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072 Aristoteles hier, Aristoteles dort

März 2002

Noch vierhundert Jahre nach Christus war der zeitgenössische Tragödiendichter der hellenistischen Kulturhemisphäre, die damals dank des geschichtlichen Globalisierungsauftrages von Alexander und seiner Diadochen bis Afghanistan reichte, stolz darauf, wie ein stets wiederauferstehender Euripides in den Formen und Gehalten klassischer Versebildung dichten und tragödieren zu können. Der antike Künstler noch der spätesten hellenistischen und römischen Epoche orientierte sich in allen Kunstarten an einem Kanon von Normen, indem er sich dessen Formen und Gehalte an einer Reihe klassisch gewordener Vorbilder als Muster fürs eigene Schaffen verinnerlichte. Dieses Normengebäude an Gehalten und Formen als bloß geschichtliches und daher längst überholtes in Frage zu stellen, wäre ihm nicht in den Sinn gekommen – aus heutiger Sicht eine scheinbar peinliche Unterlassung und unkritische Illusion, da wir aus unserer historisch altklug gewordenen Perspektive untrüglich wissen, daß die Geschichte höchstselbst nicht nur das Kunstschaffen der Hellenen, sondern die ganze antike Welt und Kultur schon längst eines ganz anderen zu belehren begonnen hatte, weil sie das historische Lehrstück ihres totalen Verschwindens vorzuführen beliebte.

Aristoteles, in seiner Poetik, um das Jahr 335 vor Christus vollendet, formulierte die Philosophie und Ästhetik des normgebundenen antiken Künstlers und Publikums, deren an mustergültige Vorbilder gefesseltes Verhalten weit über die kultischen Anfänge ihrer mythogenen Kunst hinaus Bestand haben sollte. Haben die zentralen Gattungen einer Kunst ihre wahre Natur erreicht, dann sei deren Entwicklung zur Ruhe gelangt, und fortan bestehe die Entwicklung und das Schaffen der Künste allein darin, auf dem erreichten höchsten Niveau der vollendeten Kunstgattungen weitere individuelle Exemplare im Sinn und Geist der anerkannten und von allen geliebten Vorbilder zur Welt zu bringen.

Wenn wir diesen Gedanken und seinen ehernen Appell an eine zeitlose Artung des Kunstschaffens vernehmen, denken wir Heutigen unwillkürlich an zwei Dinge. Einmal an das Schaffen der Natur, das Aristoteles und seinen Künstlern irgendwie vorgeschwebt haben muß, als sie sich und ihr Tun zu verstehen versuchten, und zum anderen an das ästhetische Denken des 19. Jahrhunderts, denn die auffällige historische Analogie des dritten vorchristlichen Jahrhunderts mit dem 19. christlichen oder schon nachchristlichen Jahrhundert der europäischen Geschichte ist nicht von der Hand zu weisen für jene, die in der Hand der Geschichte deren Zukunftszeichen zu lesen versuchen. (Und einige werden auch an die völkische Klassizistik der nationalsozialistischen Kunst wie an die nicht weniger glorreiche proletarische Kunst des sozialistischen Realismus der kommunistischen Ideologie denken.)

Die Kulmination einer Kunstgattung im Stadium ihrer endlich erreichten wahren Natur, das die Möglichkeiten ihres Kunstwesens vollkommen entfalte und zur Erscheinung bringe, erinnert uns Heutige an unser evolutionäres modernes Bild der Natur auch des Apfelbaums, der nach glücklich überstandener Fahrt durch den selektierenden Irrgarten der Evolution und dessen menschenfreundlich umgezüchteter Domestizierung endlich in seinem Ithaka ankam, um seitdem über einer ozeanischen Thetis von abermilliarden Enkelkindern auf dem Thron seines semper idem non eodem modo zu residieren. Denn die natürliche Gattung ist fruchtbar und eins mit sich in ihrer Vervielfachung; und sie mehret sich unschuldig zu Arten und Individuen, ohne das Leben der Gattung selbst beenden zu müssen.

Die Denkweise der Poetik des Aristoteles wiederum erinnert uns frappierend an die Deutungsmuster vieler Ästhetiker und Musikhistoriker des 19. und noch des frühen 20. Jahrhunderts. Schopenhauer, Vischer, Hanslick, Ambros, Schenker und viele andere Deuter der Musikgeschichte sind überzeugt, daß die Musik in ihren Tagen den Gipfel ihrer Kunstentwicklung in allen Gattungen erreicht, ja zumeist schon hinter sich gelassen habe. In allen Gattungen habe die europäische Kunstmusik ein Niveau unüberbietbarer autonomer Sprachlichkeit und Gehaltstiefe erreicht, das es gebiete, fortan mit dem Erreichten hauszuhalten und im Haus des vollendeten Vorrates die Zukunft der Musik auf höchstem Traditionsniveau fortzuführen.

Wenn Hanslick Wagners Musik an der idealtypisch gesetzten von Mozart mißt, gleichfalls die sinfonische Produktion des 19. Jahrhunderts an der Sinfonik Beethovens, dann denkt er nicht nur neoaristotelisch; er vergißt auch nicht, mittels neoantiker Appelle an die Komponisten seiner Zeit als musikästhetischer Normenpapst im Namen einer ewigen Wiener Klassik in das Musikschaffen seiner Zeit einzugreifen.

Besonders die Geschichte der Gattung Oper legte der Ästhetik und Musikhistorie des 19. Jahrhunderts die Opern Mozarts oder Rossinis oder auch noch Glucks übernational intendierte Synthese von opera seria und opera buffa als naturgewordenes Ideal der Gattung ans Herz aller vergleichenden Deutungs- und Bewertungsversuche. Allzu national gestimmt und erregt erschienen Verdis neue Literaturopern, und Wagners mythische Sinfonieopern nur als eskapistische Versuche, die Grenzen der Gattung durch einen irrationalen Individualismus im Namen eines ungewissen Kunstwerkes der Zukunft zu sprengen.

Am Beginn des 21. Jahrhunderts ist uns der Gang der Gattung Oper durch den Chronologos ihrer Arten auf das genaueste bekannt und vertraut. Nicht nur kennen wir die Genesis der ersten neomythischen Opernarten im Florenz der platonischen Akademie des Ficino aus den pastoralen und intermedialen Vorformen des 15. Jahrhunderts; auch die weitere Anbildung der Arten von italienischer opera seria und opera buffa, ihrer französischen und englischen sowie später deutschen Gegenstücke, um nur diese nationalen Varianten und Synthesen der Artenbildung einer abendländischen Universalgattung zu nennen, (und auch die Unterarten von Vaudeville, Bettleroper, Singspiel und Operette nicht zu verschweigen) – sie alle geben uns bezüglich ihres authentischen Anfangens und Aufhörens, über das Warum und Wozu ihres historischen Herkommens keine Rätsel auf. Und dennoch hängt über all diesem klaren historischen Wissen die Wolke einer dunklen Ahnung, die uns zwingen möchte einzugestehen, daß wir mit all diesem faktenklaren Wissen noch lange nicht und vielleicht für wirklich noch lange nicht über den eigentlichen Sinn der universalmusikalischen Gattung Oper im Prozeß ihrer Prozesse erleuchtete Einsicht und Erfahrung erhalten werden. Nicht zufällig, daß alle Fragen nach einem letzten Sinn der Musikgeschichte erfolgreich tabuisiert werden konnten.

Die opera seria stirbt spätestens mit Mozart, die opera buffa mit Donizetti, die Revolutionsoper mit Beethoven, die französische Grand opéra vielleicht schon mit Meyerbeer, die Oper des Verismo mit Puccini, die affirmative Literaturoper mit Richard Strauss. Kaum hundert Jahre waren jeder Art beschieden, weil die Gattung das aktuelle politische Leben der Gesellschaft und ihrer revolutionären neuzeitlichen Veränderungen repräsentierend wiederzuspiegeln hatte und daher manchmal sogar ein wenig mitanfachen durfte; verständlich, daß die nationalen Musikzentren des vormodernen Europas am Leben und Sterben ihrer musikalischen Gattungslieblinge mit sehr unterschiedlichen Talenten und Kräften beteiligt waren – ähnlich wie die Mythen und Kulte der Hellenen nicht sämtlich und einzig aus Attika stammten, wie schon die Athener des 5. vorchristlichen Jahrhunderts bei sich und insgeheim wußten, als sie mit ihrer attischen Selbstverherrlichung seit Perikles ihren Konkurrenten in ganz Griechenland weismachen wollten, daß in den heranrückenden Stürmen einer ungewissen Zukunft einzig Athen als imperiales Haupt aller Hellenen zu empfehlen sei. In ferner und doch naher Weite lag noch das Jahr 87 vor Christus: Sulla Felix besetzt die hellenische Metropole und verfügt die Schließung und Ausgliederung aller vier prominenten Philosophenschulen Athens.

Bleibt noch das Ausgliederungsschicksal der Gattung Oper in den Stürmen der Moderne zu erörtern; warum und wie die moderne Musikhistorie am Ende des 20. Jahrhunderts beginnt, den Gattungsbegriff Oper in ihren Handbüchern und Monographien zu guillotinieren, wird das nächste Philosophon beschäftigen.