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007 Beethovens Neunte in Mauthausen

Mai 2000

Hat Beethovens Neunte, als sie kürzlich in Mauthausen, anläßlich des fünfundfünfzigsten Jahrestages der Befreiung des KZs durch amerikanische Truppen gastierte, der Kultur des Holocaust-Gedenkens eine neue Dimension erschlossen, oder hat Beethovens letzte Sinfonie, deren Ode an die Freude mittlerweile zur Europa-Hymne aufstieg, den Geist des europäischen Holocaust-Gedenkens verraten? Oder wurde gar die Tradition einer typisch österreichischen Variante des Holocaust-Gedenkens eröffnet?

Irgendetwas muß faul sein im Lande – sowohl der Kunst wie der Realität – wenn über die Problematik eines Klassik-Events an der Stätte des unvorstellbaren Grauens kaum öffentlich und schon gar nicht grundsätzlich diskutiert wird.

Wenn die genannten Fragen von der weltbewegenden übertüncht werden, ob denn die Wiener Philharmoniker diesmal so gütig sein könnten, auf jeglichen Silberling für ihr erhabenes Tun zu verzichten. Wenn uns die Veranstalter treuherzig versichern, es wären nicht so viele Leute gekommen, hätte man nicht ein so großes und bekanntes Werk aufgebracht; wenn uns die Teilnehmer glaubhaft erzählen, noch nie hätte sie Beethovens Neunte so ergriffen wie diesmal; wenn uns der Musikkritiker mitteilt, die „Aufführung tat ihre Wirkung“, denn „welch ‚große’ Musik immer man dort spielt – wenn der Himmel immer dunkler wird und die Felswand immer stärker angestrahlt wird, dann ergibt das an diesem geschichtsträchtigen Ort des Gedenkens einfach Betroffenheit.“ Und wenn uns schließlich derselbe Musikkritiker mit noch vernehmbarer Ergriffenheit zwischen den Zeilen berichtet, es habe keinen Applaus nach dem Verklingen von Beethovens Neunter gegeben, statt dessen hielten 5000 Menschen „brennende Kerzen in den Händen – für 105.000 Ermordete“. Und in dieser erleuchteten Stille habe er sein unhörbares „Kaddisch“ gesprochen…

Nun sollte man meinen, die Wahrheit der Gesinnung, mit der jemand eines Ereignisses oder Geschehens gedenkt, sei gänzlich unabhängig von der Eigenart der Zeichen und Symbole, die er für sein Gedenken verwendet. Schließlich verfügen wir in der Eventkultur unserer Unterhaltungsimperien über noch ganz andere Mittel und Kulte, ein Gedenken kollektiv zu begehen, als die in Mauthausen organisierte Symbiose von Klassik- und Kerzenlicht-Event.

Und doch wiegt der Fall von Beethovens Neunter wesentlich gravierender. Als ausgewiesenes Kunstwerk der autonomen, einst sogar absolut genannten Musik, wurde sie nämlich schon zu oft bei ihrer Schwäche ertappt, nicht nein sagen zu können, wenn sie – von wem auch immer – zu Anlässen und Gastierungen – für was auch immer – eingeladen wurde. Nicht nur dient sie uns als alljährlicher Ohrenschmaus zu Silvester und Neujahr, sondern immer schon ließ sie sich mit ihrer ästhetischen Botschaft von einer baldigen Menschheitsbefreiung als Fest- und Feier-Musik von den Herren aller Länder in zweifelhafte Dienste nehmen. Sie hatte nichts einzuwenden, als sie von Strauss und Pfitzner zu Ehren des nationalsozialistischen Deutschlands in Bayreuth und Weimar aufgeführt wurde. Und sie widersetzte sich nicht, als Furtwängler die Verehrte noch 1942 bat, Hitler die Ehre zu erweisen zu dessen Übernahme des Oberkommandos an der Ostfront. 1951 spielte sie dann zur Wiedereröffnung Bayreuths auf, 1989 zum Mauerfall von Berlin, 1996 zur Befreiung Sarajevos, und nun also in Mauthausen.

Vereinzelt versuchte man ihr zwar einen lästigen Begleiter anzuhängen – Schönbergs <Überlebenden von Warschau>, aber dieses Tandem ergab keine eventtaugliche Symbiose. Verwunderlich, denn Beethovens Neunte hat inzwischen auch bereits die verschiedenartigsten Engagements als Filmmusik angetreten, und mühelos überwand sie den Schock, in Kubricks <Clockwork Orange> sadistische Orgien begleiten zu müssen. – Unausweichlich daher die grundsätzliche Frage: sind wir beim Musizieren und Hören von Beethovens Neunter noch ernst zu nehmen? Und wie ernst, wenn wir Beethovens Neunte im KZ aufführen, um uns betroffen machen zu lassen? Von welcher Art und Qualität ist diese Betroffenheit, was fühlt und denkt sie, was glaubt und will sie?

Die Antworten der politischen Festredner auf diese Fragen bemühen das bekannte rhetorische Vokabular, das uns wie Kindern von einer gelingenden Bewältigung der Geschichte und einer ebenso gelingenden Gestaltung der Zukunft zu erzählen versucht. Eine Schönrednerei, die unvermeidlich ist, nicht nur um das Festliche auch eines Festes, das dem Gedenken der ungeheuerlichsten Verbrechen gewidmet ist, nicht zu stören, sondern weil der Politiker für alle und somit wie alle zu reden und zu denken bemüht sein muß; widrigenfalls verfiele sein Anspruch auf die Macht, als Repräsentant und politischer Gestalter einer Gemeinschaft vorzutreten. Wie aber stellt er sich nun an, wenn er mit einem jüngstvergangenen und daher noch nicht vergangenen Geschehen unserer eigenen politischen Vorgeschichte konfrontiert wird, in der Politiker das Sagen hatten, deren Handeln zu unfaßbaren Schandtaten führte? Müßte ihn nicht jene ungeheure Sprachlosigkeit, die die universalen Verbrechen des 20. Jahrhunderts verhüllen, überwältigen und in einen Abgrund von Schweigen werfen? Und muß er angesichts dieser unerträglichen Alternative nicht darüber erfreut sein, daß seine Reden, die er als kümmerliche Masken jener Sprachlosigkeit überstülpt, nunmehr von einer klingenden Kunst gestützt werden, die das Schönreden in Vollendung beherrschte?

Der Verdacht erhärtet sich, daß die Beliebigkeit unseres Gebrauches von Musik jeglicher Art mit den inneren Ambivalenzen, die jede Holocaust-Gedenkfeier unausweichlich begleiten, auf das prächtigste harmoniert. Denn im Versuch, das Vergangene unvergeßbar zu stellen und zugleich das Künftige durch den Schwur zu binden: solches geschehe nie wieder, feiern wir natürlich nicht nur ein Gedenken zu Ehren der Opfer und wirklich Betroffenen, sondern zugleich auch ein Gedenken der Gedenkenden selbst. Da wir unseren Schwur nur bei uns selbst, nämlich auf unsere demokratischen Verfassungen schwören, denen die wachsame Macht zugewiesen wird, uns vor der Wiederkehr faschistischer, stalinistischer und anderer Diktaturen zu bewahren, verhalten wir uns zwangsläufig wie Heroen der Geschichte, die sich den Anschein geben, deren Herr sein zu können. Und dieses Heroentum beginnt das Trauertum jedes Holocaust-Gedenkens zu überwuchern, wenn es sich auch noch von einer triumphalen Musik mit moralischem Anspruch bestätigen läßt. Gerade die Gebrauchsgeschichte von Beethovens Neunter müßte uns hellhörig machen.

Adrian Leverkühn hat das „Alle Menschen werden Brüder“ der Neunten ausdrücklich zurückgenommen; und dies nicht nur, weil sich Thomas Mann und Theodor Adorno darüber bekümmerten, daß so viele Nazi-Größen und -Schergen hervorragende Musikkenner waren und ausgezeichnet auch ihren Beethoven musizierten. Der ästhetische Schein als schöner sei für die moderne Kunst und Musik durch den Gang der Geschichte unmöglich geworden.

Und daran ist wohl kein Zweifel möglich: die große schöne Kunst und Musik der Vergangenheit hat den Völkern und ihren Führern nicht zu jener Intelligenz verholfen, die sie befähigt hätte, zwischen 1825 und 1914 und gar bis 1933 unter der Führung ästhetischer Kunstprinzipien die Prinzipien einer gänzlich neuen, weil nun wirklich völkerverbindenden und nationenüberwindenden Politik zu finden.

Schillers Freudetext zu Beethovens Hymne am Ende der Neunten ist von kühner politischer Unbedarftheit, und dies nicht erst für uns, sondern schon seit ihrem Erscheinen. Kein anderer Text aber könnte vollendeter mit Beethovens musikalischer Idee eines säkularen Chorals für eine künftig verbrüderte Menschheit harmonieren. Daß aber diese Symbiose nicht zu jenem neuen Denken führte, das uns rechtzeitig klug und vernünftig und zu neuen Menschen gemacht hätte, ist nicht ihre, sondern unsere Schuld. Weder unser Trauertum noch unser Heroentum läßt sich daher nochmals durch Kunst begründen und verklären. Und im Versuch, das absolut Böse durch das absolut Gute und Schöne der bürgerlichen Kunstmusik sühnen zu wollen, erscheint nicht die unschuldige, weil begrenzte Unbedarftheit von Beethovens Neunter, sondern nur unsere eigene Unbedarftheit; die aber scheint grenzenlos zu sein.