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074 Angst und Intelligenz

April 2002

Das kaum hinterfragte musikhistorische Faktum, daß die Kunstmusik seit dem 20. Jahrhundert keine neuen Gattungen mehr hervorbringt, verleitet Musiker und Musikhistoriker zu dem fatalen Trugschluß, die überlieferten Gattungen seien erstens ohnehin mehr als genug für jedes gegenwärtige und künftige Schaffen neuer Musik und daher zweitens ein Pantheon von musikalischen Gattungen mit ewigem Bestands- und Erfüllungsrecht. Und nicht nur dies, denn wer A sagt, muß auch im Reich des Irrtums B sagen – die gegenwärtig und künftig immerwährenden Konkretisierungen besagter Gattungen durch individuelle Werke seien selbstverständlich auf stets gleichem Höchstniveau möglich und wirklich; eine sozusagen ewige Klassik der Musik in ewig klassischen Gattungsformen. Und auch hier muß wiederum B gesagt werden, wenn A gesagt wurde: die ewigen Gattungsformen auf immergleich hohem Kunstniveau ziehen ebensolche ewigen Gattungsinhalte nach sich, denn eine klassische Höhe der musikalischen Form ist nur möglich, wenn ihr die Höhe eines entsprechenden Inhaltes wirklich entspricht, wenn zugleich auch der Inhalt der Werke menschheitswichtig, ihr Ausdruck gesellschaftsbedeutsam, ihr Material unverwelkt jung, das Pathos schlechthin genial, die Sprache einzigartig, kurz: der universale und personale Stil der Werke auf stets gleichbleibend höchstem Hochlevel dahinfliegt.

Die Tabuisierung der Frage, weshalb das Schaffen neuer Gattungen im Reich der Kunstmusik – nicht in den Sphären von Unterhaltungsmusik und Jazz – seit dem 20. Jahrhundert obsolet wurde, ob aus zufälligen oder notwendigen Gründen, gelingt unter der nebelhaften Vorstellung, es möchten vielleicht doch auch im 20. Jahrhundert und noch heute neue Gattungen und Stile kunstmusikalischer Idealhöhe entstanden sein und entstehen können, nur hätten wir diese, weil noch zu nahe am Lagerfeuer des brandheißen Geschehens, noch nicht erkannt. Diesen Nebelblick in eine fiktive Zukunft, die wissend sehen werde, wo wir heute noch irrend tappen, leisten wir uns auch bei unserem Rückblick in die kohärente Geschichte der traditionellen Gattungen und ihrer universalen Stile, und nicht zufällig in zweifacher Ausführung mit einander widersprechenden Axiomen, deren Sinn und Hintersinn nicht mehr hinterfragt wird. Angst und geschwächte Intelligenz wechselwirken, um vor dem komplexen Tribunal des hyperkomplexen Geschichtsprozesses der Musik und traditionellen Künste einander stützend und bedingend ein unbedingtes Tabu mit sakrosankten Mauern zu umstellen. Angst zerfrißt Intelligenz, denn es könnte alles anders sein und laufen, als unsere eingewöhnten Denkmuster uns einreden, alles wie bisher sein und laufen zu lassen.

Wenn wir die Genesis und Geschichte der traditionellen Gattungen an unser heutiges begreifendes Auge und Ohr heranzoomen, zerfällt jede Gattung sogleich in eine Unzahl von Arten, jede Art sogleich in eine Unzahl von Lokal- und Zeitgeistgründungen sowie -traditionen, diese wiederum in eine unübersehbare Fülle von Einzelwerken. Die Gattung scheint nur ein Regulativ für unser Heranzoomen der Geschichte und Musik an die Gegenwart gewesen zu sein, eine nützliche Fiktion, ein Kategorientrottel, der uns wie ein Esel dazu dient, die geschichtlich einzig realen Inseln der Werke auf den Inseln der Geniebiographien zu erreichen. Wie oft hören wir daher die These, Gattungen und Stile seien nichts als nachträgliche Erfindungen der Nachgeborenen, die mit der wirklichen Wirklichkeit der Musik vor Ort und in der Zeit der Geschichte nichts zu tun hätten. Denn immer schon seien Musik und Kunst zuerst und zuletzt nichts anderes gewesen als Kunst und Musik von wirklichen Menschen für andere wirkliche Menschen, und diese Wirklichkeit sei immer eine „konkrete“ gewesen, unter welchem Zaubernamen noch heute jeder wirkliche Mensch sogleich weiß, daß er als wirklicher Mensch weiß, was er wirklich weiß.

Jetzt weiß er also, daß Gattungen Fiktionen, Namen für Schall und Rauch, die Sachen aber die eigentliche konkrete Wirklichkeit sind, zum Angreifen sinnlich nahe, zum Verspeisen appetitlich serviert. Und alles andere an Namen und Kategorien, an Deutungen und Definitionen, das ganze Gerede und Geschreibe, das wir der Musik und ihrer Geschichte angedeihen lassen, entspringe lediglich dem Schubladendenken unwirklicher Begriffe, einem Reich von Abstraktionen und Phantasmen, in dem das oberste und dümmste Phantasma das einer „Musikgeschichte“ selbst ist, denn eine Geschichte von Musik, in der sich die vielen Geschichten und Geschichtchen von Musiken und Musikwerken, von Komponisten und Musikanten zu einer einzigen, ebenso irreversiblen wie einzigartigen Einheit und Wirklichkeit zusammenfasse, sei nichts als eine Fiktion unseres Denkens, das Phantasma unwirklicher Denkmenschen.

Wie aber hängt nun diese These, wonach also Gattungen wirklich unwirklich seien, mit der ebenso beliebten Gegenthese, daß in der Geschichte der Musik Gattungen mit ewigem Bestandsrecht und Erfüllungswillen agieren, zusammen? Zwei Thesen, die entgegengesetzter und unversöhnbarer nicht sein könnten, die sich wie Feuer und Wasser auszuschließen scheinen, und die gleichwohl in unserem Musikleben täglich zu vernehmen sind, oft aus einem und demselben Munde, der freilich bei der Berufung auf die eine, die soeben erfolgte Berufung auf die andere These bereits wieder vergessen hat.

Versetzen wir uns nochmals in die Situation des historischen Heranzoomens der Geschichte einer Gattung. Es sollen beispielsweise Exemplare der Gattung Oper gesucht werden, um deren Existenz glaubwürdig als wirkliche nachzuweisen; wir suchen daher nach Opern, über deren Aussehen ein verworrener und denkbeliebiger Allgemein- alias Suchbegriff uns gleichwohl erlaubt, nach Opern und nicht nach anderen, nicht einmal nach den verwandten Vorgänger- und Mitgänger-Gattungen, und schon gar nicht nach musikexternen Dingen mit Gattungsgeruch wie Kirchen, Liturgien, Bildern, Postkutschen, Gewändern, Gesetzen und Verfassungen in jenen vergangen Tagen zu fahnden, denen das musikgeschichtliche Glück widerfuhr, die epochalen Stadien der Geschichte von Oper in täglich neuen Szenarien durchspielen zu dürfen.

Wohl oder übel müssen wir zugeben, daß wir unseren Zielort, die einzelne Wirklichkeit von Oper, die Überfülle unübersehbarer Einzelwerke von Oper, gar nicht finden könnten, hätten wir nicht jenen Startort eines allgemeinen Ausgangspunktes parat; und daß wir diesen nach Ankunft am Zielort verleugnen und vergessen können oder wollen, dies ist offensichtlich unsere, nicht der Wirklichkeit Schuld. Diese unsere Unfähigkeit oder Verweigerung, im Zielort den Anfangsort festzuhalten – weil er allzu diffus nur eine Einbildung von Schachteldenkern oder eine Projektion irrender Nachfolgegenerationen sei, die das Authentische der ursprünglichen Quellenorte immer schon nichtauthentisch verfälscht hätten – ist daher zugleich der Umschlags- und Umsturzort in die genaue Gegenthese, ja die sachlogische Voraussetzung für deren Behauptung, daß Gattungen von ewigem Bestand und Erfüllungswillen im geschichtlichen Gang der Musik konstitutiv am Werk seien. Ein leeres und beliebiges, ein prinzipienloses und willkürliches Allgemeines von Gattung, das sich nach Belieben produzieren und verleugnen läßt, kann und muß zugleich dazu dienen, als ein ewiges und zeitloses behauptet werden zu können; denn das eine ist so formell und inhaltslos und nach Belieben an- und ablegbar wie das andere. Die These, daß keinerlei Gattungen konstitutiv den Prozeß der Musik als einer Geschichte von Kunst leiteten, ist in ihrem abgründigen Grund identisch mit der Gegenthese, die Gattungen alle wirkten im Gang der Geschichte von Musik mit ewigem Bestandsrecht und zeitloser Erfüllungskraft.

Wenn uns daher Musiker und Musikhistoriker heutzutage mitteilen, noch am Beginn des 21. Jahrhunderts seien die traditionellen Gattungen der Musik quicklebendig wie am ersten Tag, weil sie die bisherige Geschichte ihrer Stil- und Werkerfüllungen unbeschadet überlebt hätten, dann wissen wir nicht, ob wir weinen oder lachen sollen; weinen über diese Explosion der Angst, lachen über diese Implosion der Intelligenz, die vor uns begrifflos niedersinkt, weil sie sich nicht mehr zu helfen weiß im vermeintlichen Schlaraffenland ihres wertlosen Methodenpluralismus, in dem jeder nach seiner Facon sucht und findet, startet und ankommt, glücklich und unglücklich zugleich werden kann.

Was unseren historischen Verstand so maßlos und abgründig verwirrt, ist das Wirken der Wirklichkeit von Musik-Geschichte selbst. In der Tat gibt es die Gattung Oper gar nicht, wenn nicht einzelne Opern erschienen und dagewesen sind; aber zugleich könnten die einzelnen Werke nicht mit einem Anrecht auf den Ehrennamen Oper wirklich werden, wenn nicht die Gattung selbst ihr Telos, sich in einer endlichen Reihe von universalen Einzelwerken und deren universaler Wirkungsgeschichte zu präsentieren, beharrlich verwirklichte. Die angsterfüllte Vermutung unseres historischen Verstandes, daß es in der Geschichte der Musik, und nicht nur in dieser, nicht mit rechten Dingen zugehe, ist daher vollkommen berechtigt und sachrichtig. Denn es ist in der Perspektive des historischen Verstandes unlogisch und unsinnig obendrein, daß Gattung und Stile nur durch einzelne Werke, diese aber nur durch die typisierende Kraft von Gattung und Stil entstehen und bestehen sollen können, obwohl doch keine der beiden der anderen vorausexistiert, weder die Gattung dem Individuum, noch das Individuum der Gattung; dies ist ja ärger noch als das bekannte Spiel zwischen Henne und Ei.

Wie ein Allgemeines durch seine Besonderungen sich als Einzelnes verwirklicht, diese nun wirklich ganze und daher geheimnisvolle Wirklichkeit, enthält daher auch den nucleus von Musik-Geschichte, des Rätsels Lösung für das kaum hinterfragte Faktum, daß die Kunstmusik seit dem 20. Jahrhundert keine neuen Gattungen mehr hervorbringt.