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085 Das preziöse Leben von Frau Kultura

Juli 2002

Gründlich und vollkommen gescheitert ist die moderne Gesellschaft mit dem Versuch, das religiöse, das künstlerische, gar das musikalische, und weithin auch das einzelwissenschaftliche Bewußtsein wirklich reflexiv zu machen. So vollkommen und gründlich gescheitert, daß sich nicht nur der Verdacht erhebt, der Versuch wurde erst gar nicht unternommen; ja ärger noch, es definiere geradezu die kulturelle Moderne der europäischen Hemisphäre von heute, daß ihre Repräsentanten auf der grundlosen Grundlage unreflektierter Grundkategorien und Reflexionsweisen alle nur möglichen Begriffe und Worte, alle nur möglichen und unmöglichen Meinungen, Behauptungen und Interpretationen über ihre Sachen und Sächelchen sagen, denken und glauben dürften und sollten. Nicht zufällig traktiert das aktuelle höhere Feuilleton mit dem Topos eines „Scheiterns in Vollkommenheit“ sowohl Inhalte wie Darstellungsweisen der sogenannten klassischen Moderne.

Während in den Dimensionen von Wirtschaft, Recht, technologischer Wissenschaft und Politik beinahe jede Unhaltbarkeit und Beliebigkeit früher oder später als gescheitert erkannt und entweder bestraft oder grund- und zielorientiert verändert werden kann und muß, verfügen wir in den preziösen Dingen von Frau Kultura über kein vergleichbares, in verbindlicher Öffentlichkeit diskutier- und repräsentierbares Instrumentarium von Kritik und Organisation des preziösen Lebens der Preziösen.

Aber warum etwas kritisieren, das sich näher besehen als Geniestreich herausstellen könnte, zwei Fliegen auf einen Schlag erschlagen zu haben? Denn erstens scheint für die moderne Welt keine bessere Arbeitsteilung gelingbar als jene, die der durch Recht, Wirtschaft, Technologie und Politik reglementierten Arbeitswelt der kühlen und kalten kapitalistisch-wissenschaftlichen Moderne eine warme und heiße Gegenwelt einer multimodernen Kultur als Frei- und Erholungsraum entgegensetzt und anbietet; hier die armen Lämmer sowohl in den technologischen Galeeren des Kapitals und seiner Ressourcen wie auch in den Paragraphenlabyrinthen der Behördenhierarchien; dort eine Welt der großen Kreativen, die uns über die unkreativen Mühen und Plagen des modernen Alltagslebens in ein anderes hinausheben; und zweitens scheint mit diesem Geniestreich auch endlich und endgültig der vormarxistische Irrglaube der alten Philosophie und besonders Hegels als „metaphysische Illusion“ überwunden und beseitigt, es lasse sich von der Sphäre des objektiven Geistes, in der Gesellschaft und Staat ihre primären Bedürfnisse und Befriedigungen ausleben, eine des absoluten Geistes abheben – mit den drei Hauptdarstellern Religion, Kunst und Philosophie im glorreichen Allerheiligsten. Denn in beiden Welten, die als moderne nun eine einzige und irdisch-allzuirdische geworden, regiere letztlich und erstlich nichts weiter als eine Jagd nach irdischem Glück, und ob diese mit Fußball oder Oblate veranstaltet werde, sei gehupft wie gesprungen.

Also alles in bester Ordnung? Oder mitnichten, weil das Vernichtung wirkende Gegenteil droht? – Es existiert in der modernen Demokratie ein aktuelles Indiz, das auch dem Bürger unserer aktuellen Gesellschaft, trotz ihres drohenden Absturzes in ein verbindliches Analphabetentum des Denkens und der Sprache, immerhin noch spontan einleuchtet: der Versuch, das Schifflein der Kultur laufen zu lassen, wohin es die Stürme und Winde der Zeiten und Märkte drehen und wenden, wohin es die Blähungen und Drehungen der Proms und ihrer Wasserträger führen, erleidet am ontogenetischen Ursprungsort auch der modernen Gesellschaft, an der Initiationsklippe unseres ebenso reglementierten wie chaotischen Schulsystems und seiner Pädagogenexekutive sowohl Schiffbruch wie totale Verwrackung. Denn die Früchte des vollkommen gescheiterten Versuchs, das religiöse, das künstlerische, gar das musikalische, und weithin auch das einzelwissenschaftliche Bewußtsein wirklich reflexiv zu machen, müssen verheerende Mißbildungen und Verwirrungen zeugen, wenn die mediale Multiplikation der grundlosen Grundlagen unserer kulturtragenden Grundkategorien und ihrer Reflexionsweisen möglich und wirklich geworden ist; eine selbstreproduktive Multiplikation unbiquitär gewordener Beliebigkeit, die unweigerlich in eine gewaltige Orientierungslosigkeit führen muß, wie mittlerweile auch dem panischen Geschrei unserer obersten Legislative in Sachen Schule und Pädagogik nach einem wenigstens minimalen Konsens an Wissens- und Verhaltensnormen, an Grundfertigkeiten und -anwendungen zu entnehmen ist; ohne Restbestand an Kultur-Normen nehmen wir uns schon im Hort der Schule die kreative Entgrenzung heraus, einander den Schädel einzuschlagen.

Fragen wir heute als halböffentliche Meinungsbefrager einen als Christen sich titulierenden Zeitgenossen, ob er an den historischen oder an einen anderen Christus glaube, und was dieser andere denn sein könnte oder sein sollte, oder, falls er an beide glaube, in welcher verbindlich vertretbaren Verbindung, wird er diese Frage, wenn er nicht soeben mit allen Wassern eines theologischen Seminars gesalbt wurde, als unverschämten Einbruch in seine Privatsphäre empfinden und zurückweisen – als ob diese Frage in seinem Existenz-Privatissimum täglich Brot wäre – und uns mißtrauisch als verdächtige Spione einer mit bösartigen Meinungsbefragungsmethoden operierenden und überdies illegal eingerichteten Beichtbehörde beäugen und verscheuchen.

Fragen wir einen Musikliebhaber oder auch einen Musikwissenschaftler, woher es denn komme, daß wir bei einer wirklich modernen Oper offensichtlich und offen hörbar angehalten werden, das Unterscheiden von richtigen und falschen Tönen als unwichtige oder auch unmögliche Fertigkeit zu unterlassen, wird er ungeniert und ohne es zu bemerken, zwei einander widersprechende Grundsprüche vom Stapel lassen: erstens wäre uns das fehlerfreie Unterscheiden des Richtigen vom Falschen auch bei den traditionellen Opern nur möglich, weil und nachdem uns die Flöte Papagenos und die Gefangenen Nabuccos hundertmal eingetrichtert wurden; und zweitens sei doch überhaupt und ganz im allgemeinen die moderne Oper, wie wir offensichtlich noch nicht begriffen hätten, eine moderne und nicht eine nicht-moderne. Diese Beleidigung unseres Expertentums lassen wir natürlich nicht auf unseren ehrenwerten Befragerschultern sitzen, und umso diabolischer legen wir daher unsere nächste Frage an: Wie er es mit einer ganz besonderen Sorte der modernen Oper, der klassisch modernen, von der er gewiß schon gehört habe, halte und habe, etwa mit Alban Bergs Wozzeck, uraufgeführt 1925 in Berlin; ob er damit rechne, daß hundert Jahre Eintrichterung, demnächst erfüllt im Jahre 2025, genügen werden, an den musikalischen Highligths dieses führenden Falles moderner Opernklassik den doch wohl wünschenswerten Pawlowschen Wiedererkennungseffekt abgenießen zu können? Wettbar, daß mehr als fünf von zehn Befragten ungeniert auf das hundertjährige Klassiktrichterjahr setzen würden, wenn auch feige wissend, daß wir sie dannzumal kaum noch auf den falschen Fuß ihrer heutigen Prophezeiung werden treten können.

Daß die Einzelwissenschaft Musikwissenschaft, die heute nach dem Ganzen von Musik nur mehr mittels eines aufgesplitterten Panoramas spezialisierter Subeinzelwissenschaften fragen kann, ihre jeweiligen Entmündigungen durch die jeweils aktuellen Modewissenschaften, die als Substitut der verlorenen Grundwissenschaft angeheuert werden, an das seinerseits aufgesplitterte Panorama der Musikpädagogik weiterreicht; daß diese wiederum bemüht sein muß, das Einverleibte an die Tische der Denkenden unter den Musikern durchzureichen, belegt ein Kurzrückblick auf die diesbezüglichen Durchlaufposten des 20. Jahrhunderts bis heute. Urmarxistische und neomarxistische Soziologie; Psychoanalyse; Mythologie; Folkloristik, Biographistik; systemtheoretische Soziologien und Denkmodelle; Kybernetik, psychologische und feministische Denkmodelle, und last and least Gehirnforschung, weil diese verdienstvolle Mainstream-Wissenschaft von gestern beklagenswerterweise just in unseren Tagen durch die vielversprechendere der Biogenetik von morgen abberufen wird. (Die je führende Wissenschaft des Mainstream geht aus der Konkursmasse der gestern noch führenden hervor; und was die gestrige Verführerin des Zeitgeistes an Schulden hinterließ, macht die heutige zur Chefgläubigerin der morgigen. Wissenschaftsdominierte Kulturen sind ohne Modewissenschaften nicht existenzfähig.)

Die Abberufung der Gehirnforschung durch die Biogenetik auch in den Sachen und Sächelchen der Musik und Musikpädagogik ist natürlich bitterschade. Denn lebten und musizierten wir nicht märchenschön, als das Musizieren einer etwas klügeren Etude schon genügte, unsere linken und rechten Weisheitszellen zu besserem Wachstum über uns und doch daheim unter unserer Schädeldecke zu einer glühenden Umarmung anzuregen? Jetzt soll auch diese Hoffnungsliebe für eine bessere Menschheit wieder nur eine vorbefohlene Spezialität verborgener Mechanismen sein, von einer anderen und längeren Hand vorgekocht. (Wieder muß der Bartl, der den Most der Musik holt, ein Geschoß tiefer in den Keller steigen.)

Doch wo der letzte Keller nahe, ist auch der Most bald ausgetrunken, und uralter Trost leuchtet uns wieder heim: argloser denn je dürfen wir heute bereits unsere Schädeldecke wieder massieren, sogar in der Enge und im Dunkel von Extremsituationen, beispielsweise auch weltöffentlich in einem Weltkulturfinale, nachdem wir gegen den Weltmeister Brasilien eine hundertprozentig tödliche Abschußgelegenheit verpaßt haben, obwohl selbstverständlich die nicht nur schädelverdeckten Meme unserer Kulturschußhandlungen den Genen unserer Evolutionseltern gehorchen müssen.