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089 Spiritus rector

Oktober 2002

Ein Jahr vor Max Regers und zwei Jahre vor Arnold Schönbergs Geburt beklagt Hugo Riemann, der bürgerlichen Musikwissenschaft bedeutendster Vertreter in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, daß die Freiheit der modernen Tonkunst mittlerweile dahin fortgeschritten sei, einer Harmonik als Ausdrucksmittel zu frönen, in der die merkwürdige Ansicht aufkeime, „als könne überhaupt jeder Accord jedem folgen“.

„Derartigen Willkürlichkeiten“ sehe sich seine Wissenschaft der Musik jedoch außerstande, ihren wissenschaftlichen Segen zu erteilen, weil im Begriff und Wesen von musikverständlicher Akkordfolge eine „ganz bestimmte Schranke“ zugrundeliege, die der Musik und ihrer Harmonik, möchte sie weiterhin als allgemein verstehbare Karriere machen, gebiete, auch fortan innerhalb der beschränkten Kreise verstehbarer Akkordlogik herumzutraben. Denn alles Akkordgeschehen jenseits der musikalischen Schranke logischer Akkordfolgen sei musikalisch nicht verständlich, fülle also lediglich den Raum und die Luft mit beliebigen Schällen und die betroffenen Gehörgänge und hörenden Seelen mit Rätseln, die keiner Auflösung zugänglich sind. Rätsel aber, die keine sind, sind Dinge, von denen wir nicht wissen können und wollen, was sie sind, belehrte uns Theodor Adorno ein halbes Jahrhundert später über diesen urwagnerischen Fall aller musikalischen Fälle. Dennoch lächeln wir heute, hundertdreißig Jahre nach Hugo Riemanns vergeblichem wissenschaftlichen Veto gegen den Gang der Dinge, verwundert und milde über des spiritus rector Wissenschaftsglauben, er könne der Freiheit der Kunst auf der Bühne der Musikgeschichte musiklogische Fesseln anlegen.

Was nachher geschah, hat uns nämlich gründlich darüber belehrt, daß Willkür und Freiheit in der modernen Geschichte der musikalischen Kunst zu einem untrennbaren Amalgam verschmolzen, das kein logischer Bohrer keiner sich Wissenschaft nennenden Wissenschaft jemals wird trennen können. Und daher haben wir uns auch angewöhnt, noch jede Absurdität zu ertragen, die uns die anerkannten „klassischen“ Meister der musikalischen Moderne servierten, wenn sie als Wissenschaftler in eigener Sache zu uns sprachen; und die Wissenschaftler der Musik gingen dazu über, noch jeder genial ausgesprochenen Absurdität wie einem genialen Rätsel den gehörigen wissenschaftlichen Respekt zu zollen und einen ebenso wissenschaftlichen Segen zu erteilen – womit der Fortschritt der Musik-Wissenschaft nun gleichfalls dahin fortgeschritten ist, Willkür und Freiheit in der Bildung von Musikbegriffen untrennbar amalgamiert zu haben.

Nicht nur könne jeder Akkord auf jeden anderen folgen, wenn es die Logik des Genies erfordere, teilt uns daher Schönbergs Genielogik mit, sondern bereits jeder Ton könne auf jeden anderen folgen, weil im schrankenlosen Raum aller möglichen Töne ohnehin zwischen allen Tönen Beziehungen überhaupt, gleichberechtigte und sozunennend pantonale, regierten. An diesem urschönbergischen Fall sollte nun wenigstens so viel Einsicht aufkeimen: musikgeschichtlich muß eine sich selbst autorisierende Genielogik der Musik auf den Plan treten, wenn zwischen gewürfelten und nichtgewürfelten Tonbeziehungen jede Schranke gefallen ist. Doch ist der Ausdruck „Pantonalität“ mittlerweile aus dem Vokabular auch des musikalischen Zeitgeistes verschwunden und ins Raritätenkabinett absurder Erfindungen verbracht worden. Nicht, weil die Wissenschaft diesen Trug als solchen entlarvt hätte, sondern weil sie sich mitsamt der modernen Kunstmusik den Spaß nicht verderben läßt, wenigstens im versuchten Gleichschritt mit ihrer Zeit mitzueilen und jeweils neue Absurditäten alias Genierätsel zu kreieren. Neuerdings hören und lesen wir daher den Ausdruck „Mikrotonalität“; und auch dieser wird solange fleißig nachgeplappert und nachgeschrieben werden, bis sich, nicht dessen Sinnlosigkeit herumgesprochen und –geschrieben haben wird, sondern wiederum andere Ausdrücke auf den Plan des aktuellen Zeitgeistes getreten sein werden. Die kultur- und musikgeschichtliche Selbst-Selektion dominanter Schlagworte ist unerbittlich, weil die Ressourcen von Aufmerksamkeit verbrauchend und vernichtend: der Unsinn von gestern bleibt in dem von heute nicht präsent, das Neue verdrängt das Alte. – Tritt ein meta- und megawissenschaftlicher Jemand in dieses Theater, sieht den Spaß und wundert sich, tritt nach vor, um hinter des Kaisers neue Kleider zu sehen und verkündet ein „Nichts dahinter“ – so wird sein Hintergriff natürlich als das erkannt, was er in diesem Theater sein muß: der herz- und spaßlose Mißgriff eines Spielverderbers.

Musiker halten sich aus diesem kaum je wirklich oder gar öffentlich ausgetragenen Streit zwischen Wissenschaft und Genie, zwischen Logik und Musik, zwischen Vernunft und Freiheit feinsauber heraus, denn in ihrer Sicht der Dinge ist es völlig egal, mit welchen Ausdrucksmitteln ein Genie arbeitet, weil entscheidend sei, was es daraus mache. Denn erstens bleibe Genie Genie, und zweitens sei Hauptsache, es komme was G’scheits heraus, etwas Neues und Hörbares, etwas Großartiges und Spielbares; und mag dieses auch primavista noch als Unspielbares erscheinen und das Großartige nur für ein paar auserwählte Großartige großartig. Denn wenn das großartig Unspielbare durch des Musikers Spielgenialität spielbar wird, dann ist doch der Musiker mehr als nur die Hebamme des Genies, mehr als nur ein grandioser Verifikator einer neuen musikalischen Wahrheit, nicht bloß ein Kammer- sondern ein umjubelter Saaldiener seines Herrn. Und was will man mehr auf dieser Bühne des modernen Lebens?

Wenn wir daher heute die Frage aufwerfen, was denn Tonalität in allen ihren Dimensionen bedeute, was sie dazu beitrage, ein Verstehen von Musik zu ermöglichen oder zu verunmöglichen, je nach der Art von Musik, mit der wir es zu tun bekommen, dann begegnen wir einem vollständigen Desinteresse nicht nur unter Musikern, sondern gleichfalls und ärger noch unter den meisten Musikwissenschaftlern; die letztgenannten wollen sich die Finger nicht schon wieder verbrennen an alten Hüten, die man heute nicht mehr trägt, und die erstgenannten spielen sowieso, was aufgetragen wird, wenn sie auftragen sollen, weil sie wissen, daß mittlerweile jede Musik, wenn man sich nur bemüht, den Anschein eines Bemühens zu geben, verstehbar geworden ist. Die moderne Demokratie leistet sich den freiheitsbeliebigen Luxus, das Verstehen von Musik ohne gesellschaftliches Einverständnis zu verstehen. Sie hat immer schon verstanden, was sie nicht verstanden hat.

Die Strategie der Musiker aller Stände und Szenen, sich aus diesem – kaum noch oder kaum schon stattfindenden – Streit um die Grundlagen von Musik, Musiksprache und Musikverstehen herauszuhalten, wäre raffiniert, wenn die Sache nicht so blöde wäre. Lassen wir uns nämlich über Tonalität in allen ihren Dimensionen mit Einführungs- und Lexikonartikeln, mit Gehirnforschungsbeweisen und Privatmeinungen abspeisen, dann ist der Preis für diese billige Speise nicht billig, sondern unendlich hoch; zwar nicht unmittelbar auf der Bühne der Musik selbst, sehr wohl und unwohl aber im Himmels- oder Weltgrund jeder Art von Musik. Tonalität in allen ihren Dimensionen ist bis heute die Basisgrammatik aller U- und Jazzmusik, von der traditionellen Musik und ihren Stilen und Werken ganz zu schweigen, und ebenso ist Tonalität die elementare Grammatik aller elementaren Musikpädagogik bis zum heutigen Tag. Und jede Theorie und Praxis von nichttonaler Musik läßt sich als nichttonale nur aus ihrer Negation der tonalen verstehen und begründen.

Über die Gesetze, Gründe und Reichweiten der tonalen Grammatik nicht verbindlich zu reflektieren, weil es in „abgehobene“ Ebenen führe, die „mit der wirklichen Musik“ nichts zu tun hätten, ist daher nichts weiter als die kapitulierende Selbstverabschiedung von Musik als Diskurs; Diskurs verstanden als rationaler Selbstverständigungsversuch von Musik als Praxis und Sprache, eine Selbstverabschiedung, die einem kommunikativen Todesurteil in einer Gesellschaft gleichkommt, die sich als Wissensgesellschaft profilieren und orientieren muß. Die Zuweisung der Musik auf besondere, weil entspannende, und auf erholsame, weil diskursfreie Spielwiesen degradiert sie zu Spiel und Spaß, zu Freiheit als Willkür, zu Mittel und Ware, zu Gerede und Intrige – Musik post mortem scientiae musicae. – Ohne Elitepublikum kein Publikum für eine elitäre Sache.

Auch im Musikland Österreich wird nun das Musikspiel am Beginn des 21. Jahrhunderts universitär; soll diese Erhebung mehr als ein Spiel um Ansehen und Geld werden, dann ist der geschichtlich entstandene Abgrund zwischen wirklicher Theorie über Musik als Sprache und Musik als wirklich sprechender Sprache und die Überbrückung dieses Abgrundes das eigentliche Traktandum – sofern nämlich das schöne Wort Musikuniversität ein wirkliches und wahres Wort werden soll.