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075 Jedem Meister sein Eden

April 2002

Eine Kernlehre der Musikphilosophie Adornos verkündet, es inhäriere dem Klangstoff, aus dem die Werke der Musik zu jeder Zeit gemacht werden müssen, eine zwingende geschichtliche Logik von traditionsbildender Macht. Eine Logik des musikalischen Materials, die den Gesetzen einer metageschichtlichen Logik von Musik, einer autonomen Rationalität von Musik im Status von Kunst folge; und das Wesen und die Prinzipien dieser Logik auszuforschen, sei nicht nur Aufgabe jeder wirklichen Wissenschaft von Musik und Musikgeschichte, die diesen Namen verdiene, sondern vor allem auch jener modernen Komponisten, die sich nochmals ernsthaft darum bemühten, auf der Höhe ihrer Zeit und zugleich jener metageschichtlichen Logik von Musikgeschichte neue traditionsbildende Werke aus klingendem Stoff in die Welt zu setzen.

Schon der pure Gedanke an eine autonome Logik der musikalischen Ausdrucksmittel und gar an eine metageschichtliche Logik ihres geschichtlichen Verwendungsganges muß den äußersten Unmut heutiger Komponisten, Musiker und Musikhistoriker erregen. Denn das zentrale Argument Adornos, daß der permanente Verschleiß der Ausdrucksmittel durch ihren Verbrauch zu musikalischen Gattungen, Syntaxen, Stilen und Werken für den nochmals auf der Höhe seiner Zeit und der Musikgeschichte schaffen wollenden Komponisten einen Kanon des Verbotenen ausbilde, der mittlerweile – wir halten in den Dreißigerjahren des vorigen Jahrhunderts – sämtliche Mittel der Tonalität, „also die der gesamten traditionellen Musik“, ausschließe, muß auf den entschiedenen Widerstand des heutigen Denkens über und in Musik stoßen, weil wir unmittlerweile einen Zustand dieses Denkens erreicht haben, das einer totalen Freiheit eines individuell beliebigen Modelldenkens in und über Musik huldigt und diese freigesetzte individuelle Pluralität in Theorie und Praxis auch weidlich anzuwenden und zu genießen versteht.

Nun war bereits Krenek, seinerzeit Briefpartner Adornos, aufgefallen, daß der Materialkonzeption des Frankfurter Philosophen und damals noch komponierenden Schülers Alban Bergs die Hegelsche Lehre vom romantischen Ideal der Kunst zugrundeliegt, die kurzgefaßt besagt, daß der Geist und die Freiheit einer Kunst, hat sie noch nicht alle substantiellen Inhalte ihres universalen Wesens ausgesagt, diesen ihren großen Inhalten wie ein Kind in gewachsener Naturwüchsigkeit gegenübersteht oder vielmehr eben nicht gegenübersteht, sondern unfrei und unbewußt pathetisch in dieselben versenkt ist; Syntax und Stil, Sprache und Werke solcher Musik und Musikepochen entfalten sich daher aus diesen Inhalten kraft einer Tradition von Genies, die wie ein primäres Naturorgan einer wie noch natürlich fortwachsenden Musik und musikalischen Kollektivseele deren inneres Freiheitswesen zu universalen Schönheiten sukzessive entkleidet und vorführt. Und die Stunde des modernen Ideals schlägt erst in jener Minute, in der alle substantiellen Inhalte ausgesagt und folglich der komponierende und kollektivierende Genius der primär traditionsbildenden Musik sich von allen Fesseln naturwüchsiger Formen und Inhalte befreit hat – um den allerdings horrenden Preis, keine im Material immanent zuhandenen universalen Gattungen und Inhalte, Syntaxen und Stile, Formen und Weisen mehr aufspüren, aushören und auskomponieren zu können.

Im Sinne dieses kapitalen Unterschiedes im metageschichtlichen Wesen der stets geschichtlich sich darstellenden Musik widerspricht daher Krenek der zentralen These Adornos und setzt seine Gegenthese: der moderne Komponist sei eben darin und dadurch ein moderner und nicht mehr ein romantischer im Hegelschen Sinne, daß er endgültig und für immer frei über jedem Material schwebe, denn jedes könne und müsse er nun für jeden Inhalt, der ebenfalls frei und radikal individuell zu wählen sei, als Ausdrucksmittel in freien und offenen Formen verarbeiten und gestalten. Adorno erkennt die Schwere des Arguments, als hoffentlicher Kenner von Hegels Ästhetik ohnehin, und er verrät auch ein gewisses unsicheres Schwanken in seinem Versuch, jenseits der verbrauchten Tonalität im zunächst noch unerprobten Gebiet atonaler Klänge mögliche neue Wege zu einer neuen universalen Sprache von Musik auszukundschaften. Doch trotz zugegebener Unsicherheit hält er schließlich fest an seinem Konzept einer fortschreitenden Naturwüchsigkeits-Rationalität von Musik auch noch im neuen Materialgelände, denn Schönberg habe doch wohl das dodekaphone Ei eines atonalen Kolumbus gefunden.

Adornos Denken weigerte sich, wirklich modern zu werden und fürchtete nicht grundlos den Absturz der geschichtlich spät errungenen Autonomie musikalischer Kunst in den Abgrund totaler Kontingenz; ein musikgeschichtlich düsterer Ort, an dem zwischen universalen und privaten Ansprüchen von Musik komponierenden Individuen nicht mehr zu unterscheiden ist. So rief er zum neuen Amerika einer neuen Musik, die einerseits nur und andererseits dennoch eine höhergehobene und fortentwickelt traditionelle sein sollte, das musikästhetische und musikgeschichtliche Drohgespenst eines „avanciertesten Komponierens“ aus, das fortan nur noch möglich sei in der Nachfolge einer sogenannten „Zweiten Wiener Schule“, die kühnlicherweise einer Ersten mit wieder klassischen Ambitionen gefolgt wäre – ein Drohgespenst, das sich schließlich und ausgerechnet in einer Stadt namens Darmstadt wiederfand, um zu noch spätmodernerer Stunde der Musikgeschichte nicht nur zur Belustigung, sondern auch zur Verführung vieler Betroffener vorgeführt zu werden. Vermaledeit die Polystilistik Strawinskys, gebeneidet die dodekaphone Scheinsprache Schönbergs und seiner Nachfolger.

Die auf höchstem Niveau geführte Diskussion zwischen Adorno und Krenek über den objektiven Stand des musikalischen Materials muß einem Musikhistoriker unserer Tage wie ein musikspezifischer Streit um des Kaisers Bart erscheinen. Denn die letzten Referenzgründe unseres heutigen historischen Denkens, falls es sich überhaupt noch daran wagt, etwas objektiv Haltbares aus und an der Geschichte der Musik zu beweisen, sind jene beiden bekanntlich lediglich historischen Instanzen, als deren Ausdruck die Werke der Musik gelten sollen: einmal das in eine Biographie verwandelte Leben großer Männer alias Genies, zum anderen die Zeit der geschichtlichen Zeiten, als deren Ausdruck den Werken die letzte Unehre angetan wird, auftreten zu sollen. Alles was darüber oder vielmehr darunter ist, etwa die Beziehungen von Syntaxen und Stilen, von Gattungen und Werken unmittelbar und daher selbstvermittelt aufeinander, verfängt sich früher oder später in den Klauen jenes individuell beliebigen Modelldenkens in und über Musik, das auf seinen postpostmodernen Methodenpluralismus auch noch stolz sein zu können vorgibt, und das jeden musikgeschichtlichen Forscher im akademischen und popularisierenden Konkurrenzkampf auf dem Markt aktualisierter Biographien und Musikgeschichte zwingt, „seinen“ Bach, „seinen“ Mozart, „seinen“ Beethoven und „seine“ Musikgeschichte als ultima ratio moderna einer wissenschaftlichen Erkenntnis von Musik-Geschichte vorzuführen.

Mit anderen Worten: Biographie und Zeit- oder Kulturgeschichte als erste und letzte Logik von Musikgeschichte torpedieren von vornherein jede Idee einer sinnermöglichenden und sinnerfüllten Logik von Musikgeschichte als konkreter autonomer Materialgeschichte; und die moderne Forschung steht auch zu diesem ihrem Torpedo: jede Zeit bringe in ihrer Art und Weise ihre große Musik hervor, und jede einer jeden stehe in diesem paradiesischen Eden von Musikgeschichte in gleichem Rang und gleichem Wert. Denn wo käme man hin, an welchen düsteren Ort der Geschichte von Musik, wenn nicht auch alle Epochen der Musikgeschichte „unmittelbar zu Gott“ stünden – das Credo des Torpedos, das freilich bei nächster historischer Gelegenheit einer Reparaturwerkstätte für abgenutzte Denkapparate zugeführt werden sollte – es bedarf einer systematischen Überholung.

Auch adornitisch ward der verminderte Septakkord auserwählt, an den Marterpfahl einer objektiven Beweisführung für den tatsächlich, weil unvermeidlich begangenen Verschleiß und Verbrauch des musikalischen Materials gefesselt zu werden. Mit der Karriere dieses prominenten Klangstoffes, einst eine kühne Novität musikalischen Ausdrucks, der unterdessen nicht nur in der Jazzmusik zu einer universalen harmonischen Standardfloskel degenerierte, wird sich das nächste Philosophon beschäftigen.