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078 Op. 111, zum Ersten

Mai 2002

Ob Werte und Unwerte, die in der Geschichte und Gegenwart der Musik erscheinen, objektiv beweisbar sind, ist eine Frage, durch deren Antwortlabyrinth den Fragenden allein der vielfarbige Faden eines exakt geschnürten Kategorienbündels führen kann. Daß der verminderte Septakkord, vulgo Vau-Sieben, am Beginn von Beethovens Op.111 noch „allen Ausdrucks voll“ sein soll, aber bereits in den Salonpiècen des 19. Jahrhunderts nur mehr als Gefühlsorganisator für musikalische Klischees und Kitschigkeiten zu agieren vermag, diese Aussage Adornos will nicht als subjektives Geschmacksurteil, sondern als objektives musikalisches Werturteil mit dem Anspruch eines Sachbeweises und seiner sachgegründeten Geltung verstanden sein.

Wie aber lassen sich Urteile dieser Art, Urteile über wertbildende und wertvernichtende Vorgänge in der Geschichte und damit Gegenwart der Musik beweisen, in einer begrifflich kaum faßbaren Kunst, in der nach dem erklärten Verständnis des sensus communis von heute einzig ein nach freiem Belieben wählender Musikgeschmack das erste und das letzte Wort zu führen habe?

Wagen wir uns furchtlos in das Labyrinth des Beweisens und sehen wir zu, was uns begegnen mag. Schon an der ersten Gabelung eine dramatische Verzweigung in einen Weg nach links und in einen Weg nach rechts. Nach links führt uns, wie die noch lesbare Beschilderung unserer Vorgenerationen anzeigt, ein Weg in die verschlungenen Gänge des empirisch-induktiven Beweisens, nach rechts aber ein Weg in die Areale der nichtempirisch-deduktiven Beweisverfahren. Als Kinder unserer Zeit wenden wir uns selbstverständlich sofort nach links, denn die nichtempirisch-deduktiven Beweise stehen in schlechtem Ruf, und seitdem wir uns das Märchen vom denkenden Gehirn erzählen lassen, sogar in vernichtendem Verruf.

Weil die Musik etwas Erfahrbares und von empirischen Menschen empirisch Erzeugtes sei, müsse jeder Beweis von Urteilen und Aussagen, die über musikalische Werte und Unwerte erhoben werden, auf empirisch handfeste Tatsachen zurückgreifen; so das Credo, nicht unseres Gehirns und unserer Gene, sondern unseres Glaubens an und über Musik. Nun ist unser Gehirn zwar etwas schwammig und schwabbelig, doch ist es ohne Zweifel ein angreifbares materielles Etwas, als Organ sezierbar bis in seine atomaren Teile und Teilchen, und überdies in den Laboren unserer Gehirnforschung den Anschein einer enormen Denkfähigkeit offenbarend. Doch eben im Begriff, uns in die Areale dieser Offenbarungen und ihrer Beweise zu begeben, sehen wir zu unserer Wahlfreude, daß an der Gabelung in die Gänge der empirisch-induktiven Beweisverfahren nicht nur die Wertzentrale unseres Gehirns verführerisch lockt, auch die musiksoziologischen Befragungszentralen unserer empirischen Rezeptionsforschungsinstitute und ebenso die eifrig werkebeschreibenden Zentralen unserer Institute für musikalische Werkanalyse sowie auch die Zentralen unserer Interpretationsforschungsinstitute, die der Werke Interpretation und Interpretationsgeschichte durch einstige und heutige, durch große und kleine Interpreten als Wertbasen erheben, haben ihre selbstbewußt leuchtenden Namensschilder ausgehängt.

Der Abgrund einer schrecklichen Vermutung tut sich in uns auf: sollte das Reich der Empirie von Musik ein unendliches sein, weil ein Etwas mit unendlichen Eigenschaften unendliche Gründe haben könnte? Existieren womöglich unendlich viele und gar verschiedene empirische Beweispfründe und -labyrinthe, und hinter jedem einzelnen Weg im Labyrinth des empirischen Wissens über Musik könnte sich stets wieder eine neue Gabelung neuer Gabelungen zu neuen Wegen und Abwegen auftun? – Was tun? – Mit leichtem Zittern in den Knien erkennen wir, daß wir eigentlich schon wissen müßten, was wir eigentlich wissen wollen und überhaupt über Musik wissen können – wenn wir nur wüßten, was man eigentlich wissen kann, wenn man über die wert- oder unwertbesetzten unendlichen Eigenschaften und Eigenschaftsgründe der Musik irgendetwas beweisend wissen möchte. (Wären wir nur schon durch das Labyrinth des beweisenden Wissens hindurchgegangen und in das Alltagslabyrinth unseres gedankenfreien Geschmackes wieder lebendig herausgekommen.)

Wie angenehm war es doch droben im Reich des unendlichen Geplauders und freien Behauptens über die Werte und Unwerte der Musik, wo allhier uns gegönnt ist, ganz ohne Beweis und ganz ohne Anflug auch nur kleinster Gewissenbisse über Musik dieses, aber auch jenes zum Besten und zum Schlechtesten zu geben und hinzunehmen und sogar als musikalischen Contest eines Millionenpublikums zu organisieren.

Wer hat uns nur unser abseitiges labyrinthisches Abenteuer eingebrockt? Theodors Vau-Sieben und dessen dubiose musikgeschichtliche Karriere; und wir wissen nicht, kraft welchen Teufels teuflischen Rat wir jemals bewiesen wissen werden, ob wir dieses sonderbare Werteehepaar eines Akkordes und seiner Wirkungsgeschichte vor das empirische Tribunal der Rezeptions- oder der Interpretations- oder der Analysebeweise zitieren müssen, um den Beweisgrund aller Wertbeweise über die eingeklagten Wertefragen aufzufinden. Doch schon beflügelt eine List unseren beratenen Geist; da wir viele Wege zugleich einschlagen wollen und doch nicht können, beschließen wir, jeweils nur die Empfangsräume der vielbewegten Zentralen zu begehen, nicht deren Hinterräume und Hinterhöfe; unser vielfarbiges Zauberbündel fest umklammernd und nicht verwickelnd, eilen wir bereits nach den ersten Beweisauskünften und Verlockungsangeboten sogleich wieder an die soeben verlassene Weg-Gabelung zurück, um die nächste Zentrale mit einem sondierenden Besuch zu beehren; danach werden wir vielleicht besser sehen und über unseren weiteren Weg besser entscheiden können.

Befragen wir nach einem Pop- oder Jazzkonzert von heute – 2002 – das Publikum, ob es der Ansicht eines Autors des 20. Jahrhunderts beipflichten könne, der Vau-Sieben sei schon in den Untiefen des 19. Jahrhunderts obsolet geworden und tauge somit schon seit langem nur mehr zum Transporteur gesunkener und schlechter Werte, dann werden wir hören, was wir zu hören verdienen, sofern man unsere Frage überhaupt noch als sinnvolle entgegenzunehmen gesonnen ist. Denn musikalischer Wert und Unwert wird durch den kollektiven Geist eines Popkonzertes dadurch definiert, daß eine möglichst große Menge von Menschen, meist jugendliche oder jugendlich verbliebene erwachsene, ein subjektives Lustempfinden erleben, und mit welchen Mitteln die Musik dies erreicht, ist für ihr Wertempfinden eine sekundäre und tertiäre Frage; denn der Sinn und Zweck des musikalischen Wertes ist einzig und allein, über den kollektiven Ozean einer subjektiven Beglückung zu fahren – ob mit Boot, Segel-, Dampf- oder modernem Schiff ist den Seligen der ewigen Pubertät völlig schnuppe, wenn es nur gemeinsam unter der Flagge eines führungswerten Leithammels geschieht.

Befragen wir nun, von Theodors Gerücht von objektiven Werten und objektiven Wertbeweisen in unser Labyrinth verführt, dieselbe aktuelle Pop-Gemeinde, nach einem erzwungenen Besuch eines sogenannten klassischen Konzertes mit Werken von Haydn, Mozart und Beethoven, in dem etliche Vau-Sieben, darunter auch unser inkriminierter aus Op. 111, zu erscheinen die Güte haben müssen, nach ihrem werten Wertbefinden, dann erhalten wir gleichfalls Antworten, die zu hören, wir zu hören verdienen. Gerade noch wird man dem Befrager zugestehen, daß die gehörte Musik, abgesehen davon, daß sie rhythmisch und soundmäßig runderneuert werden müßte, immer noch zu gewissen Tages-, besser aber zu gewissen Abend- und Nachtstunden brauchbar sein könnte; außer Zweifel aber stehe, daß sich ein erhebendes feeling bei Beethovens fragwürdigem Vau-Sieben kaum oder gar nicht mehr einstelle, weil dieses alte Möbelstück, einst vielleicht prunkvoll renommierend, heute verstaubt und unanhörbar geworden sei. Eine Antwort, die in den Zentralen unserer Befragungsinstitute und vor allem in den Gehirnen ihrer Befrager gewisse nichtempirische Alarmglocken auslösen müßte – wenn diese nur schon installiert worden wären.

Befragen wir umgekehrt die heutigen ehrenwertigen Reste des bürgerlichen Konzert- und Opernpublikums von einst, wie sein wertes Wertebefinden befinde, nachdem wir ihm zu Befragungszwecken das Durchleben eines Popkonzertes aufgezwungen hätten, muß uns um das Verstehen der zu erwartenden Antworten unter umgekehrten Vorzeichen gleichfalls nicht bange sein. Auf die Zusatzfrage, ob die chronisch jaulenden Gitarren nicht zwangsläufig als fortgeschrittene und emanzipierte Enkelkinder des altvorderen Vau-Sieben der alten Klassik zu deuten wären, erhielten wir die ubiquitäre Basisnegation unserer aktuellen Beliebigkeitsästhetik als Antwortgeschenk: ein achselzuckendes „Warum nicht?“ Denn was in der Musik für jeden Geschmack billig zu haben ist, das kann für deren Deutung und Bewertung nur Recht und teuer sein. Und mit diesem sich bewunderswert tolerant dünkenden Edikt über Gusto und Ohrfeigen, die unter Menschen nun einmal stets verschieden ein- und ausfallen sollen, befinden wir uns wieder im Toleranzlabyrinth unseres hyperpostmodernen Alltages, der sich vor der Drohung seiner tödlich lähmenden Langeweile stets wieder durch ein „Fortsetzung folgt“ zu retten versucht.