082 Einmaligkeitssprache
Juni 2002
Weil wir mit den Klängen der Musik niemals Begriffe als Begriffe ausdrücken können und sollen, kann sich auch die Schrift der Musik zu den geschichtlichen und darin absoluten Arten von Sprachlichkeit, deren Musik fähig ist, nicht wie die Schrift unserer Sprache zu deren redender Verfassung und Aktualität verhalten. Zwar vermag auch unsere Sprache nicht, direkt Begriffe als Begriffe zu nennen und deren Bewegung auszusprechen – wenn nämlich das Wort „direkt“ eine Abbildung im Sinne von 1:1 vermeint, die folglich nicht mehr Abbildung, sondern tautologische Identität wäre. In diesem Fall verfügten wir in Tat und Wort über eine allmächtige Sprache in Gestalt einer allwissenden Rede und Schreibe, weil wir die konkrete Bewegung aller Begriffe zu und in aller Realität direkt erkennen und aussprechen könnten. Wir verfügten über ein Einmaligkeitsdenken, das sich zugleich als universales und eindeutiges aussprechen könnte. Wir müßten den Begriffen der Realität nicht mehr nachdenken und nachsprechen, weil unser Denken überall die Einheit von Gesetzmäßig- und Kontingenzmäßigkeit nicht nur dächte, sondern realisierend zugleich wüßte – folglich als unfehlbares Tun und Machen, Erkennen und Sprechen; – absolut verfügten wir handelnd und erkennend über den in die Geschichte und Natur einsprechenden Logos.
An jedem Kreis, den wir erblickten, erblickten wir nicht nur, daß es einer ist, sondern zugleich, wie er einer und nun dieser eine und einzige ist und sein kann, der sich von allen anderen, die je waren und gewesen sein werden, unterscheiden muß, um dieser einzige sein zu können. Beim Anhören eines einzelnen Tones wüßten wir aussprechfähig nicht nur, daß es ein Ton ist und nicht ein Geräusch, nicht eine Farbe, nicht ein Kamel, nicht ein Mond; sondern wir wüßten zugleich, in welcher realisierten Gestalt von Individualisierung des universalen Tones dieser individuelle Ton dieser Ton ist und sein kann. Nicht nur wüßten wir wie gewöhnlich durch das Wunder unserer gewöhnlichen Apperzeption, daß auch an diesem Ton Höhe und Dauer und Farbe und Stärke zu einem Ton verbunden wurden, sondern wir wüßten zugleich und könnten es auch in Worten aussprechen, wie die unwiederholbare Einmaligkeit von deren Verbindung möglich und wirklich wurde – denn kein je erklungener Ton war und wird jemals irgendeinem künftig erklingenden Ton ganz gleich sein.
Obwohl unsere Sprache nun und vorerst himmelweit von dieser absoluten Sprache entfernt ist, ist sie doch auf ihrer indogermanischen Karriereleiter unendlich überlegen jeder Sprache von wortlosen Klängen, Farben, Bildern, Materialien überhaupt, in deren Symbolisierungen und Abbildungsweisen der Gedanke gar nicht als Gedanke eingehen kann und soll – weshalb übrigens die ebenso verführerische wie gedankenlose Rede von „musikalischen Gedanken“ so überaus zwei- bis nulldeutig ist. Zwar blöken wir gern den beliebten Spruch: ein Bild sagt mehr als tausend Worte, doch unbemerkend, worauf daher die Sehnsucht des Bildes in uns zielt. Die Sprache des Wortes ist und bleibt für den weiteren Gang der Menschheitsgeschichte das „direkte“, obwohl stets verbesserungsfähige Organ des Begriffes; oder zeitgeistanpasslerisch formuliert: sie ist das „Gehirn“ des Begriffes.
Wovon und worüber Musik zu sprechen und zu denken habe, ist nach dem Extrem der sogenannten Inhaltsästhetik eine Welt großer oder kleiner Gefühle; entweder die der Komponisten oder die ihrer Sozialitäten oder die ihrer Zeit oder die aller zusammen; nach dem Extrem der sogenannten Formästhetik eine Welt großer oder kleiner Ornamente und Arabesken in und aus Tönen, einfacher oder komplexer Strukturen in und aus Klängen und weiter nichts. (Hanslick, denkerisch in der undurchschauten Falle des positivistischen Formalismus der Bolzano-Schule gefangen, auf die man in Österreich stolz sein zu können auch noch heute glaubt, wäre nicht der hervorragendste Musikkritiker aller Zeiten gewesen und verbleibend, hätte er sich praktisch nach den absurden Konsequenzen seiner Musikästhetik verhalten. Seine Exekutive ignorierte oder vergaß die Gesetze und Anweisungen seiner Legislative. Kein Ruhmesblatt in der Geschichte des Staates Musik.)
Errichten wir mit der Ausrüstung unserer Inhalts- und Formästhetiken im Gepäck ein Basislager in der Nähe des Beginns von Beethovens Fünfter, um vor der erkennenden Besteigung ihres Gipfels zu sondieren, wovon und worüber diese eine und in ihrer Art und Gattung möglicherweise einmalige Sinfonie sprechen könnte, entsinnen wir uns natürlich auch des Losungswortes, das die heroisierende bürgerliche Biographik dem Basisthema des Ersten Satzes als verständnisöffnendes Schlüsselwort anhing: „So klopft der Krampus an die Pforte“.
Dieser Krampus ist die Verlegenheit unseres Verstehens einer Sprache, die zwischen ihren Inhalten und deren Formen eine unüberspringbare Kluft aufreißt, sofern wir nämlich versucht werden, die formiert ausgedrückten Inhalte in Worten und Begriffen wiederzugeben, wie dies unsere modernen Diskursformen verlangen. Entgehen wir dieser säkularen Versuchung, verstehen wir Beethovens Fünfte geradezu wie ein Wesen der Natur – scheinbar ganz durch sich selbst – als selbstverständliches Verstehen eines universalen Selbstverständnisses. Wie ist dies möglich? Aber weil wir auch alle Unterhaltungsmusik in dieser ingeniösen Weise verstehen: Ist das behauptete Gipfeldasein der Fünften vielleicht nur die Fata morgana verbleichender Bildungshörer, die noch nicht wissen, daß sich das wahre Wesen der Musik erst und erstmals in ihrem aktuellen Gesellschaftsauftrag von heute offenbart, eine größtmögliche Masse von Menschen auf raschestmögliche Weise zu unterhalten?
Die Unübersetzbarkeit der Musik-Einheit von Inhalt und Form in die Sprache-Einheit von Inhalt und Form gründet, wie nachgewiesen, in dem coolen Tatbestand, daß unsere Wortsprache eine Nichteinmaligkeitssprache sein muß, während daher die Sprache der Musik, jedoch nur in tonaler Verfassung und Exekutive, eine Einmaligkeitssprache darstellt, die dennoch auf allgemeingültige Verständlichkeit ihrer Inhalte und Formen, mögen es hohe und höchste, niedrige und erbärmliche sein, Anspruch erheben kann. Nichttonale Musiken hingegen können niemals wirkliche, sondern nur eingebildete und illusionäre Selbstverständlichkeitsweisen begründen und entfalten.
Obwohl daher Musik, aufgestiegen in den geschichtlich befristeten Rang einer absoluten Kunst von wirklich erfüllter Selbstautonomie, niemals Begriffe dieser Welt erkennt und darstellt, erkennt und darstellt sie auf das genaueste den Begriff der Musik selbst, ihre Chronologie ist seine Genealogie; und dieser universale Begriff von Musik als einer sich aussprechenden Kunst ist zwar einer dieser Welt und unserer Vernunft und ihrer Geschichte, aber wie von einer anderen sprechend. Wer von sich nur in Eigennamen spricht, erscheint exterritorial im Reich der Vernunft und Geschichte; wer zugleich in diesem Einmaligkeitsmedium das Denken seines Wesens an die Grenze einer totalen Identifizierung des Einmaligen und Universalen, des Individuellen und Gattungsgemäßen führt – Beethovens Fünfte vor den Vorhang – , bringt die bestmögliche Wirklichkeit von Musik zu Gehör und Geist, mögen diese hören und verstehen oder auch nicht. Erkennt aber Musik dergründig ihr höchstes Selbst, von dem und in dem auch deren größte Genies nur solche und nicht die Totalität des Ideals von Musik sind, dann allerdings klopft jemand an die Pforte der Musik, deren absolute Grenze nämlich, weil von da an die gute alte Musik nur mehr als ungute neue, als eine mit geteiltem Selbst in die fortschreitende Geschichte schreiten kann.
Daß aber die vollendete Schrift einer vollendeten Einmaligkeitssprache die Mitte zwischen Hieroglyphe und Buchstabe erobern mußte, versteht sich. Denn weder ist sie als religiöse Symbol- noch als rein säkulare Zeichenschrift im Rang einer universalen Musikschrift möglich – der universalen Notenschrift Vollendung folgte den Spuren der universalen Vollendung von Musik als Kunst. Übertreffbar ist die traditionelle Notenschrift daher nur mehr durch eine für keine Menschen mehr – ein zweifelhaftes Übertreffen, aber es ist nicht zu leugnen, daß Nadel und Laserstrahl die digitale Schrift unserer „Tonträger“ exaktest „lesen“, unsere Mikrophone das Wellenkontinuum des Schalles exaktest „hören“, die Rillen unserer Platten und CDs aufs exakteste „musizieren“. Was bleibt noch zu wünschen?