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087 Überverständlichkeit, zum Zweiten

Oktober 2002

Alle Arten des Films, der Dokumentarfilm voran, bedienen sich mittlerweile auf dem Markt der Ware Minimalmusik – und niemand findet etwas dabei. Wie es auch sein soll: denn nicht die Musik soll am Film befunden und näher bemerkt werden, sie soll lediglich jene ornamentierenden Klangbänder bereitstellen, die das Bild des Films, seinen Gang und Flug, seine fließende oder springende Fortbewegung im Auge des Betrachters mit musikalischer Tapete zu bekleistern haben. Und die bereits sonderbare Frage: warum eigentlich?, scheint längst ebenso sinnvoll beantwortet: weil sonst tödlich erschreckende Langeweile sich aufbäumte; wie zugleich ebenso sinnvoll tabuisiert: weil sonst gefragt werden könnte und dürfte, warum eigentlich Langeweile aufkommt, wenn wir diese Welt in ihrer filmischen Erscheinung betrachten? Wird doch diese Welt und ihre Abbildnerei nicht etwas tödlich Banales geworden sein, ein Abschaum geistloser Platitüden, in den man uns per Geburt ungefragt und unverschämt hineingeworfen hat?

Erscheint nun aber Minimalmusik auf der Bühne des Konzertsaals oder gar unserer Opernhäuser, dann wie in einem Labor, in dem scheinbar die Musik, in Wahrheit aber die musikalische Intelligenz derer getestet wird, die sich diesem Test musizierend und hörend aussetzen. Und der Komponist minimalistischer Musikwerke prüft mit deren musikalischen Inhalten und Verfahren wie ein Wissenschaftler sein versammeltes Testpersonal: was geht in diesem eigentlich vor, wenn es einer minimalistischen Prozedur unterworfen wird, also einer systematisch durchgeführten Unterforderung seines musikalischen Intelligenzquotienten und ebenso seines psychischen Musikhaushaltes?

Wie bei fast jedem Test erfolgt auch bei diesem eine Selektion und bei näherer Auswertung der Testergebnisse eine Polarisierung unter den Testpersonen. Denn während die einen ihre erklingende Seele durch das ihr wohltuende Tingeltangel wiederholter Melodiefloskeln euphorisiert und erhoben fühlen, verfällt die Seele der anderen einer Verzweiflung aus Langeweile, die sie drängt, den Ort der ungeheuerlichen Zumutung auf der Stelle zu verlassen. Sie tun es nicht, weil es sich erstens hochkulturmäßig nicht gehört, und weil man zweitens nicht wissen kann, ob die Experten der aktuellen Musikgeschichte, an unbekanntem Ort tagend, nicht soeben befunden und bewiesen haben, daß die neueste Gestalt Neuer Kunstmusik eben diese minimalistische sein wird. Man will weder stören noch sich blamieren.

Aber Bedürfnisse wird man noch haben dürfen, etwa nach der ehrwürdigen Kaste der Musikkritiker – oder was von ihr in unseren Tagen übriggeblieben ist –; wäre sie nicht anzurufen, und sei es nur am Telefon, um herauszufinden, was hier gespielt wird? Und warum ist es vermessen, in einer Zeit, in der über jedes soziale Wehwehchen und über keine Perversion nicht eine Talk-Show von und für ein Millionenpublikum angeboten wird, eine ebensolche oder vielmehr eine ganz andere und nie gesehene – mit Musikliebhabern, Musikern, Musikpädagogen, Komponisten, Musikwissenschaftlern und Musikkritikern über eine der Lieblingsspeisen der Nation: Musik – abführen zu lassen? Weil man uns in den Medien verdummenderweise immer nur Gespräche zwischen dem einäugigen Weltstar der und dem blinden Journalisten von Musik anbietet?

Oder sollten wir die Experten unserer technoiden Dance- und HipHop-Szenen anrufen, weil in dieser neuen Basis-Musik-Kultur die minimalistische Musik-Tortur überaus erfolgreich jede Musik, die einst diesen Namen verdiente, besiegt hat? Eine bekanntlich expertise Kultur für musikalisches Fun und Ekstase, die uns vielleicht nicht nur darüber aufklären könnte, wie man es anstellt, den musikalischen in einen hedonistischen Intelligenzquotienten zu mutieren, sondern auch darüber, wie man den musikalischen Geschmack unserer Jungfellachen aus jenem Blechnapf fressen macht, in den er sich verwandeln soll.

Unterdessen steuert auf der Bühne Kunstmusik das minimalistische Zusammenspiel einer unvergeßlich-beeindruckenden Beglückseligung der einen und einer ebenso unvergeßlich-bedrückenden Verlangweiligung der anderen seinen ultimativen und alle wieder vergemeinsamenden Höhepunkt an: das erlösende Aus, denn am Ende pressiert uns bekanntlich das allzugroße Glück gerade ebenso herzreißend wie das allzugroße Unglück.

Die Unglücklichen hörten nichts als tote Ohrwürmer; die selbstverstehbaren Stützfiguren der traditionellen Musik, sie erblickten nur ausgediente Pferde und Esel: abgelebte Alberti-Bässe, Czernypassagen und geschwätzige Plaudertaschen des Begleitstimmenpersonals der vormodernen Musik – das ganze Arsenal des traditionellen Vokabulars als fragmentierte Nostalgie entgeisteter Tonalität bis hinunter in die Taferlklasse der Solfeggio-Glossolalie; und selbst delikate Mondscheinscheinfloskeln konnten den Unglücklichen nicht als bekömmliche Speise zugeführt werden. Mit jeder Wiederholung fühlten sie sich mehr und tiefer verschaukelt, aber das Verschaukeln hatte für sie nicht den kindlich-positiven, sondern den erwachsen-negativen Sinn, Wut und Zorn ihrer Seele über die Zumutung eines Tests zu entäußern, der in ihrer Seele vielleicht nur die Stärke des Geduldfadens prüfen wollte. Folglich ein krasser wissenschaftlicher Vorfall, ein bedauerlicher, fast wie bei jener berüchtigten Operation, die zwar geglückt, den Patienten aber tot hinterließ – es kommt immer wieder einmal vor, daß sich gewisse Leute für gewisse Tests als ungeeignet erweisen.

Die Glücklichen hingegen hörten ganz anders und folglich eine ganz andere Musik; sie hatten bald herausbefunden, daß es einzig und allein darauf ankomme, eine andere Musik durch eine andere Einstellung zur Musik zu erhören – as my home is my castle, my hearing is my music; Test bestanden und Erfolg erfolgt. Mit jeder minimalistischen Wiederholung und Wiederholungswendung erfuhren sie sich als kreative Konstrukteure einer neuen großen Kunstmusik; und was könnte kreativer sein als der magische Moment, der uns bemerken macht, daß es nur an der Macht unseres Willens hängt, uns wirklich durchhängen zu lassen und dieses Durchhängen als Aufhänger eines großen Musikerlebnisses einzugewöhnen und anzustaunen? Ebenso platt wie esoterisch lehrt das Programm der Minimalmusik ihre gehörigen Schüler, sich hemmungslos nach innen auszuschunkeln. Wieder einmal ist die Differenz von E und U als böse Erfindung böser Geister entlarvt – sogar noch den Gegensatz von Kunstmusik und Musikantenstadel erweist die minimalistisch euphorisierende Neue Kunstmusik vulgo Neue Klassik von einer größeren Musikidee umschlossen und befriedet.

Wer nur glaubt an den Selbstüberredungsglauben einer globalen Idee von Weltmusik, dem kann der Glaube, daß der sogenannte Stil der Minimalmusik eine wahrhaft wahre und schöne Zusammenschmelzung und Synthese aller bisherigen Stile der Musik ermögliche, kein Übel und kein Erbrechen verursachen.

Vertreter der Minimalmusik und ahnungslose Musikkritiker entblöden sich nicht, Anton Bruckner als ältesten Ahnherrn der Minimalmusik hinter den Vorhang zu rufen. Zwar bringe eine sinfonische Sequenz Bruckners meist schon nach ihrer vierten Wiederholung eine Abwechslung und Variante ins Angebot; daraus aber folge nur, daß der eingeschworene Bruckner-Hörer auf sein Bruckner-Hören eingeschworen und eingehört, eingeschnappt und eingeschaltet sei. Um zeitgemäß glücklich zu werden, bedarf es folglich wenig für den erfolgreichen Minimalmusikhörer: ein Griff an diesen traditionellen Schalter, einmal aus- und umgeschaltet, und auf der Stelle wird er sich nicht minimalistisch verschaukelt und vergaukelt, sondern erhebend geschaukelt und geschunkelt erleben. Seine Seele, an vielen Stellen modern geschrundet, entsteigt dem sinfonischen Wellness der minimalistisch reinigenden Bäder wie runderneuert und neugeboren.