Categories Menu

080 Op. 111, zum Dritten

Juni 2002

Dem Lasso von Adornos These, das Klangmaterial und dessen Formen, sind sie einmal Ausdruck für Inhalte der Musik geworden, müßten sich unerbittlich und unwiederholbar verbrauchen – der verminderte Septakkord sei beispielsweise in Beethovens Op. 111 zum letzten Mal auf der höchsten Höhe seiner Ausdrucksmöglichkeiten gesichtet, gehört und aus dem Himmel der Musik herabgesetzt worden – diesem behaupteten Gesetz der Geschichtlichkeit von Musik können wir auf zumindest vierfache Weise zu entkommen versuchen.

Erstens können wir mit Pythagoras und dem unaussterblichen Geschlecht seiner Nachkommen, die bis heute alle Musik und Welt als Epiphanie quantitativer Urwelten mathematisieren, deren Glauben zu folgen versuchen, wonach es in der Musik nicht um das gehe, woran gewöhnlicherweise das Menschengeschlecht zu glauben pflegt, sondern nur und immer nur um das Eine – um die unbefleckte und unbefleckbare heilige Proportion. Da sich in jeder Material- und Formschicht der Musik ewige Proportionen finden und montieren lassen, seien diese der ewige und substantielle Inhalt aller Musik, und in welcher Art von Musik dieser eigentliche Inhalt erscheine, sei nicht das Wesentliche, sondern lediglich das Unwesentliche, nur die Erscheinung, nicht das Wesen, nur das Gewand, nicht die Botschaft der Musik. Wer richtig zu hören verstehe, der höre somit in allen zu Musik rittergeschlagenen verminderten Septakkorden aller Epochen und Stile das Geheimnis einer ewigen Proportionen-Botschaft, und daher sei es gänzlich unsinnig, über einen angeblichen Verbrauch des Materials und der Formen der Musik ein Gesetz der Geschichtlichkeit von Musik aufzustellen. Die esoterischen Nomoi der Musikgeschichte erfordern vielmehr die im Wandel stets gleichbleibende Relation von erscheinender musikalischer Klangwelt einerseits und erschienener intellegibler Proportionenwelt andererseits als das eigentliche Gesetz der Musik in ihrer Geschichte aufzustellen.

Zweitens können wir mit Ansermet und anderen Träumern von fundamentalen Ontologien einer Musik an sich träumen, von unveränderbaren und daher übergeschichtlichen Verwandtschaftsrelationen zwischen gewissen Inhalten des menschlichen Geistes in Gestalt urhafter Empfindungen einerseits und gewissen Materialformen der Musik andererseits, die kraft dieser Verwandtschaft in den Rang unveränderlicher und übergeschichtlicher Gestaltqualitäten aufrücken. Urtümer von Urempfindungen in klingenden Urformen und Urmaterialen auszudrücken, sei der eigentliche Auftrag der Musik, das Gesetz ihres Wesens und ihrer Geschichte – die kleine, absinkend einschläfernde Terz als Intervallsakrament aller Wiegenlieder seit den Neandertalern – wer hätte diesen Gedanken nicht schon zu nachtschlafender Zeit erwogen? Aber die Konsequenzen dieser zweiten Gesetzeshypothese über den Gang oder vielmehr Nichtgang der Geschichte von Musik sind nicht weniger witzig als die unserer ewigen Neopythagoräer.

Drittens können wir mit dem gängigen Paradigma unser historischen Musikwissenschaften das Gesetz aufstellen, jede Art von Musik einzig und allein aus dem Geist ihrer Zeit zu verstehen, aus diesem zu legitimieren, aus diesem zu bewerten, folglich auch den Gebrauch oder vermeintlichen Verbrauch ihrer Materialien, ihrer Formen, ihrer Inhalte. In diesem Paradigma, das auch Universitätsehren erlangt hat, gilt die stillschweigende und pervertiert esoterische Voraussetzung, daß die Inhalte, Formen und Materialien der Musik in jeder Epoche, in jeder Kultur, in jeder weltgeschichtlichen Stunde gleich nahe dem Zentrum der Musik wohnten, in gleicher Nähe und Anbiederung „unmittelbar“ zur Gottheit der Musik stünden und deren Engel belästigten. Die philosophische Sorge um einen angeblichen Verbrauch des Materials, um einen Verfall des verminderten Septakkordes zum Klischee, sei daher nicht nur unangebracht, sondern das genaue Gegenteil sei als Wahrheit und Gesetz der Musik und ihrer Geschichte anzuerkennen. Denn stets wieder gebäre jede neue Epoche kraft ihrer neuen Unmittelbarkeit neue musikalische Stile, neue Syntaxen, neue Gattungen, neue musikalische Bedürfnisse und Bedürfnisanstalten – das ewige Wiederauferstehen des ewig lebendigen Vau-Sieben. Dies beweise beispielsweise die enormierte Vielfalt an Stilen, die der Jazz, die unübersehbare Zahl an Songs und sogar an besten aller Zeiten, welche die Popmusik seit einem halben Jahrhundert der Menschheit vermache. Und im Zeitalter des Elektropop, in das einzutreten wir nunmehr die brachiale Ehre haben, müsse man sich um die Resurrektion des Vau-Sieben erst recht keine Sorgen machen, weil dieser nun wirklich neuen, weil erstmals technoiden Unmittelbarkeit der Musik sogar das schöpferische Wunder- und Meisterstück gelinge, den längst abgebraucht geglaubten Zweivierteltakt durch Spielchen am Soundpult und Lautverstärker zu ungeahnt neuen Stil- und Werkehren zu erheben.

Über den Skrupel, an dieser schönen Rechnung von stets schöner und neuer sich aufsummierenden Unmittelbarkeiten von Musiken, die irreduzibel verschieden und daher gleichwertig unvergleichliche Musikqualitäten ihrer jeweiligen Zeit entlockten, könnte irgend etwas nicht stimmen, beruhigt sich das schlechte Gewissen des musikhistorischen Gesetzgebers bekanntlich durch ein kollektiv verinnerlichtes und öffentlich lückenlos praktiziertes Toleranztabu, wonach wir in der aktuellen Vielfalt der Musik von heute selber wissen müßten, welche Musiken wir miteinander vergleichen und welche wir unter keinen Umständen miteinander vergleichen dürften.

Viertens können wir mit der genialischen Variante des historistischen Paradigmas punkten und das Gesetz aufstellen, dem Genie und seiner unverwechselbaren Individualität ist zu allen Zeiten nichts unmöglich, und dieser musikalische Wunderwuzzi wäre daher auch mächtens, auf das adornitische Verbrauchs-Gesetz wie auf einen Irrtum eines mittelmäßig-ungenialen Denkens herabzulächeln und den lediglich durch Nichtgenies und Epigonen zu Schlamm und Dreck verdorbenen Vau-Sieben in neues Gold und Silber zu verwandeln. Diese Lehre vom allmächtigen Genie verkündet oft derselbe Musikhistoriker, der uns andernorts darüber aufklärt, daß der Unterschied von Kleinmeister und Genie ein von uns in die Vergangenheit zurückprojizierter und daher nicht aus dem Geist der damaligen Zeit zu erklärender sei; Salieri müsse daher auch noch als Komponist, nicht nur als intrigant verdächtigter Mörder seines angeblichen Genie-Feindes, Recht und Satisfaktion widerfahren.

Als traditionsvertrauter Philosoph weiß Adorno Bescheid über die innere Unhaltbarkeit dieser vier Ansätze und die absurden Folgerungen, die sich ergäben, folgten man ihnen regulativ oder konstitutiv als Gesetzen der Musik und ihrer Geschichte. Die Richtigkeit seines Gesetzes folgt aus der Richtigkeit seines Begriffes musikalischer Freiheit und Befreiung; und die Wahrheit der inhaltlichen Erfüllung des Gesetzes ist am konkreten geschichtlichen Gang der Stile, Syntaxen, Gattungen und Werke seit dem 19. Jahrhundert aufzuzeigen. – Material und Formen der Musik, einmal Mittel des Ausdrucks einer universalen Befreiung des Geistes zu spezieller Autonomie und deren Wahrheit geworden, können nicht abermals und nicht wieder und nicht nochmals in ursprünglicher Weise Mittel einer abermaligen und nochmaligen Befreiung werden.

Ist Original-Genie das individuelle Gesetz, das der Natur seines Materials die universale und zugleich individuelle Regel vorgibt, dann könnten Stile, Syntaxen, Gattungen und Meisterwerke nur dann auf einer stets gleichbleibenden Höhe von Autonomie-Werten erscheinen, wenn diese Natur eine wäre; die Natur des Materials wie der Sinnlichkeit des genialen musikalischen Geistes ist aber nichts als die geschichtlich sich bewegende Substanz des Geistes selbst, segmentiert als musikalischer Geist – also eine durch Selbstverbrauch notwendigerweise sich denaturierende, sowohl vergeistigende wie zugleich verblödende Natur; E und U sind daher irreversibel, und Cross-Over weiß nicht, was es tut, wenn es meint, eine vermeintlich falsch oder irrtümlich verlorene Natur von Musik restaurieren zu können.

Aber obwohl Adorno die möglichen Dialektiken von Freiheit in der Spannung zu ihrer Natur und deren geschichtlichen Vernutzung kennt, entscheidet sich der Frankfurter Philosoph und Kompositionsschüler Alban Bergs bekanntlich gleichfalls für ein musikgeschichtliches Aufsummierungsmodell, letztlich für die genialische Variante der bürgerlichen Musikästhetik und Musikhistorie, wenn auch in einer avantgardistischen Subvariante als ewig fortschreitendender Modernität, mit dem Wiener Mekka einer Schönberg-Schule, deren neue Unmittelbarkeit mächtens sei, stimmige Revolutionen des Geistes der traditionellen Stile, Syntaxen, Gattungen und Meisterwerke anzufachen und hervorzubringen. Demnach müßte das insgeheime musikgeschichtliche Telos des verminderten Septakkordes der Zwölftonakkord oder zumindest eine subkutane harmonisch-melodische Rolle auf der neuen Bühne der neu gereihten Töne sein; doch erhebt das adornitische Verbraucher-Gesetz auch gegen diese Anmaßung ein unerbittliches Veto; denn nur mehr in der Gestalt eines vereinzelten und äußeren Ähnlichkeitsscheines vermag der Vau-Sieben in atonaler und dodekaphoner und sogar noch serieller Musik aufzutreten, nicht mehr jedoch eine Botschaft von einer Steigerung autonomer Wahrheit und Freiheit von und für Musik zu verkünden.