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079 Op. 111, zum Zweiten

Juni 2002

Die philosophische These, daß der Musik und ihrer Geschichte eine objektive Hierarchie von Normen und Werten inhäriere, weil beide – Musik und Musikgeschichte – nicht ein beliebiges Spiel und Gaudium, sondern des Geistes und seiner möglichen Freiheit wirkliche Vergegenständlichung waren und sind, also eine Sach-Geschichte mit immanenten Wahrheits- und Wertansprüchen, scheint heute leicht widerlegbar, indem wir das vielspältig aufgedröselte Publikum der gegenwärtig praktizierten und konsumierten Musiken befragen. Es sei „wissenschaftlich bewiesen“, teilen uns daher die musiksoziologischen Befragungszentralen unserer empirischen Rezeptionsforschungsinstitute mit, daß der musikalische Geschmack der gegenwärtigen Menschheit, jedenfalls in der Ersten Welt, unendlich ausdifferenziert, unendlich tribalisiert und unendlich individualisiert gelebt werde; daß folglich verschiedenste musikalische Werte in unendlicher Vielfalt gleichberechtigt nebeneinanderstünden, und jedes musikalische Tierchen irgendeinem Geschmack als Pläsierchen diene. Und wie man dem Vegetarier nicht mit Fleischeskost und dem Spaghettiverzehrer nicht mit Schweinsbraten kommen dürfe, so dürfe niemand irgend einem anderen Niemand seinen Geschmack aufzwingen, nicht „seine“ Musik und nicht „seine“ Interpretation von Musik, und die Wahrheit dieses Zustandes bestätige sich ubiquitär, indem wir heute niemandem mehr vorwerfen dürften, er habe und pflege einen schlechten musikalischen Geschmack. Denn alle Geschmäcker sind demokratietolerant nur die Geschmäcker aller, deren Güte von gleicher Güte, deren Werte von gleichem Wert, denn in jedem Geschmackszirkel gilt unbedingt, daß jedem musikalischen Geschmack das Seine als das Beste und Wertvollste erscheinen muß. Offensichtlich ist mit der Einkehr der Musik in ihr absolutes Posthistoire am Meilenstein 20. Jahrhundert die Kategorie des musikalischen Geschmackes dort angelangt, wo sich ihr selbstvernichtendes Kreisen um sich selbst einstellen mußte – als normative Instanz ist der Geschmack in den Dingen der Kunst und Musik schlechthin obsolet geworden.

Dem Absturz des musikalischen Geschmackes in die ozeanischen Untiefen postmoderner Beliebigkeit können wir daher nicht Widerpart leisten, indem wir uns auf vermeintlich objektive Rezeptions- und Interpretationsweisen der Musik berufen. Und auch Adornos These über den Verminderten Septakkord, er sei in Beethovens Op. 111 zum letzten Mal als Prachtlöwe, in aller Musik danach nur mehr als Kleinvieh und Ungeziefer zu gestalten und zu genießen, muß sich nach anderen Begründungspfründen umsehen; denn weder die Rezeption noch die Interpretation der Musik kann an irgendeinem Punkt ihrer Geschichte als normative Basis für den Nachweis objektiver Normen und Wertehierarchien in der Musik und ihrer Geschichte kodifiziert werden. Dankenswert unbedachterweise hat aber die bürgerliche Musikwissenschaft neben, vor und sogar unabhängig von aller Rezeption und Interpretation von Musik die Kategorie einer Musik an sich selbst in Gestalt des Werkes an sich selbst ins Leben gerufen. Und diese textgläubige Begründungskategorie musikalischer Werte im Labyrinth der empirischen Wertbeweise wird bekanntlich in den eifrig werkebeschreibenden Zentralen unserer Institute für musikalische Werkanalyse als Urfetisch angebetet; in deren labyrinthischen Gängen scheinen daher Beweistiraden zu locken, die Adornos These von einer Verfallsgeschichte des Vau-Sieben scheinbar als „wissenschaftlich beweisbare“ auffrisieren lassen. (Der Aberglaube an eine wissenschaftliche Beweisbarkeit von objektiven Werten durch empirische Wissenschaften ist die identische Kehrseite des hinfälligen Glaubens unseres postnormativen Geschmackes an seine Allmächtigkeit.)

Also einzig und allein das Werk selbst, nicht seine Rezeption, nicht seine Interpretation, sondern rein nur es selbst als Musik in statu quo ante soll als Basislauge unserer Wertbeweise gelten, allein dieser unbefleckte Gralsort der Musik, an dem sie noch unverfälscht als Urtext existiere, als Urschrift eines Urseins und einer Urform von Musik anzustaunen und als authentisches Testament ihres verstorbenen Urhebers zu verehren sei, lasse beweisbar feststellen, was wahr und was nicht wahr, was des Wertes voll und was bar des Wertes sei an der reinen Gebildung der Musik selbst.

Nun bewegt sich aber jeder Versuch, objektive musikalische Werte aus dem reinen Immanenzzusammenhang eines Werkes begründen zu wollen immer schon und unausweichlich in den Bahnen der paranoiden Zwangsvorstellung, ein Einzelnes lasse sich kraft seiner empirischen Einzelnheit aus ihm selbst als Beweisgrund begründen und aufrüsten, also in den Rang eines überindividuellen Wertes erheben, den wir objektiv und absolut anzuerkennen verpflichtet wären. Als Einzelnes dieser einzigartigen Art wäre das Einzelwerk folglich ein Werkding im Range eines magischen Zauberdinges, das freilich als zauberndes seine Beweisambitionen stets wieder widerrufen müßte, weil die Zauberkraft von Zauberdingen wohl den singulär erwählten Epiphanie-Augenblicken der Zauberkundigen, nicht aber den diskursiven Kräften unserer wissenschaftlichen Beweislabyrinthe zugänglich ist. Zwar ist es versteh- und entschuldbar, daß wir angesichts unserer beschränkten Kapazitäten überaus gern das Einzelne aus ihm selbst deduzieren und als sein eigenes in sich ruhendes Werte-Universum handhaben möchten, ähnlich wie dem Spießbürger sein Schrebergarten, der Hausfrau ihre Welt die ganze Welt bedeuten; aber ein Einzelwerk ist in den Bahnen der Musik und ihrer Geschichte stets unendlich mehr als ein Einzelwerk. Es ist die unendliche Position unendlicher Negationen anderer Werke, in welcher unbestimmten Unendlichkeit die Möglichkeit unserer enormierten Freiheit angelegt ist, die beliebte Kategorie des Einflusses von Werken aufeinander beliebig deutend und beeinflussend anzuwenden.

Weil aber jedes Werk nur als Spitze eines Eisberges existiert, in dessen ebenso voluminösem wie unhörbarem Untergrund die Kategorien der Formen und Inhalte der Musik in den Gewändern ihrer Stile, Syntaxen und Gattungen als Ausdruck einer bestimmten Stufe von Freiheit des Geistes in seiner Geschichte – stets schon vermittelt und tradiert durch eine keineswegs nur äußerlich hinzukommende Interpretations- und Rezeptionsgeschichte – immer schon ineinandergespielt haben, wenn ihre Spitzenextrakte als Einzelwerke unser Gehör und Empfinden, unser Musizieren und Deuten erreichen, ist auch der objektive Verfall des Verminderten Septakkordes nicht allein durch die Werke hervorgebracht, sondern vielmehr durch diese nur dargestellt, nicht an diesen beweisbar, sondern an ihnen schon bewiesen. Und der gebildete Geschmack hat bis heute kein Problem, ein Salonstück weit unterhalb von Beethovens Op. 111 in den vielen Etagen des absoluten Wertemuseums der Musik einzuordnen.

Wenn daher die werkebeschreibenden Zentralen unserer Institute für musikalische Werkanalyse alle Einflußnegationen und -positionen eines Einzelwerkes durchflogen haben, landen sie stets wieder entweder in der luftigen und haltlosen Atmosphäre einer alles mit allem vergleichenden Spielwissenschaft oder auf dem Bauch der beweisenden Biographie, in der Sektion allwissende Schaffenspsychologie. Bei jener Landung wird jedes Werk auf jedes andere beziehbar gemacht, jedes Materialmoment der Musik, harmonisch oder melodisch, rhythmisch oder formal, auf jeder seiner musikgeschichtlichen Stufen nach dem Gusto und Interesse der vergleichenden Musikforscher miteinander verglichen; und dann ist es geradezu evident, daß ein Vau-Sieben in einem Werk von Strawinsky oder Britten von derselben Werkgnade gebenedeit erscheint, ein Quartgang in einem Werk von Dufay von derselben Werkgüte gesalbt wie bei Brahms, eine schlichte Kadenz bei Sibelius ebenso grandios wie bei Beethoven – weil der vergleichende Fetischismus an das Material und an die Formen der Musik den Untergrund des Eisberges und seine konkrete geschichtliche Wanderung weggesprengt hat; der jokende Musikgelehrte spielt unter pragmatischen Erkenntnisinteressen – oft als postmoderner Komponist, der nach verwertbaren Kadavern der Musikgeschichte Ausschau hält – nur mehr mit den gesetzlos gewordenen Schollen verschollener Gebirge.

Wen die Beliebigkeit dieses Spieles abstößt, wählt nach dem Durchfliegen der Einflußnegationen und -positionen an den Einzelwerken die zweite Landung, jene Bauchlandung im Labyrinth der Biographie und ihrer schaffenspsychologischen Beweisarten und -unarten. Die Werkanalyse stürzt in den Krater der psychologischen Schaffensanalyse, die Werkdeutung in den Abgrund einer Lebensdeutung komponierender Menschen, und von einer wirklichen Beweisrede über wirkliche und objektive Werte der Musik selbst verliert sich jede Spur.

Darüber ist Adornos Urteil und These über die Verfallsgeschichte des Verminderten Septakkordes hinaus; er weiß, daß wir Gesetze aufstellen müssen und immer schon aufgestellt haben, wenn wir an objektive Beweise objektiver Werte in der Musik und ihrer Geschichte heranzukommen versuchen. Folglich müssen wir die Gesetze unseres Aufstellens von Gesetzen in und über die Geschichte der Musik ebenso erörtern wie die Gesetze dieser Geschichte selbst, die sich nur scheinbar ganz unabhängig von unserem Gesetzegeben und Deuten der Musik als beliebig entstehende und beliebig deutbare Sache und Geschichte vollzieht. Um andeutungsweise zu klären, inwieweit Adornos Gesetzesaufstellung richtig, inwieweit sie falsch war, wollen wir daher im nächsten Philosophon nochmals in der Nähe von Op. 111 landen.