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077 Das Markttribunal der Werte

Mai 2002

Musik ist doch ohne Zweifel ein Wert; eine Wertewelt, deren Vielfalt musizierend oder auch nur hörend und mitempfindend erfahrbar ist. Lassen sich Werte, die in und durch Musik erfahrbar sind, beweisen? Was sind Werte, und was sind Wertbeweise? Und
was sind Unwerte, und was sind Unwertbeweise – im Reich der Musik und ihrer wie gehofft stets aktuell fortschreitenden Geschichte?

Die Werte, die uns Musik vermittelt, sind nie und nimmer beweisbar und sollen es auch nicht sein; so das felsenfeste Wort der einen; denn erstens spräche die Sache des musikalischen Wertes für sich selbst und bedürfe daher keines Beweises, und zweitens seien die Werte der Musik eine Setzung des Geschmackes, und über die Gründe und Abgründe des Geschmackslebens von Komponisten, Musikern und Publikum lasse sich wohl streiten, nicht aber begründet argumentieren.

Über diese forsche Behauptung verwundern sich manchmal sogar deren eingefleischteste Anhänger und ohnehin die wenigen anderen der vielen einen; denn daß eine so große Sache wie die Musik, ohne die nicht leben zu können, viele gestehen, in der Bewertung ihrer Werte nicht besser gestellt sei als das Imperium der Speisen, dessen marktbewußte Pflege und aktuelle Lebensgestalt –national wie individuell– vom Ja und Nein unserer Zunge abhängt, enthält die gepfefferte Pointe, daß in der Musik wie in der Kochkunst jeder Wert, der dem einen köstlich konveniert, dem anderen ein unerträglicher Unwert nicht nur sein könnte, sondern auch sein sollte, weil nur unter dieser Bedingung einer allgegenwärtigen und milliardenvielfach freiwählenden Geschmackszunge ein freier Markt für stets neue aktuelle Musikprodukte, für stets neue musikalische Werte und Unwerte für jeden und am Ende für den „ganz persönlichen“ Geschmack einen Sinn und Weltbeutel macht.

Verständlich, daß der heutige Konsument von Musik, hört er die Frage nach einer möglichen Beweisbarkeit der Werte oder Unwerte, die ihm durch Musik vermittelt werden, ein unerträgliches Unbehagen verspürt. Als vernähme er hinter sich die Schritte eines Privatdetektivs, der von den Auguren des Marktes beauftragt wurde, das musikalische Intimleben noch des eigenbrötlerischsten Musikkonsumenten auszuspionieren.

Dieses Unbehagen verspürten 31.000 britische Musikfans scheinbar nicht, als sie kürzlich den Song „Bohemian Rhapsody“ von Queen zum besten aller Zeiten erwählten und Songs von John Lennon, Beatles, ABBA und Madonna auf die Plätze verwiesen. Die Bewertungs-Kategorie „aller Zeiten“ ist stramm teleologisch gedacht, wie es sich für ein aktuelles Weltgericht über die Werteproduktion der Musik gehört: die aktuelle Musik von heute muß die beste aller gewesenen sein, weil die gewesenen nicht mehr die aktuelle von heute sein können. Die genannten Songs haben daher nur noch die der Zukunft als Konkurrenten zu fürchten, nicht aber die Songs von Komponisten mit so obskuren Namen wie Purcell, Schubert, Schumann und Strauss. Dieses vorläufige Endtribunal über die höchsten Werte der Musik in der Gattung Lied urteilt und schließt, bewertet und richtet daher unter der Annahme, daß die Geschichte des traditionellen Kunstliedes von der des Popsongs überholt, überhöht und vollendet weiterentwickelt wurde; und dieser Annahme liegt die genannte Vorausannahme zugrunde, daß das Imperium der Musik als eine wie gehofft stets fortschreitend aktuelle Geschichte sich manifestiere; daß die imperiale Macht der Musik die Kolonisierung aller Epochen der Menschheitsgeschichte auch an der Front des Liedes künftig stets besser und vollkommener vorantreibe.

Diesem Urteil wird sich heute jeder empirisch-soziologische Geschmacksforscher anschließen, ohne seinen befreundeten Gehirnforscher nach den aktuellen Direktiven unserer heutigen Gehirne anbezüglich heutiger Wertefeststellungen befragt zu haben. Geblendet vom Arsenal imperialer Statistiken, vergißt er daher bedenklicherweise, eine höchstwichtige Anfrage an die aktuelle Höchstinstanz Gehirn zu richten: wo sich in demselben jenes befehlende Zentrum befindet und eventualiter ausschalten ließe, das uns stets wieder unverschämt befiehlt, in einen gefängnisartig geschlossenen circulus vitiosus zu geraten, wenn wir versucht werden, die Werteproduktion der Musikgeschichte den Beweisakten einer aktuellen Endtribunalisierung zu unterwerfen.

Denn der Paragraph, daß 31.000 nicht irren können, speist seine beweisende Kraft letztlich aus dem Fundamentalparagraphen, daß eine stets aktuell fortschreitende Musikgeschichte nicht irren könne; und dieser wiederum läßt sich seine Tragfähigkeit durch die empirisch erhobenen 31.000 Träger einer einmütigen Geschmackszunge beweisen. Das Tribunal ist das Resultat eines wissenschaftlichen Wiederkäuungsaktes einer Speise, die ohnehin jeder kennt, nur jetzt noch genauer in ihrer wirkenden Nachwirkung, um ihre Wiederproduktion und ihren Wiederverkauf besser vorantreiben zu können

Die aktuell grassierende Kulturseuche, für jedes Gebiet der traditionellen und aktuellen Kultur und Künste, das beste Werk aller Zeiten zu küren und eine Rangliste der Werke und ihrer Werte zu erheben, gehorcht einem grausamen und fürchterlichen Edikt der Zukunft: für den wirklich freien Markt von morgen wird schon heute jede werthaltige Kanonbildung in Kultur und Kunst nicht nur illusorisch, sondern unmittelbar marktschädlich, geschmacksschädlich, wertschädlich. Und der totalen Wert-Verunsicherung dieser kommenden Welt, in der jeder Geschmack jeden Wert für einen oder keinen nehmen und geben kann, wird verzweifelter Widerstand geleistet durch Feldbeforschung und Befragung entweder der Masse oder ihrer Pendants, der Prominenten jedes kulturellen Geschmacks- und Wertesortiments: nach dem besten Roman aller Zeiten befragt das Nobelinstitut 100 Schriftsteller, nach dem besten Song aller Zeiten befragt die Musikindustrie 31.000 ihrer Konsumenten.

17 Bewertungskategorien kennt der Österreichische Musik-Oscar, darunter sogar eine für „Klassik“; eine auch an diesem Gerichtshof dubiose Kategorie, bei der unter anderem fraglich bleibt, ob sie die Werke und Werte der modernen Kunstmusik seit Anbeginn des 20. Jahrhunderts miteinbegreift; denn kürzlich wurde die Produktion eines Neujahrskonzertes, selbstverständlich in marktprominenter Einspielung, unter „Klassik“ gepreiswürdigt, was den Verdacht erregt, die Neue Musik könnte für die Instanzen der hierzulandigen Musik-Oscars gar nicht mehr unter Musik rangieren. Gleichfalls fehlt die noch unverdorben unmedial betriebene Volksmusik; verständlich, denn was soll der Markt mit einer Musik anfangen, die sich dem großen Markt verweigern muß, will sie nicht endgültig ihre letzten Werte zu Grabe musizieren? Aber auch die große neue Volksmusik, die mit den großen und weltweiten Einschaltquoten, fehlt unsachlicherweise, vermutlich weil deren eigener oscarverdächtiger Grand-Prix die einschlägige Beurteilung und Feststellung ihrer objektiven Produktion neuer Musikwerte vornimmt. Das Überleben des Schlagers als wertwürdiger Ranking-Kategorie dürfte jüngere Gemüter sensationell anmuten; doch wo steht geschrieben, daß unsere groß- und kleindeutschen Gartenzwergeseelen jemals aussterben müssen? Daß sich der Jazz mit Blues und Folk eine einzige Kategorie teilen muß, läßt auf schwächelnde Nachfrage der Konsumenten oder auf eine Stilhemmung der Werteproduzenten schließen; davon kann bei Rock und Pop, trotz Konkurrenz durch aktuellere Kategorien wie Dance, Soundtrack, Alternative Act, Newcomer usf, keine Rede sein: immer noch sorgen sogar zwei Bewertungskategorien, Single und Gruppe, für die massenhafte Ankunft ihrer marktgesicherten Musik-Werte. Cross-Over scheint endgültig marktpositioniert, diesmal hat sich eine professionelle Musikergruppe erfolgreich an Gregorianischen Gesängen vergriffen. Der Preis für die geradezu gutbürgerliche Kategorie „Lebenswerk“ ging, wie unvermeidlich zu ertragen, an einen unserer unersetzlichen Austropopbarden, mit der garantiert erfreulichen Nachwirkung, daß wir demnächst wieder in erschöpfenden Interviews mit den kühnen Lebensweisheiten unserer singenden österreichischen Künstlerpolitiker gesotten werden, also darüber aufgeklärt werden, wie die Rettung der österreichischen Seele weiterhin verfolgt werden soll. Den Preis in der Kategorie „erfolgreichster Künstler im Ausland“ entführte ein rhythmuskundiger Musiker nach Tirol, nachdem seinen aktuellen musikalischen Chartwerten ausgerechnet im Heimatland des Rock und Pop das Kunststück gelang, helle Massen dunkel zu begeistern; ihm könnte daher nach heutiger Lage der Dinge und Werte bald auch die Ehre zuteil werden, die Wiener Festwochen von morgen ebenso zeit- wie musikaktuell zu eröffnen. Ein prominenter österreichischer Fußballkaiser könnte die Festansprache halten, und der häubchengekrönte Musikkönig des Alpenlandes könnte das Heer abfeiernder Massen beseligt abtanzen lassen. Sie fänden ihr Heil im Heil einer Musik, die endlich jeder zum Fressen gern haben kann – weil auch in der Musik nicht schlecht sein kann, was sich sogar weltweit gut und bestens verkaufen läßt, weil es ein Heer bauchdenkender Demokraten augenblicklich glücklich macht.

Funktionieren die Produktion, Reproduktion, Zirkulation und Konsumtion der Produkte der Musen nach der Logik der ökonomischen – Produkte und Musen – entlarvt der demokratische Snobismus den traditionsnaiven Selbstwiderspruch seines wunderschönen Kinderglaubens: auf und durch den Markt würden sich die wahren neuen Werte einer neuen Kultur, Kunst und Musik wie durch sich selbst durchsetzen. Das Subjekt des Marktes ist nicht mehr das Subjekt von Hof und Adel, von Kirche und ästhetischem Bürgertum; das Subjekt des Marktes denkt entschieden marktorientiert: einzig was im Hagel und Dschungel seiner Gewalt besteht, das habe Bestand und Wert, und alles andere existiere lediglich im Hades wertloser Anonymität. Wir müssen daher in der französischen Tribunal-Kategorie „Grand-Prix“ das Wort Prix in dessen ganzer Sinnweite verstehen: Preis und Wert, aber auch Kosten und Strafe.