006 Die Umproduktion der Musik
Mai 2000
Am Beginn des 20. Jahrhunderts verkündeten Künstler und Denker der ästhetischen Moderne eine verlockende Prophezeiung. Die technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerkes werde zur Verankerung der traditionellen und aktuellen Kunst im psychischen Haushalt der Massen mehr beitragen als alle bisherigen Anstrengungen der bürgerlichen Kunst- und Musikkultur, durch pädagogische Institutionen die erlesenen Früchte am Baum der Kunst dem Volke nahe zu bringen. In Massen würden alsbald die Konzertsäle gestürmt, und auch die Scheu vor den Komplexionen einer neuen Musik werde verschwinden, weil ab sofort jeder Musikinteressierte über eine Zurichtung des musikalischen Kunstwerkes verfüge, die ein oftmaliges Hören jedes Musikstückes mühelos ermögliche.
Wir erinnern uns: Schönberg hatte gemeint, würden die Leute, die seine Musik ablehnen, dieselbe nur oft genug hören können, würde ihnen schon aufgehen, welchen Schatz an Kostbarkeiten seine Werke enthielten. Und marxistische Intellektuelle verstiegen sich zur kühnen These, die neuen technischen Mittel würden dem Proletariat endlich die erforderlichen Produktionsmittel für eine echt proletarische Kunst und Musik verschaffen – um im Geist moderner Industrie eine zeitgemäße Kunst für die ästhetische Verherrlichung der realsozialistischen Gesellschaft als Vorwegnahme der klassenlosen aufzubauen.
Nachdem wir heute damit beschäftigt sind, nach der Ära der Schallplatte bereits auch die Ära der CD hinter uns zu lassen, halten wir verwundert inne, blicken um uns und erkennen: der Zug, in dem wir sitzen, fährt wohl ab, aber in eine ganz andere Richtung als unsere ehrwürdigen und illusionsgewaltigen Väter meinten.
Mittlerweile halten wir bei Mini-Disk, Dat-Recorder und MP3: wir treten in die Portale des Internet, und in dessen Reproduktionswerkstätten von Musik beginnt uns zu dämmern, was mit der einst so euphorisch und naiv gepriesenen „technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerkes“ eigentlich gemeint sein könnte. Die Ernüchterung über die Illusionen der ästhetischen Moderne kann grenzenloser nicht sein.
Lobt ein Kritiker heute neue CD-Einspielungen moderner Werke, dann hören wir ihn jubeln über das, was er die Klangqualität der Mitschnitte oder Studioeinspielungen nennt. Der Klang sei transparent, von erstaunlicher Räumlichkeit, knackig und von erhörter Sinnlichkeit; und er freut sich, daß dank der enormen Vereinfachung der Herstellungsprozesse von technisch reproduzierter Musik nun auch kleine Firmen in der Lage sind, Neue Musik auf den Markt zu bringen. Denn um Konzerte kleinerer Ensembles sendetauglich mitzuschneiden, genüge jetzt bereits ein HI-Fi-Dat-Recorder und zwei gute Kondensator-Mikrophone. Und welcher Hahn kräht heute noch nach der Verdammung des digitalen Verfahrens durch die Verfechter des analogen? Hauptsache, eine Marktnische läßt sich kostengünstig bewässern.
Aber die Komponisten, über deren Werkreproduktionen wir soeben noch euphorische Besprechungen lesen, hören wir anderntags bitterlich darüber klagen, daß die Uraufführungen ihrer neuen Werke unvergleichlich weniger Aufsehen erregen als die x-te Einspielung und Aufführung einer Sinfonie Beethovens durch den Stardirigenten Y. Demnach hätte sich wenig oder gar nichts an der marginalen Lage der modernen Musik in der modernen Gesellschaft geändert? In der Tat: nichts scheint sich verändert zu haben seit den heroischen Tagen von Schönbergs Verein für musikalische Privataufführungen, in dem Neue und Neueste Musik durch oftmalige Wiedergabe einem breiteren Publikum nahegebracht und als neue große Kunstmusik verständlich gemacht werden sollten. Eine skandalöse Diagnose, denn immerhin haben wir demnächst ein ganzes Jahrhundert „musikalische Moderne“ hinter uns – und ebenso ein ganzes Jahrhundert „technische Reproduzierbarkeit des musikalischen Kunstwerkes“.
Daß die genannten Prophezeiungen nicht eintreffen konnten, läßt sich auf Sachgründe zurückführen, die den falschen Propheten offensichtlich verborgen blieben. Begriff und Realität der sogenannten technischen Reproduktion von Musik bergen Abgründe, über die sich nicht euphorisch und unbedacht hinwegturnen läßt. Denn das Medium des sogenannten technischen Reproduzierens verändert die vermeintlich nur reproduzierte Musik fundamental. Statt Wiedergaben und Abbildungen von Musik im Maßstab von 1:1 herzustellen, greifen Material, Methode und auch das soziale Bezugsnetz des technischen Reproduzierens in das Reproduzierte sowohl musikimmanent wie auch in die soziale Wirkungsweise von Musik umproduzierend ein. Darüber geben wir uns bis zum heutigen Tag nicht gerne Rechenschaft, und auch dies aus Gründen, die ein Licht auf den sich radikal verändernden Begriff von Musik in der modernen Gesellschaft werfen.
Der moderne Musikliebhaber verfügt in der Regel – nicht mehr über eine stattliche Anzahl verschiedener Konzert- und Opernabonnements – sondern über einen elektronischen Konzertsaal im eigenen Heim. Er besitzt eine Unzahl von Werken in einer Unzahl von Einspielungen. Über dieses Arsenal verfügt er bequem und virtuos; und dagegen wiegen jene sattsam bekannten Gründe, die für eine vermehrte Anteilnahme an sogenannter lebendiger Musik sprechen, leichter und leichter. Erklären uns doch die Künstler und Vermarkter der Einspielungen selbst, daß der Unterschied von Studio- und Live-Ästhetik dank einer ständig sich verbessernden Technik und dank einer stets stupenderen Professionalität der Musiker im Verschwinden begriffen sei.
Nicht mehr erstaunend lesen und hören wir daher von einer hervorragenden Klangqualität der sogenannten Einspielungen in allen rhetorischen und aufnahmetechnischen Finessen, nicht mehr aber lesen und hören wir noch von einer Besprechung und Interpretation der Musikqualität als solcher. Diese aber war bis vor kurzem noch eine entweder religiöse oder humane oder doch wenigstens rein ästhetische Botschaft der Musik, zu der die unterhaltende als eine untergeordnete hinzukam, ein Strauß von Botschaften, für deren Übermittlung die Qualität des Klanges lediglich als ein Mittel fungierte. Kehren sich nun Zweck und Mittel dank allmächtiger Technologie und perfekter Virtuosität um, dann kehrt sich auch das Wesen von Musik um, und jede Art von Musik gerät in die Gefahr, als unendlich variables Klangdesign produziert, musiziert, reproduziert und konsumiert zu werden.
Daß in den Sparten der Unterhaltungs- und Jazz-Musik ohne Technifizierung des Klanges nichts mehr läuft, ist bekannt; letzter Schrei der Symbiose von Musik und Technik ist der DJ als dämonische Kultfigur einer seit kurzem nicht mehr Techno-, sondern nunmehr elektronische Musik genannten Musik. Daher berührt es uns nicht mehr als Kuriosum, wenn sich eine aktuelle Jazz-Einspielung mit den Worten ankündigt: „Es ist Jazz. Aber es ist auch eindeutig Elektronik. Die Stücke kommen aus der Dose, doch die Instrumente, die man darauf hört, sind echt…“ Sollen wir jetzt lachen oder weinen? Sind wir schon so dumm, wie man uns einredet, oder werden wir demnächst noch dümmer verkauft?
Daß auch in der Sparte des historischen Musizierens auf sogenannten Originalinstrumenten die neueroberte alte Musik unter den unerbittlichen Gesetzen des Musikmarktes der digitalen Spinne ins Netz gehen muß, ist gleichfalls bekannt. Tonträger und elektronische Medien sind als Vermittler der modernen Wirkungsgeschichte Alter Musik nicht ein nochmals verzichtbares Mittel, sondern ein unverzichtbares soziales und musikalisches Medium. Außerdem wandert neben der primären Musikgeschichte längst schon die sekundäre in die Arsenale des elektronischen Konzertsaales unserer Tage: die Einspielungen Goulds, Karajans und sinnigerweise auch Celibidaches stehen einträchtig beisammen in den Regalen unseres nichtendenwollenden Musikarchives. Und auch hier ein letzter Schrei im Angebot: Das Recycling von historischen Aufnahmen, die Patina und Kratzer angelegt haben und daher einer Rundumerneuerung bedürfen. Kürzlich wurde Carusos schauerlich abgenutzter Archivstimme ein neuer Glanz und eine gänzlich neue Orchesterbegleitung verpaßt. Die elektronische Symbiose von Musik und Technik wird uns noch Wunder und mores lehren.
Kein Wunder aber wäre es, wenn uns plötzlich im Geiste Hamlets die Frage erschiene: könnte ein digitalisierter authentischer Vokal- und Instrumentalklang nicht dasselbe sein wie ein geklonter Bartl beim Holen eines geklonten Mostes?