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084 Wie jeder glaubt, aber niemand bedenkt

Juli 2002

Die musikphilosophische These, daß in aller Pop-, Rock-, Jazz-, neuer Volks- und Cross-Over-Musik der harmonisch-melodische Komplex vom metrisch-rhythmischen radikal getrennt und daher mit diesem nur mehr äußerlich und gewaltsam verbunden werden könne, scheint die vorurteilsbefangene Behauptung eines traditionell geprägten Musikgeschmackes zu sein. Von dieser Befangenheit in den Fesseln und Korsetten der Tradition habe sich aber der Musikdemokrat von heute radikal zu befreien, um nach selbsterlassenen Toleranzedikten über und in allen nur möglichen Arten der Musik nach individuellem Belieben und Gusto herumzugenießen und als Hedonist von Profession den abschließenden Bescheid zu erteilen: Glücklicherweise sei heutzutage nur mehr zwischen einer gut- und schlechtgearteten Musik, nicht mehr aber zwischen musik(gattungs)gearteten Musiken zu wählen.

Wer daher vorurteilsfrei zu beurteilen und zu bewerten wage, dem erleuchte sich evident, daß die vermeintlich zu beklagende Trennung des harmonisch-melodischen Komplexes vom metrisch-rhythmischen erstens entweder gar nicht statthabe, weil schon die faktische Vereinigung in jedem neuen Stil und Stück von Unterhaltungsmusik das Gegenteil beweise, oder zweitens, falls doch statthabend, der überreichen Vielfalt der Unterhaltungsmusik zum allergrößten Vorteil gereiche, weil dieses glänzende Angebot die stilzeugende Kraft des neuen Grundverhältnisses der beiden musikalischen Basiskomplexe beweise. Und daß wir Stile verschiedener Epochen als vollständig gleichberechtigt nebeneinander stehend zu beurteilen und zu erleben haben, das lerne heute schon jedes Kind in Vorschule und Schule. Ohne auf dieses Vorurteil unseres historistischen Aberglaubens, dessen Formeln mittlerweile nur noch gedankenlos nachgebetet werden, näher einzugehen, ist zunächst zuzugeben, daß alle unsere Urteile und Bewertungen über Stile und Werke der Musik aus deren Geschichte und Gegenwart kommen müssen, dergestalt, daß sie durch die Voraussetzung eines mehr oder weniger reichen Erfahrungshaushaltes an geschichtlich entstandenen und nachmusizierten Musiken vermittelt sein müssen.

Das Gegenteil wäre die als vermeintlich voraussetzungslos, weil geschichtslos gedachte Beurteilungs- und Bewertungsweise eines Außerirdischen, der hierorts gelandet und ausgerüstet mit Organen des Hörens von Hörbarem, daheim jedoch auf seinem Planeten aus glücklichen oder unglücklichen Umständen von Musik oder Musikähnlichem verschont geblieben wäre; nun aber in der Fremde unseres musikverliebten Planeten in jetziger Weltzeit als designiert endgerichtliche Bewertungsjury eines unfehlbaren Musik-Contests aller Musiken angerufen würde. Dieser Außerirdische könnte über das Menschheitsprodukt Musik nicht urteilen, weil er nicht wüßte worüber; zwar würde Klingendes qua Hörbares sein Ohr erreichen und überschwallen, nicht aber eine Klangwelt seinsollender Sinnansprüche. Wahrhaft außerirdisch würde er daher über die Dummheit von uns Irdischen staunen, die seinem Bewußtsein eine Urteilsfähigkeit über ein Etwas zumuten, das sie ihm zugleich als nicht erfahrenes abmuten.

Aber unser zuhöchst willkommener Gast könnte sich doch einhören und sogar einmusizieren in die unüberschau- und unüberhörbare Welt der Musik dieses Planeten, lautet, wie von Irdischen nicht anders zu erwarten, ein Einwand, der nichts als ein Vorwand ist, unseren Außerirdischen in einen ordinären Irdischen zu verwandeln, um den Popanz einer vermeintlich übergeschichtlich neutralen Beurteilungsinstanz aufzurichten, weil man unbewußt spürt, daß etwas faul sein könnte im Land des historistischen Aberglaubens, in dem man sich erniedrigen soll, an ein gleichberechtigtes Nebeneinander- und Umsichherumstehen aller Musikstile aller Zeiten zu glauben.

Mit allem nur denkbaren Komfort könnten wir unseren höchst erwarteten Außerirdischen daher gefangensetzen, etwa in einer unserer Musikuniversitäten, um ihm die paradiesische Gelegenheit zu eröffnen, Tag und Nacht alle Musiken aller Zeiten und Kulturen sich einzuverleiben, auf daß er uns nach vollbrachter Einverleibung, die bei ihm durch ein garantiert offenes Bewußtsein erfolgte, die erhoffte Absolution erteile, nach der wir als schlechtgelernte Musikdemokraten insgeheim noch dürsten: alle Musik von gleicher Güte in Stil und Inhalt; nur gute und schlechte Musik gesichtet und gehört; gleichwertig beglückendes Amüsement bei und in jeder Weise von Musik möglich. Unser außerirdisches Orakel hätte gesegnet, was der optimistische Musikdemokrat unserer Tage längst schon zu wissen glaubt: die Musikstile der Unterhaltungsmusiken sind um nichts schlechter als die epochalen Stile der traditionellen Musik, weil nun einmal und immer der ewige Quell der Musik eine ewig gleichmäßig fließende Musikgeschichte gleichwertiger Musiken hervorzaubere.

Das Bedürfnis des modernen Musikdemokraten nach einem neutralen Orakel ist gegründet in seiner Furcht vor einem irdisch-überirdischen, welches das Begehren der modernen Unterhaltungsmusik, aus ihrem in den Stand von wirklicher Kunstmusik erhoben zu werden, als unsinnig selbstwidersprüchlich beurteilen müßte. Wäre diese Erhebung nämlich wirklich wünschenswert und möglich, wäre allerdings die Relation jedes Innenhörers in seiner Musik zu den Innenhörern jeder anderen Musik die von gleichberechtigten Außenhörern, und jeweils nur der Innenhörer seiner Musik könnte die seine als eine und wirkliche, als schöne und gute, stets aber auch entweder als gleichberechtigt wahre und erfüllte in Relation zu allen anderen wahren und erfüllten oder auch als die aktuell besterfüllte und bestwahre aller bisher gewesenen behaupten. Denn da jedem Innenhörer das Seine der seinigen Musik als das erfüllteste Innere von Musik überhaupt erscheint, wäre die Relation von Innen und Außen in jeder Musik eine gleiche und gleichwertige. Die zu ihrer Zeit beste oder geliebteste Musik wäre gleich jeder anderen Musik, die zu ihrer Zeit den Ihren als beste und liebenswerteste erschienen.

Verblüfftes Staunen erfaßt daher unseren Unterhaltungsmusikhörer, vernimmt er vom irdisch-überirdischen Orakel den nicht-beliebigen Spruch: Nur wer vom Innenhören der traditionellen Musik das Panorama der Unterhaltungsmusik hört und folglich von außen hört, der kann sie überhaupt erst als Unterhaltungsmusik wahrnehmen und in ihrer Wertgesunkenheit und säkularen Defizienz erkennen; wer sie hingegen von innen hört und schafft und musiziert, der ist sie selbst, das Subjekt der Pop-, Rock- und Jazzmusik.

Stehen die Aktien der Musik und ihrer Musiken aber so, dann ist das Berufungsargument der Unterhaltungsmusik gegen den Bescheid des Orakels, ihr Hörer stünde doch als zeitgemäß gleichberechtigter Innenhörer gegen den traditionellen Innenhörer auf zumindest gleichem, wenn nicht gar gehobenem, weil zeitaktuellerem Niveau, als widerlegt zurückzuweisen; denn der Unterhaltungshörer vermag sich zum Innenhörer des traditionellen Musikhörens nur so als Außenhörer zu verhalten, daß er die traditionellen Musiken als entweder gleichberechtigte oder vorgängerische Unterhaltungsmusiken früherer Tage und Menschen hören kann – wie etwa dem oft wiedergekäuten Unterhaltungs-Urteil zu entnehmen, die traditionelle Synthese des metrisch-rhythmischen mit dem harmonisch-melodischen Komplex bei Bach, Mozart und Genossen sei zwar gut bemüht und hübsch gelungen, aber im Rhythmischen von kaum erträglicher Starrheit, Eintönigkeit, Langeweile und überdies noch als fixierte Musik festgenagelt.

Eine Musikdemokratie wäre nur möglich, so der abschließende Bescheid des irdisch-überirdischen Orakels, wenn sich das Leben der Musik in der musikgeschichtlich ausdifferenzierten Vielfalt ihrer Musiken so gestalten ließe, daß jeder Innenhörer jeder Musik in jeden anderen jeder anderen Musik nach Belieben wechseln könnte. Dieses beliebige Wechseln ist wohl möglich und partikulär wirklich, wie die marktläufige Tatsache beweist, daß der bastardisierte Brei von crossoverten Musiken das Ohr vieler Zeitgenossen bereits als Ohrenschmaus erreicht, ohne daß noch Garantien für die Verdaubarkeit des Geschmausten gegeben werden müßten; aber das beliebige Wechseln ist nicht die Lösung, sondern nur der zugespitzte Teil des Problems, von dem hier nicht nur orakelnd die Rede ist. Und daher erfolgt auch gegen das zweite mögliche Berufungsargument der Unterhaltungspartei gegen das Orakel, seine erkennende Priesterin hätte übersehen, daß auch in der modernen Kunstmusik das Rhythmische und das Melodische getrennt und daher nur mehr von außen verbindbar seien, ein nichtbeliebiger Bescheid: allerdings – aber nicht in unterhaltende Weise.