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071 Die selbstverständliche Selbstverständlichkeit

März 2002

Da wir in einem wissenschaftlichen Zeitalter leben, glauben wir gleichsam natürlicherweise an die Sätze und Satzungen unserer Wissenschaften über die Wirklichkeit, in der wir leben. Was Klang und was Ton sein könnte, dies ist daher für uns kein Geheimnis mehr, sondern eine wissenschaftlich erklärte oder erklärbare Tatsache, und diese ist „das Selbstverständlichste von der Welt“, wie die geheimnisvoll geheimnislose Redewendung in aller Munde lautet.

Daß eine Glocke nicht klingt wie eine Geige und umgekehrt, dieser gänzlich ohne wissenschaftliche Gelehrsamkeit wahrnehmbare Unterschied zweier Farben von Klang läßt uns daher, wenn wir nach seinem Ursprung fragen, nicht mehr nach Göttern, Dämonen, Heroen und deren welterzeugenden Geschichten fragen, sondern nur mehr nach der Genesis der „Tatsachen selbst“; auf deren wissensheiligen Säkularnamen haben wir daher unter Anleitung unserer Wissenschaftspriester unsere heutige Welt und Wirklichkeit getauft, und selbstverständlich hat auch diese neue Religion ihre Dogmen und Riten, ihre Kulte und Glaubensartikel, ihre Hierarchien und Tabus wie jede andere Religion. Doch führen sie den Namen Wissenschaft, ein dezidiert nicht- und antireligiöser Name, auf den hereinzufallen daher gleichsam unschuldig und garantiert massendeckend gelingt, weil die Wissenschaft der Tatsachen und die Tatsachen der Wissenschaft nur die zwei Seiten einer Medaille sind, die uns als letzter Weltbesitz einzig noch verblieben scheint: eine wissenschaftlich ergründete und ergründbare Welt. Jenseits dieser verbleibt dem modernen Menschen daher nur mehr der Besuch des hortus mirabilis esoterischer Zirkusse, um an einem grenzenlos aktualisierbaren Sonderangebot an erholsamen Regressionen über oder unter der anstrengenden Welt der säkularen Tatsachen zu partizipieren.

Aber die Einsicht, daß gleichwohl die Wirklichkeit in Wirklichkeit weder nur wissenschaftliche Tatsache noch gar nur ein magischer Zirkus ist, sondern das undurchschaute Aktualwunder absoluter Vernunft, begegnet uns auch in der Begegnung von Glocken- und Geigenklang.

Das Wesen der von jedem nicht gehörlosen Bewußtsein wahrnehmbaren Erscheinung von Klangfarbe wird nach der Lehre des akustischen Paradigmas seit spätestens Hermann von Helmholtz – dem deus noster aller nachfolgenden wissenschaftlichen Akustik bis heute – wie folgt definiert. An einer sogenannten harmonischen Teiltonreihe eines ganzen Tones akzentuieren unterschiedliche Intensitätsgrade einzelner Teiltöne die ganze Teiltonreihe zu einer individuellen Gestalt von Klangfarbe. Dieses Verhältnis von akzentuierenden Intensitäten einerseits und akzentuierten Teiltonhöhen andererseits ergibt folglich ein harmonistisches Maßsystem von Maßsystemen, dessen Komplexität an Komplexität nichts zu wünschen übrig läßt – weil Teilbarkeit stets gegen unendlich zielt – und das gleichwohl einer stets noch exakteren Meßbarkeit zugeführt werden kann, weil stets wieder verbesserbare Beobachtungs- und Experimentiergeräte das gestern noch unmöglich Meßbare schon heute vermeßbar machen.

Bleibt nach diesem A noch B zu sagen: alle Regel- und Gesetzmäßigkeiten der beobachteten Schwingungs- und Akzentuierungsvorgänge im Teiltonspektrum sind auf Gleichungen im Feld allgemeiner Sinusfunktionen zurückzuführen, und endlich wissen und sehen wir erstmals Auserwählte, was die gesamte vorwissenschaftliche Menschheit bisher nicht wissen durfte und konnte: das Phänomen Klangfarbe kann uns kein X mehr für ein U vormachen, die Formeln seiner Maßlogik und die Bilder seiner Sonagraphierungen sprechen uns wie sein durchschautes Wesen selber an. Doch wissen wir damit wirklich, was Klangfarbe ist? Oder durften wir nur an den Mysterien eines wissenschaftlichen Kultes teilnehmen, der ein Wissen von Etwas zu wissen behauptet, wovon gar nicht wissen zu wollen, sein ihm selbst verborgenes Credo ausmacht?

Befragen wir nochmals unser nicht gehörloses Bewußtsein: es behauptet, unwissenschaftlich wie es nun einmal durchs Leben spaziert, es höre an jedem Glocken- und an jedem Geigenton, mag dieser zutiefst oder zuhöchst uns begegnen, eine spezifische Qualität von Klangfarbe, deren sagenhafte Einfachheit offenbar ganz ohne bewußt wahrgenommene Meßwirtschaft mit jeder Tonhöhe wie ein maßlos enges Begleitkleid mitgeht; denn die je eigene Klangfarbe ist auf dem höchsten Ast des Tonhöhenbaumes ebenso elegant zugegen wie in der Wurzelgegend desselben Baumes.

Insistieren wir nun auf dieser merk- und denkwürdigen Tatsache unseres hörenden Bewußtseins, und fragen wir die wissenschaftliche Autorität Akustik nochmals und eindringlich, woher diese, doch gewiß gleichfalls Tatsache zu nennende Wirklichkeit komme; und vernehmen wir dann als Antwort jene akustische Definition der wissenschaftlichen Tatsache Klangfarbe, dann wissen wir, daß diese Antwort keine auf unsere Frage ist. Und dieser Einsicht sollte auch ein Akustiker im fortgeschrittenen Stadium fähig sein, weil er neben seinem Beruf, wenigstens in seiner sogenannten Freizeit, immer noch der von keinem Denktabu umstellten Spezies hörender Mensch angehört.

Die wissenschaftliche Sage von komplexen Teilschwingungs- und ebenso komplexen Amplitudenverhältnissen als Antwort auf unsere Frage nach der wirklich gehörten und gezeugten Klangfarbe hat deren Sinn nicht nur nicht beantwortet, sie hat ihn gar nicht verstanden und daher überhört. Zwischen den Fragen der Welt von Bewußtseinstatsachen und den Antworten der Welt von wissenschaftlichen Tatsachen klafft ein Abgrund, der nicht dadurch zu überbrücken ist, daß sich der Wissenschaftler, eines ungemütlichen Tages außerbetrieblich und unwissenschaftlich befragt, nach einer möglichen und gemeinverständlichen Brücke zwischen physischer und psychischer Tatsachenwelt, entweder als Alltagsmensch oder als enzyklopädiewilliger Informist aller modernen und „modernsten“ Wissenschaften verstellt. Denn im ersten Fall kann er lediglich den säkularen Alltagsmythos wiederbemühen, demzufolge Glocken anders erklingen als Geigen, weil sie aus anderer Materie und deren spezifischer Zurüstung bestehen; eine alltäglich gewordene Sage, die lediglich das Scheinwissen des modernen Alltagsmenschen über sein Klangfarbenhören reproduziert, und dem dieser als Laie seiner Bewußtseinswelt huldigen muß, weil er vorerst nur im und dank eines undurchschauten Kollektiv-Scheines eines zwar konsensfähigen, aber nicht zu Ende befragten Gemeinwissens über sich und seine wirkliche Welt in einer modern sich nennenden Gemeinschaftswelt lebensfähig ist. Daß die Glocke materiell nicht Geige ist, kann nicht zureichend erklären, daß und wie wir einen Glocken- von einem Geigenklang unterscheiden.

Im zweiten Fall jedoch bemüht der moderne Wissenschaftler, ins Narrenkleid des wissenschaftsabergläubischen Alltagsmenschen unserer modern times geschlüpft, den Glauben an eine interdisziplinär zusammenarbeitende Enzyklopädiewelt verschiedenster moderner und „modernster“ Wissenschaften, die jede für sich und doch zugleich auch für alle anderen und daher für das große gemeinsame Ganze einer fröhlichen Wissenschaftswelt an der Klärung der letzten und ersten Fragen über das Wesen von Klang arbeiteten. Im wiederum ersten Fall sagen uns aber nur Physik und Chemie, und nicht mehr die Akustik als spezielle Mechanik der allgemeinen, daß Glocke und Geige als materielle Dinge noch wesentlich komplexere Einheiten von Eigenschaften und Materien sind als deren periodisches Erschwingen.

Aber auch dieses Erschwingen ist noch nicht sein Erhören; daß die Glocke nicht wie eine Geige schwingt, erklärt nicht zureichend, daß und wie unser Bewußtsein Glocken- und Geigenklang unterscheidet. Und im wiederum zweiten Fall einer vermeintlich enzyklopädischen Zusammenarbeit aller modernen Wissenschaften müßten die Klangdefinitionen von erstens Akustik – das Wort Akustik verstanden als Schallwissenschaft von Schwingungen aller materiellen Dinge -, zweitens Gehörsphysiologie – das Wort Gehör verstanden im Sinne von körperlichen Organen hörfähiger Wesen -, und drittens Gehirnforschung – das Wort Gehirn gleichfalls verstanden im Sinn eines körperlichen Organs bewußtseinsfähiger Wesen und nicht als vermeintliches Substitut von Bewußtseins- und Ichakten -,  ihre je eigenen Teildefinitionen von Klang einer einheitlichen Gesamtdefinition von Klang zuführen können; sie müßten über die tabuisierte Grenze ihres Schattens springen können und ihre je speziellen Sagen jener universalen Sage des wirklich gehörten und erzeugten Klanges einschreiben und eindefinieren können, dessen sagenhafte Realität in jedem Höraugenblick als eine unmittelbar vermittelte, als eine unbedingte Wirklichkeit aller ihrer Entstehungsbedingungen erscheint.

Diese Eindefinition der in modernsten Zeiten endlos differenzierbaren Teildefinitionen müßte folglich eine eigens dafür spezialisierte Wissenschaft, eine Wissenswissenschaft aller Wissenschaften, konzeptieren und durchführen.

Daher müßte der moderne Arbeitgeber aller im Haus der modernen Wissenschaft arbeitenden Arbeitnehmer eine eigene Spitzenabteilung führen, in der die Zusammenarbeit aller Teilwissenschaften, die an der Erkenntnis und Beherrschung eines Weltphänomens arbeiten, erstens als unbedingt notwendig und zweitens als sukzessive durchführbar erwiesen wird und drittens auch noch als heilige Pflicht im Dienst der wirklichen Wirklichkeit organisiert und ausgeführt wird. Nun ist aber weder ein Rektorat noch ein Dekanat noch ein Senat noch ein Ordinariat an den gegenwärtigen wissenschaftlichen Arbeitsstätten berufen und fähig, diese, nicht supervisionäre, sondern substantielle Organisation des Wissens über uns und unsere Welt vorzunehmen. Die hinwiederigen Kirtage der interdisziplinären Tagungen unserer spezialisierten Einzelwissenschaften gleichen daher eher gemeinsamen Nächtigungen von Nachtwächtern, die sich mit den gelehrten Exzessen ihrer ungeselligen Geselligkeit die gemeinsame Furcht vor einem archaischen Gerücht vertreiben möchten: die universalen Wesensbegriffe der vormaligen Metaphysik könnten doch noch etwas anderes gewesen sein als nichtige vorwissenschaftliche Gespenster.