Categories Menu

005 Automusik und Lebensmusik

April 2000

Was wäre das moderne Leben ohne Autofahren, und was wäre das Autofahren ohne Musik? Für die meisten unserer Zeitgenossen ohne Zweifel eine sterbenslangweilige Fahrt durch die Wüste einer unerträglichen Leere. In einem Leben, in dem ohne Musik gar nichts mehr geht, läßt sich auch nicht mehr ohne Musik übers Land fahren und über die Erde fliegen, und auch nicht mehr arbeiten und lieben, nicht mehr laufen und spazierengehen, und bald vielleicht auch nicht mehr schlafen und sterben.

Was ist los – nicht mit der Musik, die es zur Not und zum Schein überleben mag, als permanenter Begleittaumel exekutiert zu werden; was ist vielmehr los mit einer Menschheit, die sich anschickt, sich als Sklavin einer mechanisch versklavten Musik durchs Leben führen zu lassen?

Über das musikbegleitete Alltagsleben des modernen Menschen hören wir von Soziologen und Psychologen eine Vielzahl interessanter Erklärungen. Ihr gemeinsamer Nenner lautet: Musik diene heute vor allem zur Entlastung; zur Entlastung durch Entspannung, Ablenkung und Unterhaltung. Zur Entlastung wovon? Angeblich von der modernen Lebenswelt selbst – einer durch Rationalität, Spezialisierung und Multimedialität gezeichneten Welt. Entlastung vom enormen Druck einer durch und durch rationalen und entzauberten Welt; denn obwohl auch die Musik ein entzauberter Teil dieser Welt wurde, könnten die von alters ererbten magischen Wirkungskräfte der Musik, auch wenn sich davon im Bewußtsein des modernen Menschen nur mehr Ruinen vorfinden, den geglückten Schein einer Wiederverzauberung des überaus schal gewordenen Lebensgefühls aller hervorbringen.

Wird der moderne Mensch daher von den Anforderungen unserer wissenschaftlich-technisch dominierten Arbeits- und Lebenswelt wie ein Esel geritten, so dürfe er seinerseits in seiner nicht geringen Freizeit einen Esel von Musik reiten, um mit einer zwar leer durchhängenden, dafür umso besser baumelnden Seele sein psychisches Gleichgewicht wiederherzustellen. Demnach müßte unsere musikbegleitete Arbeits- und Alltagswelt das erreichte Paradies auf Erden sein: durch erfüllende Arbeit selbstverwirklicht, durch zugleich entlastende Musik in der besten aller möglichen Launen dieser Welt: eigentlich müßten wir vor Glückseligkeit ständig weinen.

Der Gottseibeiuns unserer Musikradios und -medien, deren Lifestyle-Botschaft Tag und Nacht und weltweit unterhält, macht das Unmögliche möglich; befriedet und beseligt erfahren wir uns auf den Schwingen von musikgenannten Klangwellen durchs Leben gelotst. Wie hieß es doch in Psalm 63: des Gottes Huld ist besser als das Leben…

Verdächtig nur, daß in dieser schönen neuen Welt des ewigen Kling-Klang das Wort Stille ein bekanntes Wort für eine unbekannte Sache wird. Legt sich Dauermusik über die moderne Seele, wächst ihr ein nicht mehr sich lichtender Klangnebel als unverzichtbare und nicht mehr durchhörbare Maske von Stille an – die vermeintlich bergende Musikinsel inmitten einer von Maschinen und Medien lärmdurchtosten Welt. Das dichteste Verkehrsgewühl kann uns nichts anhaben, wenn wir in unseren abgedichteten Auto-Gehäusen auch noch in einer undurchdringlichen Blase von Klängen hocken wie die Fliege in ihrem Bernstein.

Kürzlich fuhr ich mit Bachs B-Dur-Partita durch das abendliche Verkehrsgewühl unserer Stadt. Meine Klaviereinspielung des Werkes brachte mir immer wieder ein einziges Stück daraus zu Gehör, da ich mittels Repeat-Taste meines CD-Players die Gigue von Bachs Partita um eine Dauerdarbietung gebeten hatte. Für den beruflich vorbestraften Musikhörer sind solche und ähnliche Exerzitien nichts Außergewöhnliches; die musikästhetischen Grundfragen lassen sich bisweilen an der konkreten Musikerfahrung am besten erörtern.

Auf der großen Donau-Brücke peile ich die zügige mittlere der drei Fahrspuren an, dennoch gelingt es mir nicht, dem drohenden Rot der Kreuzungsampel am Ende der Brücke zu entschlüpfen. Also kurzer Halt und volle Konzentration auf die Intervallperlen von Bachs Gigue, die sich unermüdlich zu ihrer vollkommenen Kette von Klängen verbinden, um im Hörer ebensoviele Samen für Freuden wie für Fragen auszustreuen. Wieder einmal sehe und höre ich hinab in die in- und auswendig vertrauten Abgründe eines ebenso einfachen wie zugleich nicht in Worte übersetzbaren Gebäudes von Klängen.

Gegen eine sinfonische Dichtung von Richard Strauss ist Bachs Gigue scheinbar eine Bagatelle; in der Hintergrundstrahlung des universalen Begriffes von Musik jedoch ein vollendeter Kristall, der sowohl kraft seiner Form wie auch noch aus anderen, aus Gründen transzendenter Inhalte, eine Freude und Reinheit birgt, die man nur entschlüsseln könnte, wenn man zu sagen wüßte, worüber diese Musik sich freut und wovon ihre Reinheit rein ist. Das Rätsel vollendeter Schönheit hat es jedenfalls in der Musik faustdick hinter den Ohren.

Daß es noch eine Welt diesseits von Bachs Musik gibt, bemerke ich Sekunden später. Neben mir hält auf der linken Fahrspur ein Auto, dem eine Musik entsteigt, deren gestylte Jodler unverkennbar in den populären Tiefen des Volksmusik-Grandprix schürfen. Ein kurzer unauffälliger Blick bestätigt mir, was ich bereits ahnte: zwischen dem Aussehen eines Menschen, der eine bestimmte Musik hört, und der Art von Musik, die von diesem gehört wird, existieren geheime und tiefinnere Verwandtschaften; weshalb die Musik, die jemand im Auto hört, gar nicht aus den Radios oder CD-Playern, sondern aus den hörenden Menschen selbst zu kommen scheint.

Schon will ich mich bei meiner Bachschen Gigue entschuldigen, schließlich kenne ich ihren grazilen und anmutigen Musikgeschmack. Um sie vor den vulgären Tönen des ungebetenen Gastes zu bewahren, lasse ich beide Seitenfenster sachte in die Höhe gleiten. Doch just in diesem Augenblick hält rechts neben mir – verflucht sei jede Straße mit mehr als einer Fahrspur – ein Kabrio, dessen schwarzledernem Interieur eine jener pseudointellektuell aufgeschneuzten Diexieland-Nummern entfliegt, deren Besuch meine Dame von Gigue auch nicht zu schätzen pflegt. Überflüssig zu sagen, daß mir ein kurzer unauffälliger Blick hinüber auf meines Zeitgenossen ehrenwertes Antlitz wiederum bestätigt, was ich schon befürchtet hatte. Allerdings frage ich mich nun unwillkürlich, wie sich wohl das Äußere eines Bachhörers in den Augen von Nichtbachhörern ausnehmen mag. Auch erinnere ich mich plötzlich und unwillig der frivolen Ansicht gewisser meiner Musikfreunde, die unerschütterlich behaupten, es sei im Grunde egal, mit welcher Art von Musik heutzutage jemand glücklich werde. Denn jeder erlebe mit seiner Art von Musik doch nur das Glück von Musik überhaupt, und auch noch die verschiedensten musikalischen Speisen enthielten letztlich nur die eine und austauschbare Nahrung: eine vorübergehende Blähung von Glück, erzeugt aus Schall und Illusion. In der Musik gäbe es nicht Arten und Gattungen, sondern überall nur gute und schlechte Musik.

Es muß die Herrlichkeit der Lautstärke gewesen sein, die meine Musiknachbarn in ihren motorisierten Klanghöhlen daran hinderte, meine Bachexistenz wahrzunehmen oder auch nur die Möglichkeit eines anderen Musikhörens in ihrer Nähe in Erwägung zu ziehen. Gleichmütigen Blickes hielten sie ihr Lenkrad und frönten mit eiskalter Gangstermiene einem öffentlichen Laster. Abgetaucht in eine andere Welt, waren sie unerreichbar geworden, und natürlich verzog auch ich keine Falte eines Mienenspiels, da der Spuk einer Verkehrskreuzung, an der verschiedenste Musiken einer akustischen Kreuzung unterzogen wurden, binnen kurzem ausgestanden sein würde.

Doch zu früh gefreut, ist schlecht gefreut, des Unheils Höhepunkt stand noch bevor. Urplötzlich und doch jedem Autofahrer als mittleres akustisches Erdbeben vertraut, nahte der dumpfe Herzschlag des musikalischen Unsinns in der Herrlichkeit allmächtiger Lautstärke. Das Gemeine an den dröhnenden Bässen der Technomusik liegt auch in ihrer Richtungsinvarianz; man weiß meistens nicht, aus welcher Richtung das Unheil naht, das Musikalisch-Böse ist immer und überall. Im Rückspiegel erblicke ich das erwartete Bild: junger Mann mit unverzichtbarer Sportlerkappe auf vermutlich kahlem und sichtbar kleinem Kopf – die vielsagende Vollendung eines wie verschwindend schmächtigen Körpers. „Schrumpfgermane“ hätte man früher gesagt, und somit bestätigt sich auch diesmal wieder die geheimnisvolle innere Verwandtschaft von Mensch und Musik – schon unser Äußeres steht in einer direkten Proportion zur Größe des Geistes, von dem wir in diesem Leben heimgesucht werden. Wenn uns Plato sehen und hören könnte: unser Uraltphilosoph hatte noch gemeint, bereits verschiedene Tonarten würden gänzlich verschiedene Charaktere von Menschen erzeugen.

Ich gestehe: während mich das Dröhnen der Technobässe in der Bauchgegend massierte, sandte ich unwillkürlich hilfesuchende Blicke zu den Nachbarn an meiner Linken und Rechten. Doch diese, offensichtlich und offen hörbar anderen Musikstämmen angehörend, rührten kein Ohr und keinen Blick – vermutlich die heutige Strategie, um über verschiedene musikalische Geschmäcker nicht streiten zu müssen.

Von Bachs Gigue aber hörte ich nur noch Fragmente und wüste Verfremdungen. In meiner Autohöhle fand eine Klanginstallation statt, eine akustische Kreuzungsperformance, an der ein Komponist neuester Musik seine avantgarde Freude gehabt hätte. Ich aber gestehe abermals, mich ohne Sinn und Ergötzung an den phantastischen Kontrapunkten einer multimusikalischen Musik befunden zu haben.

Endlich hatte die Ampel in ihrer Höhe ein Erbarmen: ihr sattes Grün erlöste meine Gigue und mich aus gemeinsam durchlittener Tortur, und das musikalische Maschinengewehr hinter uns versank nach und nach in seiner Zeitlupe und im Lärm des Verkehrsgewühls. Dieser aber rührte uns nicht mehr an, denn nun tanzte mir Madame Gigue ihr unsterbliches Animato e grazioso schöner als je zuvor.