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086 Überverständlichkeit, zum Ersten

September 2002

Das Herzproblem der scheinbar problemlos eingängigen und erfolgreich euphorisierenden Minimalmusik ist ihre Überverständlichkeit. Das Wort ‚Überverständlichkeit’ scheint ein sinnloses, ein überverständlich verständliches Wort zu sein; denn entweder ist in dieser Welt Etwas verständlich oder es ist unverständlich; und wie im Leben so auch im Umgang mit Musik geben wir ehrlicherweise zu, daß wir niemals alles verstehen, was hier vorgeht, niemals aber auch ganz und gar nicht verstehen, was uns erscheint zwischen Himmel und Erde; denn wenn wir gar nichts mehr verstehen, verstehen wir immerhin noch, daß wir vom Etwas nichts verstehen. Zwischen den beiden Extremen ‚verständlich’ und ‚unverständlich’ pendeln wir folglich in jedem Augenblick unseres Lebens hin und her – und zumeist kaum langsamer als jene Pulsare, die am randlosen Rand des Universums um sich herumpulsieren – und es fragt sich daher umsomehr: wozu soll uns das Überverständliche dienen, und was und wie kann es überhaupt sein; und soll es überhaupt sein?

Das Überverständliche darf sich über unseren Häuptern weder als ein Verständliches noch als ein Unverständliches zeigen; es darf uns weder in dieses noch in jenes verwandeln, und es darf uns auch nicht die trübe Mischung der beiden Extreme von Verstehen und Nichtverstehen darbieten, die alle Lebenstage unseres Alltags verunziert; folglich muß es uns den an sich unmöglichen Schein eines dritten Extrems vorführen, indem es uns zur eulenspieglerischen Hintertür einer glückverheißenden unendlichen Tiefe führt, die uns bisher anscheinend scheinbar oder scheinbar anscheinend verborgen blieb. Denn an der Wirklichkeit der beglückenden Euphorien und Ekstasen, von denen uns selbsterlebende Menschen minimalbegeistert berichten, kann nicht gezweifelt werden; niemand lügt über das, was er am eigenen Leib verspürt hat.

Bemühen wir diesmal anstatt einer komplexen Ableitung des minimalistischen Phänomens aus dem Begriff der Sache eine einfache Vorstellung, inszeniert auf der Bühne der von den meisten nicht gerade geliebten Mathematik. Bemühen wir daher einen Schauspieler auf diese Bühne mit der Bitte, er möge uns den Satz 2+2=4 nicht einmal, sondern viele Male und mit tiefstem Ernst und innigster Anteilnahme vorsprechen, mit wirklich geäußerter Überzeugung und nicht nur mit dem Hintergedanken, es liege schon in dieser Dauerwiederholung ein Etwas von weiß Gott göttlicher Erhebung.

Wir erlauben ihm weiters, zu weiteren Ursätzen und Selbstwiederholungen der algebraischen Taferlklasse überzugehen, nach Möglichkeit aber kaum merklich, um die infinitesimalen Grenzwerte zwischen den Ursätzen des Kleinen Einmaleins zu unendlichen Feinstufungssteigerungen aufzusteigern; kurz: wir gestehen ihm vertrauensvoll den Rang eines mathematischen Komponisten einer neuen Mathematik zu, einfach nur um das neue Einfache nun einmal wirklich unendlich mal einfach auszukosten.

Wir müssen nicht Psychologie studiert haben, um prophezeien zu können, was geschehen wird, wenn auf diese Weise das Rad neu erfunden wird; denn abgesehen von jenen unheilbaren Kulturbanausen, die nicht einmal an einem Fußballspiel wie an einer ernstzunehmenden Sache anteilnehmungsfähig sind, werden alle geistbegabten und mathematikunbegabten Menschen nach und nach in eine beseligende minimalistische Euphorie geraten, weil sie endlich und erstmals einem Mathematik-Unterricht beiwohnen, von dem sie immer schon geträumt haben.

Wie von Zauberhand verfliegen alle Ängste, wischen alle Tränen sich ab, weichen von uns alle schweißgebadeten Träume, die uns oft durch Jahre immer wieder an die entsetzlichen Schulmarterpfähle zurückführten, an die gefesselt wir dem gnadenlosen Geschoßhagel von stets wieder unbewältigbaren Schularbeiten und Wiederholungsprüfungen standhalten mußten. Alle mathematischen Lebenskatastrophen verwandeln sich in Traumtänze und therapieren sich selbst.

Nun können wir aufs Ganze gehen und einen cinemascopfähigen Chor von Schauspielern beauftragen, das dringende Bedürfnis eines mathematikversehrten Publikums nach ausgefeilten und durchgeformelten Zahlen-Partituren mit allen nur möglichen Ursätzen der zahlenmystischen Provinz, pardon, Provenienz, vollkommen zu stillen; – denn auch Schauspieler sind nur selten mathematikliebende Menschen, auch sie zählen überoft zu den minimalistisch Versehrten der Zahlenwelt. Auch unser neumathematisch komponierender Mathematik-Schauspieler wird uns daher nicht enttäuschen bei der entscheidenden Gestaltung des ekstatischen Höhepunktes der minimalistisch zu versorgenden Kundschaft: denn wie von selbst muß auf dem metaminimalistischen Gipfel aller minimalistischen Gipfel die durch die Sache selbst geforderte Melodie der Zahl selbst erscheinen – so rein und so edel, so himmlisch und so überwältigend, daß uns nun wirklich die Spuke unversorgt hinterläßt.

Nicht von einem mathematischen Puccini, pardon, nicht von einem puccinihaften Mathematiker darf diese Melodie ersonnen sein; nein, sie muß das Mysterium der Zahl selbst über den Repetitions-Teppich der Kleine-Einmaleins-Figuren legen, auf daß wie Engelworte die einfachen und unschuldigen Zahlen selbst magischerweise mysterisch erklingen – die Eins mal Oft, die Zwei mal Öfter, die Drei mal Nochöfter, auf daß erkennbar werde, worauf und gen was die ganze Operation zielt: die Zahl selbst mit dem Undsofort-Unendlichen zu vermalen, um noch die letzten Reste von mathematischer Verständlichkeit und Nichtverständlichkeit in eine Überverständlichkeit wegzuoperieren, die uns befähigt, an unseren Phantomschmerzen, pardon, an unseren Phantomfreuden das Glück eines sinnigen Unsinns und eines unsinnigen Sinnes zu genießen, der uns anscheinend direkt in den scheinenden Paradieshimmel einer mathematischen Musik der Mathematik verschweben macht. Wer schafft das schon, und wer schafft das an: eine Nullmathematik mit wirklichen Zahlen zu schaffen?

Dennoch: mathematikhassende und musikliebende Menschen, die wir nun einmal und gemeinhin sind: was soll uns eine minimalistische Musik der Mathematik? Wir suchen doch eine wirkliche, Musik nämlich, eine fürs Leben und eine für die Kunst, eine aus Fleisch und Blut, denn auf den Zahlenknochen soll auch was drauf sein; also eine fleischliche Musik, und mag sie auch eine minimalistische sein, so soll auch sie eine zu bespielende und zu verspeisende sein, also die eine wirkliche, die mit den wirklichen Tönhöhen, die mit den wirklichen Rhythmen, die mit den wirklichen Melodien auf wirklichen Instrumenten und mit wirklichen Stimmen, die also mit dem ganzen Plunder, pardon Zauber, operiert, um uns zu entführen – zu welcher Hintertür auch immer und immerwieder und immerbieder immerbiederer. Denn eine Musik nur mit und nach Zahlen und Zahlensätzen, das ist doch höchstens eine vegetarische Musik, pardon, Mathematik, pardon, Musik, pardon Mathematik, pardon, pardon, pardon…