073 Die Begattung des Namens
April 2002
Die gesang- und orchesterbegleitete Bühnenhandlung wird seit dem 17. Jahrhundert dramma per musica, seit dem 18. Jahrhundert Oper, seit dem 20. Jahrhundert zunehmend Musiktheater genannt. Namen, so sollte man denken, sagen und denken noch nicht die Sache, die sie benennen; so aber denkt nicht unsere historisch verfahrende Wissenschaft der Musik. Ihr sind die historisch gesicherten Quellen der Musik heilig, und an diese Quellen gelangt nur ein Jemand, der ihre Namen zu nennen weiß. Daher vergeudet die wissenschaftliche Wissenschaft der Musik ihre kostbare Zeit nicht, mit spekulativen Begriffen auf die Sache zu spekulieren, sondern sie spürt zuerst allen Namen nach, die in der Geschichte namhafter Sachen eine namengebende Rolle gespielt haben. Sie betätigt sich als lexikalischer Spürhund, um den Geruch der Sachen in der Vielfalt der Namen nicht aus ihrer sensiblen Wortnase zu verlieren.
Gehen wir daher mit unserem stets heutigen Ottonormalverstand an ein Lexikon der Musik, um uns darüber aufklären zu lassen, was es nun wirklich mit der Gattung Oper auf sich habe, dann holen wir uns zunächst ein blaues Wortauge. Wir vernehmen, unwissend und unwissenschaftlich wie wir bisher durchs Musikleben zu stapfen wagten, daß eine Gattung Oper wortauthentischerweise nie existiert habe, weil auch dieser Gattungsname – wie im abgründigen Wortgrund aller musikalischen Gattungen – erst nachträglich als Gattungsname erfunden und durchgesetzt wurde – als vereinfachender Benennungshobel von und für Nachgeborene einer offensichtlich gedächtnisschwindsüchtigen Menschheit, die ihr chronisches Leiden noch nicht mit den lexikalischen Medikamenten der historischen Wissenschaft zu behandeln wußte.
Wir nehmen staunend und mit schmerzgekrümmtem Gewissen zur Kenntnis, daß der Name Oper eigentlich erst in der populären Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts als „Gattungsbegriff“ benutzt wurde, „manchmal unterschieden nach ‚ernst’ und ‚komisch’ „ , und wir sind selbstverständlich ganz unkomisch bereit, unseren unwissenschaftlichen Glauben an die historische Existenz einer musikalischen Gattungsgeschichte namens Oper als Irrglauben und Wahnphantasie unwissender Dorfbewohner behandeln und beseitigen zu lassen. Die Erfolge unserer zeitgemäßen Schönheitschirurgie beflügeln unser Vertrauen auch in unsere wissenschaftlich erwiesene Verstandeschirurgie. Wer läuft heute noch mit Nase, Aug’ und Ohr von Ottonormalverstand herum?
Eine Wissenschaft, die des Glaubens lebt, Begriffe ließen sich aus Worten ableiten, weil in deren Wortgebrauch der homo sapiens sapiens immer schon durch die Jahrhunderte seine Begriffe von seinen Siebensachen gebildet hätte, verdient unsere natürliche Aufmerksamkeit. Es kann uns nämlich nicht zum Schaden sein, im sachlogischen Voraus zu wissen, ob wir Vernünftigen oder Verrückten begegnet sind. Aber beiseite gesagt: es muß einem mysterium verbi verdankt gewesen sein, daß es einst eine Menschheit geben konnte, die noch ganz ohne wissenschaftlich-lexikalisch erfaßten Wortgebrauch, ganz nur aus der Erfahrung und Bedenkung der Sachen selbst deren Begriffe und Namen abzweigte. Ein gewiß kindlich-vorwissenschaftliches Denken, das zwar noch heute als philosophisches nicht ganz ausgestorben ist, von dem aber nun wissenschaftlich erwiesen ist, daß es sich als unwissenschaftliches erwiesen hat.
Der wissenschaftlich unbeleckten Perspektive fällt natürlich auf den ersten schamlos unwissenschaftlichen Blick auf, was dem historischen Denken zum wissenschaftlichen Verhängnis wird: es trennt eine primäre Urgeschichte der Sache von deren vermeintlich sekundärer Wirkungsgeschichte. Alles weitere folgt mit der Konsequenz einer fallenden Guillotine.
Weil im historischen Urstand der Sache deren Namengeber zugleich als allmächtige Ersterfinder der Sache vorgestellt werden, hat die Urzeit der Sache einen direkten Zugriff auf die heiligen Namen der Sache – so der Glaube der historisch Glaubenden; die ersten authentischen Namen, mögen sie unterdessen noch so überholt und in sich als provinziell-partikulare erforscht sein, rücken ebendeshalb – jeder Geist liebt den Sack, dem er seine Lebenslügen anvertraut – zur Ehre auf, als Urbegriffe der Sache selbst gehandelt, in den heiligen Registern der wissenschaftlichen Lexika versammelt und in deren ausgeführten Lehrschriften als abzitierbare Autoritäten auf Vorrat angelegt zu werden.
Der Name der Gattung wird durch eine Genealogie ersetzt, die sich bei näherem, nämlich „wissenschaftlich“ ebenso quellengierigen wie quellenvervielfachenden Hinsehen in tausend Einzelgenealogien von tausend Einzelsachen auflöst. Und die Annahme einer Geschichte der Gattung Oper erscheint urplötzlich als Fiktion von mythensüchtigen Nachgeborenen, die nicht mehr fähig sind, die Eigenständigkeitszirkel einzigartig eigenständiger Sachen von einzigartig eigenständigen Individuen, Orten und Zeiten nachzuvollziehen.
Die revolutionäre historische Denkungsart vollzieht das capuut mortuum der Gattung, und sie ist auch noch stolz auf ihre Leistung, die sie wissenschaftliche Erforschung der Musikgeschichte nennt, weil sie nicht bemerkt, ihr eigenes capuut mortuum zu vollziehen. Der Wald ist weg, es existieren nur mehr Bäume, und wer hätte gedacht, daß eine vorwissenschaftliche Menschheit jemals andersrum denken konnte?
Da sich jedoch Musik-Geschichte bis zum heutigen Tag immer noch vorwissenschaftlich vollzieht, hinkt der wissenschaftliche Nachvollzug immer noch unerfreulich der stets wieder miß- und zu spät gedeuteten Realität von Musik-Geschichte hinterher. Der Igel Geschichte hat den Hasen Historie immer schon überlistet. Verständlich, daß damit ein Ende gemacht werden muß; in einem wissenschaftlichen Zeitalter nämlich, in dem sich ausgerechnet der Vollzug von Geschichte – keine harmlose Sache in keinem Sachgebiet – in skandalöser Weise der Regie der Wissenschaften entzieht, könnte man nämlich auf den dummen Gedanken kommen, es möchte Instanzen geben, die sich unserem wissenschaftlichen Denken und Walten entziehen könnten.
Höchste Zeit daher, jene Gehirnregion auszuspionieren, deren unerforschtem Wirken bislang Befehle entglitten, die uns in Sachen Historie unwissenschaftlich und falsch verhalten und denken hießen. Höchste Zeit, unseren neuronalen Netzen jene Chaosdefekte auszutreiben, die uns bisher in der Geschichte auch der Musik niemals auf der Höhe ihrer Zeit sein ließen. Noch lernen unsere Forscher die lexikalischen Wortgeschichten ihrer Sachen in- und auswendig; aber ein Gehirnchip, mit sämtlichen einschlägigen Daten vollgepackt und neuronenschlau der zuständigen Gedächtnisregion und Erinnerungszentrale unterschoben, könnte uns endlich doch aus Hasen in Igel verwandeln. Möglich, daß wir dann frei von allen Gattungsillusionen wären, die uns noch heute wissenschaftlich verdunkelt an einen Zusammenhang von Peris „Euridice“ (1600) und Cages „Europeras“ (1987) glauben lassen, aber gewiß auch, daß wir als geschichtslos gewordene Gehirnbefehleempfänger Abschied genommen hätten von einem musikalischen Gattungswesen, das wir als gesang- und orchesterbegleitete Bühnenhandlung seit dem 17. Jahrhundert dramma per musica, seit dem 18. Jahrhundert Oper und seit dem 20. Jahrhundert Musiktheater genannt haben.