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081 Allegro bedeutet Allegro

Juni 2002

Was Wort ‚Allegro’ existiert in seiner allgemeinen Verwendungsweise zweifach; einmal als Wortlaut, ein anderesmal als Schriftwort. In seiner allgemeinen Bedeutungsweise existiert das Wort Allegro jedoch glücklicherweise nur einmal und einfach, denn gleichgültig, ob geschrieben oder gesprochen, Allegro bedeutet Allegro.

Aus den beiden allgemeinen Verwendungsweisen entspringen in ihrer gesprochenen und geschriebenen Ausführung durch Menschen unendlich spezifizierte und individualisierte; und auch die allgemeine Bedeutungsweise differenziert sich als empirisch konkrete zu unendlich speziellen und individuellen Allegri. Obwohl daher der Begriff Allegro in seiner allgemeinen Bedeutung eindeutig bestimmt und bestimmbar ist, ist er zugleich in seinen besonderen und individuellen Konkretionen unendlich vieldeutig bis undeutig. Und daher ist die vulgäre Meinung, allein die Kunst sei vieldeutig, der Begriff jedoch eindeutig, ein Märchen für Erwachsene. Soviel auch zur Frankfurter Philosophenmeinung, der Begriff unterschlage die Nichtidentität, um allein der Identität zu dienen.

Der Stirnsatz von Beethovens fünfter Sinfonie soll gemäß Partiturvorschrift in der Tempogattung Allegro, präzisiert um den Artzusatz Con brio, erklingen. Die durch lebendige Tradition vermittelte Bezeichnungskraft des Wortes Allegro con brio genügt vollkommen, um jedem Musiker den Begriffsinhalt, den es auf der Ebene des Tempos der Musik auszuführen gilt, vor das geistige Auge und Ohr zu stellen – ebenso notwendig wie ungezwungen, ebenso frei wie nicht willkürlich, ebenso mimetisch wie nicht reflexhaft und automatisiert, ebenso autonom wie gehirnbefehlsunabhängig, ebenso einfach wie komplex vermittelt durch das, was ein Allegro con brio nicht ist und nicht sein soll.

Ein Tempoallgemeines spezifisch zu individualisieren und individuell zu spezifizieren ist geboten, wenn das Tempo ein substantielles und untrennbares Fixmoment der auszuführenden Musik ist, und wenn der kategorische Imperativ des Musizierens gebietet, nicht anderer Interpreten Interpretation eines Werkes nachzuäffen, sondern nach einer ureigenen zu suchen.

Soll die Interpretation der Fünften unvergeßlich werden, dann auch dadurch, daß deren Tempointerpretation integrativer Bestandteil einer Auffassung wird, die in den ruhmfähigen Ruf geraten soll, einzigartig zu sein. „Einzigartig“ ist ein falsches Wort für das vernünftige Paradox, daß jede Interpretation beanspruchen soll, zugleich individuell und allgemeingültig zu sein. (Einzigartig ist allein ein Sein, von dem sich weder ein Gattungs- noch ein Artbegriff bilden läßt, und das sich daher durch unser Denken auch nicht als bestimmtes Sein denken läßt.) Empirisch gesehen und daher „wissenschaftlich beweisbar“ ist jede von allen möglichen Interpretationen individuell, denn keine gleicht empirisch der anderen, weil schon jede durch die Kontingenz der Materie – sowohl der Menschen wie ihrer Instrumente – ungleich sein muß – keine zwei von allen Atomen dieses Universums von hier bis zum letzten Strahlungshintergrund des Alls sind vollständig identisch – aber deren Nichtidentität und Individualität ist nicht wahrnehmbar, sie ist „nur“ denkbar. Kämpften daher Künstler bloß um eine „einzigartige Individualität“, kämpften sie um des Kaisers Bart – denn alles Existierende ist schon per se individuell. Nur dasjenige Individuelle, das – auch im Reich der Kunst – zugleich ein konkretes und aktuelles Allgemeines repräsentiert – ist daher wirklich berechtigt, um unsere Aufmerksamkeit und Anerkennung zu buhlen, nur ein solches lohnt eine ästhetische Sozialisierung, und mag deren Gemeinde noch so klein sein. Welche universalen Werte in welche individuellen Inhalte von Klängen und Musizier- und Hörweisen eingebaut sind und werden, formuliert daher die Gretchenfrage an jede Musik und Musikpraxis.

Es versteht sich, daß die Voraussetzung und Ermöglichung einer unmittelbaren Verständlichkeit allgemeiner und zugleich unendlich individualisierbarer Tempoanweisungen die geschichtlich und musikalisch vergegenständlichte Verwirklichung des universalen Begriffes des musikalischen Tempos sein muß; dieser Begriff muß sich zu vollständiger Gestaltung ausgebreitet und ausgeschrieben haben – durch eine säkulare Tradition von Musik als Genesis ihrer Autonomie aus religiöser, mythischer und magischer Heteronomie, und dadurch zugleich durch eine universale Schrift, an der die Buchstabenschrift der Tempoanweisungen in die Notationsschrift der Klänge universal – frei und notwendig – integrierbar wird; – ist diese Schrift gefunden und ausgeschrieben, soll nach einer besseren und vollkommeneren nicht mehr gesucht werden, weil sie nicht mehr gefunden werden kann.

Diese absolute Grenze des Begriffes von Tempo und Musik in ihrer Geschichte eröffnet das Desiderat einer Beantwortung der musikphilosophischen Grundfrage nach dem Verhältnis von Wortsprache und Musiksprache. Denn anders als die Buchstaben unserer Wortsprache zu deren aussprechbaren Lautworten verhalten sich die Noten unserer Musiksprache zu den durch sie abgebildeten Klangworten; und anders als die Laut- und Schriftworte unserer Wortsprache zu den durch sie ausgedrückten Begriffen verhalten sich unsere Musikworte und deren Notationen zu dem, was sie auszudrücken haben und ausdrücken können. Was sollen und wollen in diesen Verhältnissen die unumgänglichen Metaphern ‚Abbilden’ und ‚Ausdrücken’ abbilden und ausdrücken?

Doch vorerst nochmals zurück zur Temposystemfrage. – Ein System unendlich differenzierbarer Tempogattungen und -arten, das gleichwohl universal individualisierbar bleibt – unbedingte Grundbedingung jeder Ermöglichung von sozialisierbarer Syntax und universalem Stil im Reich der Musik – darf nicht mit einem sogenannten „offenen System“ verwechselt werden. ‚Offenheit’ ist eine der beliebtesten Zeitgeistvokabeln in den aktuellen Modediskursen über Musik; ein offenes Wort über Offenheit muß daher eröffnen, daß Offenheit in theoretischer Begriffsbedeutung Prinzipienlosigkeit und Wertfreiheit meint und in praktischer Bedeutung lediglich den Hoffnungsschrei nach einem Stammtisch ausstößt, an dem öffentlichkeitsfähige Demokraten durch öffentliche Diskussion nach vermißten oder verunklarten musikalischen und musikpädagogischen Prinzipien und Werten fahnden und sichten, um endlich auf tragfähiger Grundlage komplexe Sachverhalte begutachten und bewerten, orientieren und entscheiden zu können. Und diese Auffassung von Denken und Gedanken als einer geöffneten Öffnung durch den sich als ewigen Stammtischphilosophen anpreisenden Demokraten dieser Zeit unterbietet zwar nicht das Niveau unserer Zeit, wohl aber das Niveau des durch den Begriff erfüllten Denkens über Musik.

Die selbstverständliche Virtuosität unseres Musizierens, im System der Tempogattungen und –arten zwischen allen Modifikationen des Systems hin- und herwandeln und jedes Tempo mit jedem anderen systemimmanent interagieren zu können – nach freiem Belieben und dennoch innerhalb normierter Grenzen – würde an Beethovens Fünfter sofort Schiffbruch erleiden, hätte der Meister statt Allegro con brio beispielsweise „Allegro adagio“ als Tempoanweisung für den ersten Satz nieder- und vorgeschrieben.

Am Vorfall dieses Falles von Tempo wüßten wir nicht, was tun, obwohl und weil wir zugleich wissen, daß Beethoven von den dadaistischen Konzepten der Neuen Musik des 20. Jahrhunderts noch nichts wissen konnte. „Allegro adagio“ kann als vernünftige Grundbestimmung innerhalb des Systems vernünftiger Tempocharaktere nicht vorkommen, weil Vernunftsysteme in ihren Teilen mit sich nicht in Selbstwiderspruch geraten können; denn sie sind nach innen unendlich differenzierbar, weil sie nach außen geschlossen sind; und umgekehrt, weil sie nach außen zu bravouröser Geschlossenheit fähig und entschlossen sind, sind sie nach innen widerspruchsfrei differenzierbar – eines bedingt unbedingt das andere, und jeder Teil atmet den Geist des Ganzen.

Das Wort Allegro faßt in sprachunmittelbarer Verständlichkeit die Einfachheit der Begriffsbewegung zusammen: Allegro ist, was es nicht ist; daher kann es in seiner Selbstbezüglichkeit als dessen Nichtselbstbezüglichkeit und umgekehrt definiert werden, und seine Gattung differenziert sich durch sich selbst zu eingeborenen Arten; es verhält sich in bestimmter und daher sinnlich bestimmbarer und nachvollziehbarer Negation zu seinen Genossen; es ist nicht Adagio, nicht Andante, nicht Allegretto, nicht Presto usf, und alle diese vielfältigen Nichte, die im einfachen Allegro als geschlossene Identität seines Begriffsinhaltes zusammengehalten werden, so unmittelbar, daß wir an diese Nichte seines Seins nicht denken, wenn wir das Wort Allegro in den Mund nehmen oder als Schriftzug auf ein Blatt Papier schreiben, genügen vollkommen, wofür sie vollkommen genügen sollen und können.