076 Der Vau-Sieben
Mai 2002
Nach Aussage der einen ist Musik, die heute geschaffen und musiziert wird, morgen schon veraltet, weil eben von gestern; nach Aussage der anderen mitnichten, weil jede Musik, die jemals geschaffen und musiziert wurde, überhaupt nicht veralten könne. Über das Wesen der Musik existieren viele allgemeine Antinomien; diese ist zweifellos eine der interessantesten; an ihrer versuchten Bewältigung erfahren wir daher ebenso tiefe Einsichten in das Wesen der Sache wie in das Denkniveau aller, die sich bemühen, auf der Höhe der Sache diese zu verstehen.
Befragen wir die allgemeine Antinomie von Altwerdungsthese contra Nichtaltwerdungsthese unverblümt nach konkreten Inhalten, erblüht uns eine reiche Palette besonderer Antinomien als Antwort; denn selbstverständlich können in dieser Totalperspektive alle Eigenschaften des Wesens von Musik entweder alt oder nie und nimmer alt werden: das Material, die Formen, die Inhalte, die Musizier- und Hörweisen.
Unter Musikern ist als Antwort ein bauernschlauer Vergleich zwischen den kontrahierenden Gegensätzen beliebt: mag sie auch alt sein, die Musik, die Du spielst, weil gestern oder vorgestern komponiert; wenn Du sie nur bringst, als wär’ sie von heute musiziert, dann wird sie sein wie heute komponiert.
Im Zentrum der Antinomie von Sterblichkeit oder Unsterblichkeit der Musik standen aber seit jeher nicht die Musizierweisen, sondern das Material der Musik, der klingende Stoff, in den ihre Träume gegossen wurden. Und diese Kaprizierung auf das Material der Musik war bis zur Schwelle der Postmoderne am Ende des 20. Jahrhunderts, die sich musikgeschichtlich erstmals eine totale Freiheit über jegliche Materialverwendung, wenn auch um den hohen Preis einer beliebigen Selbstverallmächtigung, erkaufte, überaus berechtigt.
Denn welches Material die Musik zu ihrer geschichtlichen Stunde jeweils wählte, etwa welche neue Differenzierung von Tonsystem, von Satzweise, von Instrumentenbestand und von neuen Musikerständen, oder in späterer und spätester Zeit von neuen Tonsystemen oder von keinem mehr oder von einem je eigenen für jedes neue Werk, daran entschied sich die Fähigkeit der aktuellen Musik, Zeitgemäßheit als zugleich Musikgemäßheit, Musikgemäßheit als zugleich Zeitgemäßheit zu verwirklichen. Musik war noch nicht gänzlich in ihre eigene Sinnzeit eingekehrt, und als Unterhaltungsmusik ist sie noch heute als jeweils kollektive Potenzierung des Geistes aktueller Zeit in Gestalt einer jugendlichen Musik für Jugendliche möglich. Weil also einstmals die Ausdrucksmittel von gestern nicht mehr die von heute sein konnten, erfuhr die Musik in dieser primären Erschaffungsgeschichte ihres Wesens ausdrücklich bereits in der Wahl und Ausformung des Materials ihr jeweiliges Golgatha – denn auch die materialen Mittel des Ausdrucks hatten zusammen mit ihren Formen im erlösenden Dienst an den Geist des Heute ihr einmaliges Leben hinzugeben und auszuhauchen. Das Wehen des Geistes auch durch die Geschichte der Musik geschah strenger und immer schon eher, als wir gemeinhin gedacht.
Der allgemeinen Antinomie über die Sterblichkeit oder Unsterblichkeit der Musik ist also eine besondere Antinomie kapriziös subordiniert: veralten die Ausdrucksmittel der Musik, oder bleiben sie ewig jung? Beispielsweise der verminderte Septakkord, dieser Vau-Sieben der Musikgeschichte, unabdingbar erschienen in deren dur-moll-tonalen Periode, ein Akkord an der entgrenzbaren Grenze jeder Tonart, der auf dem großen temperierten Bahnhof schier unmäßig vieler Tonarten noch jede in jede andere zu verkehren erlaubt, und noch ehe uns Regers Modulationslehre zu Fahrdienstleitern mit totaler Verschubgenehmigung auszubilden erlaubte.
Sagen wir nun, dieser Superkerl eines harmonischen Wechselbalges sei für die Zwecke aktueller Musik unbrauchbar geworden, weil schon millionenmal abgebraucht und milliardenfach verschlissen, ziehen wir uns nicht gerade unwiderstehlich die Sympathien aller U- und Jazzmusiker von heute zu. Über die Zeit- und Musikgemäßheit eines Ausdrucksmittels, so bekämen wir garantiert zu hören, entscheide einzig und allein der Zweck, für welchen das Mittel die Ehre habe, Mittel sein zu dürfen. Und niemand könne bestreiten, daß kein Popsong und kein Jazz-Standard ohne schlagkräftigen Einsatz des Vau-Sieben in den heutigen Himmel der Musik aufsteigen könnte.
Das musikgeschichtliche Gegenargument über die Zeit- und Musikgemäßheit des Vau-Sieben formulierte Adorno ebenso kapriziös unwiderstehlich: der Vau-Sieben sei in Beethovens Op. 111 das letzte Mal an herausragender Stelle als pathetische Prominenz der Musik möglich gewesen; danach habe er als erhöhtes Ausdrucksorgan der Musik nur mehr als Kitsch-Faktotum in den Salonpiècen des 19. Jahrhunderts sein Leben gefristet und ausgehaucht.
Unsere (Un)Sterblichkeits-Antinomie der Musik findet sich nun auf dem geschichtlichen Boden der musikalischen Realitäten wieder; aber welche Position hier Recht oder Unrecht vertritt, wer hier wen für dumm verkaufen könnte, läßt sich nicht durch einen Rückgang auf die Paragraphen der ehrwürdigen Harmonielehre klären. Diese klärt uns zwar hierarchielogisch und bücherlang über das Woher und Wohin des Vau-Sieben im Stall des dur-moll-tonalen Systems auf; entziffert uns die tausendfältigen Verwendungsweisen dieses Wendehalses unter den Akkorden; aber der Vorzug der Harmonielehre, den Vau-Sieben als solchen zu behandeln, ist zugleich ihr tödlicher Nachteil: denn nur in der Theorie kommt der Vausieben als solcher vor, in der Musik stets nur als Mittel für wieder andere Mittel, etwa für harmonische und melodische Bildungszwecke, und diese wiederum nur als Mittel für die höheren und höchsten Zwecke des Ausdrucks von ebensolchen Inhalten, und alles zusammen für den Endzweck der Musik, in ihrer großen Gemeinde eine unvergeßliche Erinnerung an eine in Klänge gegossene Unsterblichkeit zu erwecken – ein Endzweck, den wir neuerdings glauben, nach Belieben und Nutzen der Endverbraucher definieren und inszenieren zu können.
Die Beweislast für die These einer unerträglichen Abgebrauchtheit des Vau-Sieben liegt daher bei jener elitären Partei, die Beethovens Op. 111 als symbolisches Non-plus-Ultra eines stimmigen Gebrauches des verminderten Septakkordes im Dienst höchster kunstmusikalischer Zwecke auszeichnet. Denn wenn auch die Gegenthese, daß Milliarden heutiger Anhänger der U-Musik mit ihrer Billigung des Vau-Sieben nicht irren können, irren sollte, so ist diese Billigung doch eine musikgeschichtlich spontane und unmittelbar aktuelle, mag sie noch sosehr durch die Mechanismen des Marktes herbeimanipuliert sein, denn Markt und Musik sind schon längst nicht mehr zwei verschiedene, sondern eine einzige Medaille mit zwei verschiedenen Seiten: die gegenwärtig aktuelle Übereinstimmung von Zeitgemäßheit und Musikgemäßheit. Das Milliardenpublikum der U-Musik und deren musikalische Heroen sind daher jedes Beweises überhoben; im Hier und Jetzt der Musikgeschichte, schreitet sie noch unbehelligt von ihrer Vergangenheit voran, müssen Werte nicht bewiesen, sondern nur geschaffen und gelebt werden, und mögen es die höchsten Unwerte und tiefsten Wertlosigkeiten sein, die in und durch Musik möglich sind. Der aktuelle Musikgeschmack der Milliardengemeinde hält daher bis heute daran fest, wiewohl es schwer und schwerer wird, sogar in den Gefilden des Jazz und der U-Musik daran festzuhalten, daß nur im Trog der musikalischen Gegenwart der Sog einer Ewigkeit von Musik erzeugt und erfahren werden könne. Und daß irgendwo irgend jemand existieren könnte, der im Glauben lebt, auch noch beweisen zu können, daß die musikalische Lebensuhr des Vau-Sieben längst schon abgelaufen sei, käme den Getreuen der aktuellen Gegenwart, die sich nicht mit den alten Zöpfen vormaliger Musik zu beschäftigen pflegen, niemals oder nur als Bekundung akademischer Absurditäten in den Sinn.
Dies führt auf die interessante Frage: wie beweisen wir eigentlich unsere wertenden Aussagen über Musik, die der Geschichte und zugleich ihrer eigenen entstammt? Lassen sich Werte der Musik, die einst aktuelle gewesen, als ewige beweisen, oder sind sie lediglich Glaubensartikel einer willfährigen Geschmacks-Religion, denen wir nach Gut- oder Bösedünken zustimmen oder nicht zustimmen können? Für die einen ein Höchstmittel, für die anderen ein Brechmittel: Beethovens Op. 111?
Unserer modernen Vorstellung von Musik und Musikgeschichte liegt die Vorstellung eines Perpetuum-mobile zugrunde; daher unsere naiven Rückprojektionen in die Geschichte der Musik: immer schon sei Avantgarde gewesen und der Avantgarden aller Zeiten Unterschied sei entweder nur ein gradueller oder gar keiner; in ihrem tiefsten Grunde trete die Geschichte der Musik daher auf der Stelle und am eigenen Ort; an einem Ort namens ewig gleichbleibender Kreativität von Musik; und zu entschlüsseln, worin in diesem Schluß der Trugschluß liegt, bleibe diesmal dem Hörer und Leser überlassen.