empfinden des munteren Treibens der Improvisierer, Komponierer und Interpretierer. Huldigen diese einer hemmungslosen poeisis, so jener einer ebenso hemmungslosen contemplatio. Mögen diese drei auch die Heroen des Spieles sein, so spielen sie doch zuerst und zuletzt nicht für sich selbst, sondern zur Ergötzung und Ehre dieses gleichsam fremden Gottes, der über und in ihnen waltet, schon weil er nicht gänzlich nur das Reich der Musik zu verwalten und zu verfolgen hat.
Ist daher eine Kultur und Tradition von Musik noch nicht historisch geworden, stellt sie das letzte Urteil über ihr Werken und Treiben ohne wissenschaftlichen oder sonstigen Rückhalt einem richtenden Insgesamt von Publikum anheim, auch wenn dieses nur die Elite ihrer zeitgenössischen Gesellschaft repräsentiert – wie noch bis ins 19. Jahrhundert möglich und wirklich. Schachspieler spielen für sich oder gegen andere Schachspieler; Musikspieler hingegen huldigen einem Spiel, in dem sie nur als Boten einer Botschaft spielen sollten, die den autistischen Charakter von Spiel transzendiert. Es ist daher eine Entfremdung und Verleichung der Musik, wenn sie derart ein Treiben sui generis wird, daß sie in ihren eigenen Stall einkehren und das erfüllte Repertoire ihres Wesens dem Urteil von Facheliten und Kollegen anheimstellen muß, weil nur mehr Experten über das Erspielte und Erhörte verbindlich und doch nur kontroversiell zu befinden wissen.
Holen wir die Wortmarionetten unseres Begriffespieles – Improvisieren, Komponieren, Interpretieren, Hören – aus unserem intellektuellen Spielhimmel herunter auf den irdischen Boden der Musikgeschichte, dann müssen sie die schmückenden Federn ihrer Abstraktionen lassen und die sachlichen Kleider einmaliger Konkretionen überziehen. Musikhistoriker wundern sich, woher es komme, daß das Improvisieren mit höchstem kunstmusikalischen Genialitätsrang im 19. Jahrhundert abzusterben beginnt, während es fast zugleich seit dem 20. Jahrhundert in den Gefilden der Unterhaltungsmusik und des Jazz einen unvorhersehbaren globalen Aufstieg erlebt. Als Schuldigen inkriminieren sie die abendländische Tradition einer musikalischen Schriftkultur, deren einmalige Notationskunst und -geschichte nicht nur zu einer Dominanz der Interpretation von schriftlich fixierten Werken, sondern auch zu einer Bindung des Improvisierens an die Substrate notierter Musik und Musikschemata geführt hätte, weshalb sich das Improvisieren nur innerhalb und an den Rändern der primär durch Schrift weiterentwickelten abendländischen Musik und Tonkunst entfalten konnte. Sie fragen sich, ob es nicht einen Fortschritt oder gar einen totalen Neuanfang auf höherer Stufe in der Geschichte der Musik bedeuten könnte, wenn nun endlich wieder, wie schon einmal oder noch immer in der außereuropäischen Musik, ohne Schrift und oft auch ohne Notenkenntnis musiziert und daher durchgängig improvisatorisch komponiert und interpretiert wird. Und während die Meinung der einen ein wagemutiges Ja verkündet: Nach einer tausendjährigen Verkopfung und Verschriftung sei man nun endlich wieder von dieser irregeleiteten Intellektualisierung der Musik und des Musizierens auf den rechten Bauchweg einer Wiedereroberung des verlorenen Landes der ursprünglichen Ursprünge zurückgekehrt, widerstreitet die Meinung der anderen standhaft: eine Musik ohne Notenkopf sei nichts als deren Totenkopf, weil das notationstechnische Analphabetentum der modernen U-Musiker das Ende von allem sei, was Musik in den Rang einer Kultur von Kunst mit höchstem menschheitlichen Anspruch erheben konnte.
Diese Meinung ist auf dem rechten Kopfweg zur Lösung des Problems. Denn nicht die Notation ist schuldig, sondern die abendländische Musik selbst; ihr einzigartiger und überragender Rang zwang ein Interpretieren und dessen Tradition herbei, in dem das Improvisieren höchsten Ranges verschluckt werden mußte. Und was nicht verzehrt wurde, die Brosamen vom Tisch der großen Stile und Werke, das bleibt uns heute für unser aktuelles Improvisieren zurück; nebst dem gesunkenen der U-Musik und des Jazz der ganze Ausstoß eines musikpädagogisch und instrumentenspezifisch inaugurierten Improvisierens für ein spezialisiertes professionelles Musizieren, das in seinen Provinzen triumphieren muß und kann.
Die notierten Kompositionen der Tradition forderten und fordern ein Interpretieren, in dem das Improvisieren nur als verschwindendes erhalten blieb und bleibt, weil noch die exakteste Notation der universalen Musik-Schrift, die das Einzelnste der musikalischen Ausführung im voraus zu fixieren versucht, doch mit einem Interpretationspartner rechnet, der nicht wie eine rechnende Maschine oder wie ein Haufen Lottokugeln reagiert. Weder determiniert sie daher mögliche Zufälle, die sich als freiestes Improvisieren mißverstehen, noch verzufälligt sie determinierte Abläufe, die sich als Regelsystem einer Grammatik neuer Musikklänge mißdeuten – Schuld und Missetat der seriell-aleatorischen und graphischen Notation und Improvisation. Die universale Musik-Schrift ist vielmehr nur der Spiegel jener durch innere Regelnotwendigkeit gebundenen individuellen Freiheit, die sie in ihrem Interpretationspartner unmittelbar voraussetzt, weil sie bereits aus dessen Praxis in Tradition hervorgegangen ist. Der Interpret reagiert daher interpretierend auf eine an ihn gerichtete Botschaft seiner Ahnen aus dem Himmel der Musik, wenn er aus verbindlich vollziehbarer Phantasie und Genuß- wie auch Selbstgenußsucht unser sehendes Ohr und empfindendes Denken erhebt – lauter lautere und schöne Dinge, die ihm und uns gründlich ausgetrieben würden, müßte und dürfte er nur spielen, was da in den Noten steht, weil in diesen bereits alles steht, um gestanzt wie eine rechnende Maschine auf die Befehle einer berechnenden Notenvorlage reagieren zu können.
Kein Pianist wird ein und dasselbe Werk jemals in absolut identischer Wiedergabe wiedergeben können; dennoch ist dieses „Improvisieren“ weder eines noch ein bewußtes; obwohl de facto nichts anderes geschieht als jenes Abweichen von den Vorgaben schriftlicher Substrate von Musik- und Musikschemata, an denen sich auch die traditionelle Improvisation einübte und fortbildete. Weil die Schrift gewissermaßen immer schon von sich selbst abweicht, weicht der Abweichende erst mit seinem Abweichen vom Abweichenden in einen Sinn der Schrift zurück, der nicht als Schrift, sondern erst durch die auslegende Interpretation als traditionsbildende und normativ-individuelle Sinnerfüllung der Musik in deren hörbares Licht treten kann. Auch die heilige Schrift der Musik war und ist nicht an ihr selbst schon ihr Sinn; auch an ihr tötet der Buchstabe und nur der Geist macht sie lebendig.