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083 Wie jeder hört, aber niemand weiß

Juni 2002

Wie jeder hört, aber niemand weiß, ist das Grundgebrechen aller Unterhaltungsmusik in ihren Sektionen von Pop-, Rock-, Jazz-, neuer Volks- und Cross-Over-Musik die innere Getrenntheit von Metrik-Rhythmik einerseits und Harmonik-Melodik andererseits. Weil das ‚Rhythmische’ und das ‚Melodische’ anundfürsich getrennt sind, können diese beiden innersten Schalen der Musik nur mehr äußerlich und gewaltsam verbunden werden. Das Umgangswort Anundfürsich bedeutet kategorial: nicht nur der realen Möglichkeit, sondern auch der realisierten Wirklichkeit von Musik nach, und weil diese Wirklichkeit auch in der Musik eine geschichtliche sein muß, ist die im 20. Jahrhundert erreichte Trennung und Selbstspaltung der Musik eine endgültige – gültig für immer und ewig. Dies ist eine bedeutsame Einsicht in ein bedeutsames Prinzip, denn es bedeutet positiv gewendet, daß nur auf Grund und aus der Kraft einer Trennung der beiden innersten Hälften der Form universaler Musik Unterhaltungsmusik als menschheitsbeglückende möglich werden konnte und wirklich sein kann.

Auch der musikalische Analphabet und Dilettant der modernen Demokratie kann sie daher erwerben und erschaffen und als Beglückungsartikel ungeheuren Massen vermarkten, um vermeintlich sachgerecht ein ungeheures Geld abzucashen – er sucht den großen Traum von der wirklich großen Berühmtheit, und diese versucht ihn, das wirklich große Geld zu verwirklichen. Zwar sind daher verbindliche musikalische Stile im Unterhaltungsmusik-Universum, im Unterschied zur modernen Kunstmusik, möglich und wirklich; ebenso Millionen und vielleicht noch Milliarden neuer Songs und Sounds; aber es bleibt Musik nach dem Ende der Musik. Nur der Tod wirklicher Musik ist die Bedingung der Möglichkeit einer allerdings überaus und überall möglichen Musik, die als Realität einer egalitären Weltkunst omnipräsent gehandelt werden kann, die aber gleichwohl nicht mehr als volle Wirklichkeit von Musik gelebt werden kann und gelebt werden soll.

Schon der kollektive Urantrieb aller säkularen Unterhaltungsmusik: sich in Klängen zu unterhalten, jugendlich zu kollektivieren, pubertär die Sau ewiger Pubertät herauszulassen, ist gezwungen, alles Musikalische als äußerliches Mittel für veräußerlichte Zwecke – fragmentierte Formen für selbstentfremdete Inhalte – zu verwenden. Zwar herrscht auch in der Unterhaltungsmusik Übereinstimmung zwischen Inhalt und Form, weil jenem Unterhaltungsantrieb als Endzweck auf der Seite des Inhaltes ein System von Ausdrucksmitteln auf der Seite der Form entspricht, deren Selbstspaltung den Antrieb der Inhalte sowohl erfüllt wie stets neu wieder erregt. Weil aber das Inhalte setzende Prinzip nicht mehr aus der Musik Selbst kommt, existiert es auch nicht mehr als wirkliches, sondern nur mehr als ein reales Als-ob-Prinzip des Schaffens von Musik, des Spielens von Musik, des Hörens von Musik.

Und es ist auch nicht schwierig zu erkennen, wohin dieses Trennungsspiel führen muß und wie seine Formenwelt enden und verenden und gleichwohl in und nach ihrem Ende als universales und omnipräsentes Unterhaltungs- und Geldspiel vorerst weitergeführt werden kann und muß. Es führt uns an das lebensgefährliche Gestade der unumgehbaren Klippen des unheilbaren Ohrwurms zur Rechten und der dämonischen Rhythmusmaschinerie zur Linken; und, wenn glückliche Umstände hinzukommen, etwa in Gestalt betäubender und körpermassierender Lautstärken, zur ultimativen Mitte einer orgiastischen Vollendung des Gehörsturzes in den Abgrund der kerngespalteten Substanz von Musik.

Also nochmals das bedeutsame Prinzip: weil die beiden innersten Formhälften der Musik anundfürsich getrennt und nur mehr gewaltsam zusammengeführt werden können – und gerade die scheinbar leichtesten, etwa die mechanisch swingenden und groovenden Zusammenführungen der beiden Hälften vergewaltigen das Selbst der Musik am gewalttätigsten– so ist diese Getrenntheit zugleich die formale und materiale Bedingung einer Musik als weltumspannender Unterhaltungsmusik. Dieses Weil ist nicht vom Himmel gefallen, sondern durch die universale musikgeschichtliche Negation einer Musik zugänglich geworden, der als vormoderner Kunst diese beiden Faktoren – Trennung und Negation, Selbstentfremdung und Selbstspaltung – unzugänglich verschlossen waren.

Denn es ist der harmonisch-melodische Komplex, der in aller traditionellen Musik vormoderner Kunstprovenienz – religiöser, volksgeistgebundener, autonomer – die Verbindung der beiden Hälften leistet; der harmonisch-melodische Komplex hat noch die Formkraft, in dem metrisch-rhythmischen Gegenkomplex nicht nur ungehindert, sondern zugleich sich bereichernd und als Gestaltungsprinzip sich bewährend in sich zurückzukehren oder vielmehr immer schon in sich zurückgekehrt zu sein – sogar schon beim und im Anfang der noch konkret von innen heraus vermittelten Musik, schon beim ersten Erklingen des ersten Tons einer innerlich ungetrennten Musik.

Diese Formkraft des harmonisch-melodischen Komplexes inmitten der Gegenwirkung und Gegenkraft des metrisch-rhythmischen Komplexes verdankt sich auf der Seite des Inhaltes den Inhalten und Antrieben des vormodernen Musiksubjektes und seiner gesellschaftlichen Kollektive; auf der Seite der Form verdankt sie sich den formalen musikalischen Ausdrucksrepräsentanten dieser Antriebe und Inhalte, also jenen entelechialen musikalischen Einheiten, die dem harmonisch-melodischen Komplex als intuitiv inhärierende entlockt und zugleich als exstasierende zu jenen ungebrochenen metrisch-rhythmischen Bögen einer wirklich musikalisch erfüllten Zeitarchitektur gestaltet werden konnten, die für uns unwiederbringlich und ungestaltbar wurde. Hat sich beispielsweise die Baßstimme des harmonisch-melodischen Komplexes in Rhythmusstimme verwandelt, ist ein wirkliches Zusammenstimmen der beiden Komplexe schon insofern unmöglich geworden, als das Fortschreiten der Musik nicht mehr von entelechial vorausgesetzten und sich exstasierenden Einheiten und Bögen, sondern von mechanisch gesetzten Einheiten des metrisch-rhythmischen Komplexes dominiert und geführt werden muß. An die Stelle des musikimmanent organischen tritt ein musikextern aggregatisches Kontinuum von Klängen. Nicht mehr geht Musik aus ihrer eigenen Einheit hervor und in die Zeit heraus, sondern die getrennten Fragmente der Einheit fallen in die leere Einheit der Zeit hinein und zurück – Scheinfortschreiten als Realstillstand, und die Kunstmusik der Moderne spricht nur aus, was deren Unterhaltungsmusik lautstark verschweigt und verhüllt.

Was in der Unterhaltungsmusik universal abstirbt, das wird in der modernen Kunstmusik ebenso universal beklagt; das Strömen der scheinbar immer noch erlösend forttragenden Töne der Unterhaltungsmusik wird im Stottern der modernen Kunstmusik unverstellt ausgestottert. Denn es ist zuletzt die musikalische Sequenz, das durch variierte Wiederholung motivierte Motiv, das alle Kraft verliert, als musiklogisches Syntagramm einer die Zeit zu überzeitlichen Bögen umbiegenden Musik-Sprache und Musik-Architektur zu wirken. – Weil in Mozarts Musik Sequenz und Stil zu absoluter Deckung gelangen, fällt auf das wie überirdische Sprudeln seiner musikalischen Organismen auch nicht ein Schatten des Gedankens, irgendein Ton könnte verfehlt gesetzt, einer zuviel oder zuwenig, einer nicht sinnerfüllt und sinnbewegend oder gar durch spitzfindige „Analysen“ auf einen zureichenden Grund seiner unverrückbaren Gestaltung und erklingenden Zeitsynthese zurückführbar sein.

Die großen organischen Musikstile vereinigten und überwanden in der Teleologie ihrer wie atmenden und zugleich final sprechenden Architektur alle mechanischen und vororganischen Vermittlungen der beiden Basiskomplexe universaler Musik, um sie vollständig auszugleichen und dadurch vollkommen zum Vergessen zu bringen. Das Unhörbare der großen Musik ist ihre Selbstverbindung; und diese ist unhörbar, weil sie immer schon geschehen ist, wenn sie zu beginnen beginnt; wir hören immer nur die Unmittelbarkeit der Vermittlung, nicht diese, weil deren Unhörbarkeit allein einem Denken, das uns mit ihr zusammenführt, zugänglich ist.